Friedrich Christian Delius, FCD

Dankrede Walter-Hasenclever-Preis

Ausgerechnet am 11. September
Dankrede Walter-Hasenclever-Preis, Aachen, 11. 9. 2004

Ausgerechnet am 11. September, so wurde ich in den letzten Wochen oft gefragt, ausgerechnet am 11. September wollen sie dir den Großen Preis von Aachen verleihen? Ja, ich weiß, der Große Preis von Aachen wird an Reiter und ihre Pferde vergeben, aber so völlig verschieden sind Reiter mit ihren Pferden und Autoren mit ihren Büchern auch nicht, wenn man weniger an die Springreiter denkt, bei denen es um Fehler und Zehntelsekunden geht, und mehr an die Dressurreiter, die vor den etwas subjektiveren Augen einer Jury bestehen müssen ähnlich wie die Autoren mit ihren Büchern, obwohl ich, und irgendwann hört jeder Vergleich auf, nicht einmal wusste, dass ich hier in Aachen am Start war. Gerade deshalb ist dieser stattliche, angesehene Walter-Hasenclever-Preis für meine Sparte und erst recht für mich der Große Preis von Aachen – aber ausgerechnet am 11. September wird dieser Preis verliehen?
Ja, warum denn nicht? Sollen wir den Tag etwa in andächtiger oder angststarrer Trauer über die Schrecken der Welt verbringen oder mit Gedenkstunden, Gedenkreden, Gedenkfloskeln die Ereignisse des 11. 9. 2001 in die Ferne eines Rituals rücken? Und aufhören, „Selbstdenker“ zu sein, wie Schiller sagen würde? Statt zu feiern und zu würdigen, was langfristig am besten hilft gegen Terror und ebenso gegen die raffinierten Nutznießer des Terrorismus, nämlich: Dialog, Respekt, Wahrnehmungsfähigkeit, Zivilität? Und fleißig zu werben für die stärksten und nachhaltigsten Gegenmittel: Bildung, Sprache, Kultur, Kunst, Literatur?
Gerade wer mit Bildung, Sprache, Kultur, Kunst, Literatur zu tun hat, braucht sich an einem 11. September nicht zu verstecken, im Gegenteil. Wer verhindern will, dass das Gesicht dieses noch so jungen Jahrhunderts von weiteren Brandmalen des Terrors entstellt wird, wer nicht stimmlos die zunehmende Verfeindung, Verachtung und Abgrenzung hinnehmen will, sollte, wenn der Opfer gedacht ist, die Täter gesucht werden und die Polizei weiß, was sie zu tun hat, besonders laut und offensiv reden. Nicht abstrakt gegen den Terror, sondern möglichst subjektiv. Denn wir alle sind von diesem Tag geschädigt und verletzt. Damit meine ich nicht oder nicht allein den materiellen Schaden, den fast alle Branchen, auch die Buchbranche und Autoren und Künstler zu tragen haben, auch nicht das Künstlerpech, das ich z.B. damit hatte, dass der Erscheinungstag meines Romans „Der Königsmacher“ ausgerechnet der 11. September 2001 war. Nein, geschädigt und verletzt sind wir, weil das Gefühl nicht mehr zu verdrängen ist, dass wir am Anfang eines neuen Weltdramas stehen mit noch gar nicht abschätzbaren Folgen, auf jeden Fall negativen Folgen. Der Rückstoß der Attentate verschiebt die Ströme der Aufmerksamkeit, der Sensibilitäten und medialen Interessen.
Schon zehn Jahre vor dem September 01 schrieb Don DeLillo in einem Roman: „Was die Terroristen gewinnen, verlieren die Schriftsteller. Was sie an Einfluss auf das Bewusstsein der Massen hinzugewinnen, verlieren wir als Gestalter von Sensibilität und Gedanken. Die Gefahr, die sie darstellen, entspricht unserem Versagen, gefährlich zu sein. Und je deutlicher wir den Terror sehen, desto weniger Eindruck macht die Kunst auf uns.“
Genau darum sollen an Tagen wie heute Kunst, Gedanken, Sensibilität und widerständiger Witz mit aller Leidenschaft in den Vordergrund gerückt werden. Alles modische Geschwätz kann nicht darüber hingwegtäuschen, dass die Kunst immer noch der beste Seismograph der Erschütterungen der Gesellschaften ist. Die Wunden, das sag ich als einer, der sich in drei Romanen, also in etwa acht Arbeitsjahren, auf den etwas leichter greifbaren deutschen Terrorismus der siebziger Jahre eingelassen hat, die Wunden des Terrors sind vor allem innere Wunden und Brüche und Metastasen, von außen nicht so leicht oder nur mit den Röntgenstrahlen und dem Ultraschall einer sensiblen Sprache unter der Ebene der politischen Normsprache wahrzunehmen und zu diagnostizieren.
Seit langem beschäftigt mich, wie Geschichte und Politik in unser Leben hineinregieren. Mein Thema ist nicht die Politik oder die Geschichte, sondern: Wie das Subjekt, der Einzelne darauf reagiert, wie Politik und Geschichte unser privatesten Regungen beeinflussen.
Was macht Ulbricht mit der Mauer in Berlin aus mir, fragte sich der Achtzehnjährige, was habe ich mit freigesprochenen Nazirichtern zu tun, fragt sich der Sechzigjährige. Wie verändert der Terrorismus der RAF und die Entführung von Schleyer die Gesellschaft, wie wirkt ein überraschendes Fußballergebnis in der Ferne in Bern auf die intimsten Gefühle eines Elfjährigen, wie erleben Ribbecker Bauern den Fall aller Mauern und Grenzen, wie tief sitzt der Hitler in uns, wie kann ein einzelner DDR-Bürger mit seiner Reise nach Syrakus die DDR unterwandern – um auf all diese und noch viel mehr Fragen ein paar Antworten zu finden, mussten viel Phantasie, Recherche und Sprachlust in Romane und Erzählungen investiert werden, Bücher, die heute den Nebeneffekt haben, als literarische Kommentare zur Geschichte der Bundesrepublik gelesen werden zu können.
Angesichts dessen, was vor drei Jahren geschehen ist, scheint es jedoch nur hilflose Reaktionen zu geben. Denn schwer zu verdrängen ist die Ahnung, dass unser schöner zwölfjähriger Friede verspielt ist, der vom 9.11. (89) bis zum 11.9. (01) währte. Mit dem Fall der Mauer war die Nachkriegszeit beendet, mit dem 11. September scheint die Epoche neuer Kriege und Halbkriege zu beginnen. Der Fundamentalismus in den drei großen Religionen nimmt zu, schaukelt sich hoch und begünstigt Terrorismus jeder Art. Dort die Mordbanden, die unter religiösem Vorwand Hass predigen, hier ein Präsident, der sich christlich und „Instrument Gottes“ nennt, den keine Weisheit der Demokratie und keine Diplomatie daran hindert, seine wie unsere Gegner auf neue Schlachtfelder einzuladen und somit, ich zitiere seinen Ex- Sicherheitsberater Richard Clarke, zum aktiven Förderer des Terrorismus zu werden. Ergebnis: Alle in der Falle, auch wir. Ob die gegenwärtig entzündeten Halbkriege nun dreißigjährige oder kürzere Kriege werden oder sich in Armutskriege verwandeln, wer will da spekulieren. Der christliche Fundamentalismus lässt sich immerhin abwählen, der muslimische nicht. Aber für die Kosten und Verluste an Blut, Zivilität, Demokratie, Wohlstand, Vielfalt der Meinungen zahlen wir alle, schon jetzt und auf lange Zeit.
Das spürt man besonders da, wo die Folgen des 11. September präsent sind wie sonst nirgends, in den USA. Im Frühjahr bin ich zwei Monate dort gewesen, mitten in der Mitte, am Mississippi, oft erschrocken, wie sehr das Land seine besten Werte verrät und immer mehr auseinanderfällt zwischen finsterem Chauvinismus und einer überraschenden, demokratischen Frische (von der wir in unserer an Überregulierung, Übervorsicht und Flachrhetorik erschlafften Demokratie noch viel lernen könnten). Ich gebe zu, es hat mir gut getan, die eigene Kritik an Präsident Bush in Kommentaren der „New York Times“ formuliert zu finden, und die Sätze, die seit dem Frühjahr 2003, vor dem Irak-Krieg, im eignen Tagebuch stehen, ein Jahr später von amerikanischen Senatoren, Sicherheitsberatern und Journalisten ausgesprochen zu hören. In New Orleans, das man sich heute als eine Art Ballermann der USA mit schönerer Kulisse vorzustellen hat, wo die Leute in möglichst kurzer Zeit möglichst viel saufen und mal richtig die Sau rauslassen, was auch in einem prüden Land irgendwo sein muss, an diesem Brennpunkt der nordamerikanischen Menschheit, die im allgemeinen nicht gerade durch Schönheit oder schöne Kleidung auffällt, musste ich beim großen Defilé der Hässlichkeiten plötzlich an Friedrich Schiller denken und seine „Ästhetische Erziehung des Menschen“. Hängen der Trend zum Analphabetismus und der neue politische Analphabetismus, hängen der ästhetische und der moralische Verfall zusammen, und wenn ja, wie?
Diese Frage beschäftigt mich seitdem, und ich kann sie mit Schiller nur bejahen. Ohne die „Ausbildung des Empfindungsvermögens“, ohne die Kultivierung der Sinne keine Freiheit. Ich will jetzt nicht Schillers Theorie entfalten, sondern nur mit seiner Autorität das Selbstverständliche unterstreichen, das inzwischen auch Hirnforschung und Bildungsforschung belegen: Ohne musische Fähigkeiten gibt es keine gesellschaftlichen Fähigkeiten, ohne Emotionalität keine Vernunft, ohne ein Sensorium für die Künste gibt es kein Sensorium für Demokratie, ohne die Literatur, beispielsweise, versinken wir in Barbarei. Barbarei sage ich mit Absicht. Seit sich der deutsche Horizont aufs Sparen reduziert hat (das gar kein Sparen im Sinne des Worts ist, sondern bloß Streichen und Kürzen) wegen der politischen und wirtschaftlichen Milchmädchenrechnungen der siebziger, achtziger, neunziger Jahre und wegen des 11. September, herrscht eine neobabylonische Sprach- und Begriffsverwirrung, hoch gefährlich für die demokratische Substanz. Wenn etwa der Ministerpräsident dieses Landes mit seinem hessischen Kollegen von der andern Partei und dem Bundesaußenminister von der dritten Partei die Auswärtige Kulturpolitik als Subvention betrachtet wie die Zulage beim Eigenheimbau, dann ist das barbarisch, wie die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt: „Sollte sich der Kulturbegriff der Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück durchsetzen, stünde Deutschland vor einer völlig neuen und konsequent barbarischen Definition von Kultur: Wissen, Bildung und alles, was sich an Klugheit und Schönheit noch in der Welt befindet, hätte fortan als Vergünstigung zu gelten.“
Kulturpolitik, die auswärtige wie die inwärtige, ist Investition, für die deutsche Wirtschaft sowieso, für die Stabilisierung und Globalisierung der Demokratie, für Dialog, Neugier und Zivilität erst recht. Gerade wir Deutschen haben das Privileg, ja die Verpflichtung, mit unserer Kultur und Kunst zu zeigen, wie und warum aus einem durch und durch terroristischen Staat in nur einer Generation eine recht respektable Demokratie geworden ist. Und für alle Kosten-Nutzen-Denker sage ich: Wer die Kultur- und Bildungspolitik nicht als Investition gegen ideologische Verblendung und damit als langfristiges und überdies preiswertes Antiterrorismusprogramm betrachtet, der hat aus dem 11. September nichts gelernt. Und der kriegt zur Strafe mein Lieblingszitat von Goethe an den Kopf geworfen: „Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt, ist ein Barbar, er sei auch wer er sei“ – das lässt Goethe nicht den Dichter, nicht Tasso sagen, sondern den Politiker. Und wenn Sie das für übertrieben oder Goethe für einen Spinner halten, dann berufe ich mich gerade an einem Tag wie diesem auf Daniel Barenboim, der sagte: Wer die Kunst und die Bildung, also den Dialog nicht fördert, der fördert den Egoismus, den Vandalismus, den Terrorismus. Lassen Sie mich, hier in Aachen, dem alten europäischen Zentrum, noch ein Wort sagen über die Europäische Union. Nein, nicht die, die wir kennen, bekritteln und schätzen. Sondern eine ganz unbekannte, die im Sommer 1943 im Zimmer eines Berliner Architekten gegründet wurde. Der Oberarzt Georg Groscurth, der Chemiker Robert Havemann, der Dentist Paul Rentsch und der Architekt Herbert Richter horchten hohe Nazis aus (Groscurth war Leibarzt von Heß), versteckten und halfen Juden, entwarfen Flugblätter. Ihre besondere Leistung: sie arbeiteten mit Franzosen, Russen und Tschechen zusammen und sie wussten, dass die Deutschen nach dem Krieg es nicht allein schaffen werden. Deshalb nannten sie ihre Gruppe Europäische Union, abgekürzt E.U. Sie wurden verraten und zum Tod verurteilt, mit ihnen fast zwanzig Menschen aus ihrem Umkreis, nur Robert Havemann konnte mit Glück überleben. Diese vier Männer, besonders der Arzt Dr. Groscurth, stehen im Zentrum meines neuen Romans „Mein Jahr als Mörder“, in dem auch erzählt wird, warum die Taten und der Idealismus dieser Gruppe nach dem Krieg kaum bekannt wurden, in Berlin wenig und in Brüssel schon gar nicht. Mehr darüber können Sie morgen Vormittag erfahren, wenn ich Auszüge aus diesem Roman lese.
Die Mitglieder der Europäischen Union haben den Widerstand gegen den Terror ihrer Zeit mit dem Leben bezahlt, ebenso wie Millionen andere – und wie Walter Hasenclever, der sich selbst umbrachte, um nicht von den Naziterroristen umgebracht zu werden. Der mit seinen Dramen den Krieg und die Kriegslust, die Barbaren und falschen Autoritäten, die Opportunisten und Schwindler mit aller Kraft seiner Worte kritisiert, ja attackiert hat, und der gewusst hat, was Zensur ist. Also ist mein Dank für diesen Preis, mein Dank an die Damen und Herren der Jury, mein Dank an die Walter-Hasenclever-Gesellschaft, mein Dank an die Stadt Aachen und mein Dank an die Laudatorin Katja Lange-Müller auch ein Dank dafür, dass ich hier und heute, gut sechzig Jahre später, frei sprechen darf – wie Walter Hasenclever nicht, wie Georg Groscurth und seine Freunde nicht und wie viele Schriftsteller in so vielen Ländern auch heute nicht. Und sogar über den Terror reden und die Barbaren hier wie da, und das ausgerechnet am 11. September.

(Wochenzeitung Freitag, 17. September 2004)

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