Friedrich Christian Delius, FCD

Berlusconis Vereinfachungwut

Berlusconis Vereinfachungswut

„Es ist die Wut zur Vereinfachung“, sagte ein Freund, als wir wenige Tage vor den italienischen Wahlen das Phänomen Berlusconi zu erklären versuchten. „Jahrzehntelang hatten die Leute hier ihre verwickelte Politik mit vielen Parteien und ständig wechselnden Koalitionen, jetzt wollen sie den starken Mann mit den einfachen Lösungen.“
Der Tag hätte schöner nicht sein können, ein sonniger Maienmorgen, und der Ort, an dem wir saßen, nicht prächtiger: auf einer Terrasse über den Dächern von Rom. Es räsoniert sich leicht, wenn der Blick weithin über Hügel und Kuppeln, über Bäume und Dachlandschaften schweifen darf. Eigentlich möchte man hier nicht über Politik reden, jedes läppische Thema vermeiden. Wie viel schöner, leichter und ergiebiger sind Gespräche über Kunst und Künstler, Liebe, Essen, Fußball, Geld und Goethe und natürlich über die unentdeckten Winkel und Geheimnisse dieser Stadt. Man möchte durchatmen, dem gewohnten deutschen Gezänk entfliehen, sich von den politischen Niederungen Italiens fernhalten. Und dann tritt so ein falscher Prophet umjubelt auf den Plan und zwingt wieder zu Deutungen, Thesen, Debatten.
Über unseren Köpfen brummte ein Flugzeug, das ein wehendes Werbeband mit dem Namen und der Partei jenes Mannes hinter sich herzog – selbst auf den Terrassen gab es kein Entkommen vor der medialen Allmacht des neuen Herrschers, der sich anschickte, in Rom die Macht zu ergreifen.
P., ein Sachverständiger der Politischen Ökonomie und Journalist, lieferte in der Maiensonne die erste Erklärung, die mir sofort einleuchtete: Vereinfachungswut. Schon jeder kleine Politiker muss die Kunst der Vereinfachung (und der Wiederholung der immer gleichen Sätze) beherrschen, jeder Ideologe sowieso. Niemand kann sich zum Machthaber großen Stils aufschwingen, der nicht mit einem stark vereinfachten Weltbild antritt. Fließend sind die Grenzen zwischen Politik und Demagogie. Wer die Tricks und Finten der Vereinfachung am besten beherrscht, darf von der Karriere als Diktator träumen.
Auf der anderen Seite, beim Publikum, den Wählern, ist nichts begreiflicher als der Wunsch nach Vereinfachung. Der wird, überlegten wir, gewiss nicht allein vom Ärger über die da oben und vom Überdruss an Terrorismus, Korruption und Bürokratie gespeist. Das allgemeine Gefühl der Unsicherheit, die Erfahrung der ökonomischen Instabilität, das Verschwinden der gewohnten Bindungen und Werte, all das verschafft dem Vereinfacher fruchtbaren Boden. Immer unübersichtlicher, hässlicher und hektischer erscheint die Welt, von immer komplizierteren Interessen beherrscht, wer vermag da der Verlockung einfacher Botschaften zu widerstehen? Wenn Hoffnungen und Utopien verblasst, die Alternativen verwischt sind und nach dem Traum von Gerechtigkeit für alle nur noch der Traum von der herrlichen Ungerechtigkeit des Geldes und der Utopie des Börsengewinns Konjunktur haben, was wundert uns dann der Erfolg eines Marktschreiers? Tönt nicht aus allen Ecken das Echo seiner Sätze: „Der Markt macht frei, der Staat unfrei, Kritik ist Verrat, Gemeinsinn Quatsch?“
Das Gespräch entfernte sich von den Hintergründen und Feinheiten der italienischen Innenpolitik. Ob der Boss der Medien, der Wirtschaft und der Korruption eher mit Cäsar oder Napoleon, mit Mussolini oder dem Papst zu vergleichen wäre, diesen Wettbewerb der Deutungen konnten wir klügeren Kommentatoren überlassen. Unser Stichwort blieb die Vereinfachungswut.
Die Sonne stieg, und wir sprachen sie nicht aus, die leise Absurdität, ausgerechnet an diesem Ort der vielschichtigen Geschichte über die allgemeine Tendenz zur Versimpelung nachzudenken. Hier, wo seit Jahrtausenden Weltpolitik gemacht wurde, wo jede mögliche Regierungsform einmal ihre große, mehr oder wenige dauerhafte Epoche gehabt und Spuren ihres Glanzes und ihres Terrors hinterlassen hatte, ausgerechnet in diesem von tausend Widersprüchen gezeichneten Rom stand etwas historisch Neues auf dem Programm. Eine Mischung aus der allerältesten und der allerneuesten Herrschaftsform: die „sanfte Diktatur“ eines Managers.
Das lärmende Werbeflugzeug drehte seine Runden über unseren Köpfen. Bis jetzt war der Mann, dessen Name da durch die Luft flatterte, nur ein Bewerber, ein Kandidat, aber es war schon eine Illusion, auf seine Niederlage zu hoffen. Unten in den Straßen drängelten die Touristen von einer Attraktion zur nächsten, die Römer schienen den bevorstehenden Änderungen unbekümmert entgegenzusehen. Die meisten Journalisten, auch die kritischen, hielten sich bedeckt (der wurden, wie man hörte, von ihren Chefs nicht mehr mit Kommentaren beauftragt). Selbst einem Umberto Eco blieb nur die Zuflucht zu einem moralischen Appell.
Eine verdächtige, servile Ruhe über der Stadt. Eigentlich, dachte ich, müsste Rom, müssten die Steine von Rom ihn auslachen, den Simplex aus Mailand.
Die Sehnsicht nach dem starken Mann, sagte P. ungefähr, nach dem großen Vereinfacher, dem Herkules des Medienzeitalters blüht nur da, wo die Massen entpolitisiert sind. Deshalb, meinte ich, verdient die Geschichte vom unaufhaltsamen Aufstieg des Cäsars B. alle Aufmerksamkeit. Wenn einer sich anschickt, die Vereinfachungswut des Stammtischs mit dem digitalen Ja-Nein-Denken und mit der Input-Output-Vereinfachung der Wirtschaft und dem In-Out-Vereinfachungsrezept der Medien zusammenzurühren, dann werden die Folgen nicht harmlos sein. Wenn noch dazu die Andersdenkenden aggressiv abserviert werden, offen nach Zensur gerufen wird und nur ein einziges Individuum als unfehlbar und alleinseligmachend übrig bleibt: ER selbst, dann liegen die Gefahren auf der Hand. Was wird mit der Gewaltenteilung und den demokratischen Freiheiten? Es wird wieder spannend in Westeuropa.
Über den Dächern von Rom wie überall die Satellitenschüsseln und Antennen, durch die nicht nur der Medienkönig B. seine Botschaften in die Hirne der Zuschauer träufeln lässt. Die Aussichten sind trübe, der Politologe Sartori beschreibt sie so: Die Telekratie entwertet die Institutionen und Regeln der repräsentativen Demokratie, das Fernsehen produziert Bilder und löscht Begriffe aus: „Unsere Fähigkeit zu begreifen verkümmert.“
Es wäre Zeit, dachte ich, ein Lob des Differenzierens zu schreiben. Einmal erklären, wie angenehm es ist, den eigenen Kopf gebrauchen zu dürfen, warum es zum individuellen Glück beiträgt, ein politisches Bewusstsein zu haben. Warum die Abwechslung zwischen Differenzieren und Vereinfachen ein Vergnügen ist und warum beides zusammengehört wie Einatmen und Ausatmen. Vereinfachung allein führt zum Ersticken.
Immer noch drehte das Flugzeug stur und lärmend seine Runden.

(Das Plateau 66, August 2001)

Impressum