Friedrich Christian Delius, FCD

Der Reichtum Europas

Der Reichtum Europas
(Trans Europa Express, Roma Februar 2005)

Im Frühjahr 1988 versammelten sich in Berlin, im Westen Berlins, etwa vierzig Schriftsteller zu einem Kongress „Ein Traum von Europa“. Sie kamen aus Ost und West, Süd und Nord, dazu Susan Sontag aus den USA und Kuma Ndumbe III aus Kamerun. Ich weiß nicht, ob außer mir hier noch andere Veteranen sitzen, die an diesem Kongress teilgenommen haben. György Konrád stiftete uns damals an, die Regierungschefs der Unterzeichner-Staaten des Helsinki-Abkommens mit Fragen zu belästigen wie: „Sind Sie nicht auch der Ansicht, daß die Überwindung der Spaltung Europas auf die Tagesordnung der Politik gehört?“ Konrád und die meisten von uns versuchten, ein Europa ohne Teilung zu denken. Wir ahnten nicht, wie nah wir der Utopie waren. Aber das Nachdenken hat, wie wir heute wissen, geholfen.
Seitdem sind keine 17 Jahre vergangen, und ein Wunder ist geschehen, was freilich nicht allein der Phantasiekraft der Schriftsteller zu danken ist. Europa ist ein neuer Kontinent geworden, fast ohne Grenzen, vital und rau, selbstbewusst und mürrisch, sentimental und bürokratisch, sich ständig neu mischend und widersprechend, jede Region in anderer Balance zwischen lokalen, nationalen und globalen Gewichten. Probleme, Gefahren, Reibungen gibt es genug, aber da Schriftsteller die ohnehin nicht lösen werden, haben wir heute, hier in Rom, hoffentlich Besseres zu tun, als die bekannten Sorgen und Klagen über Europa auszubreiten und zu einer Jammer-Olympiade anzutreten, oder bescheidener, zu einer Europameisterschaft im Lamentieren. Ich möchte jedenfalls darauf verzichten, obwohl gerade den Deutschen in dieser olympischen Disziplin besondere Talente nachgesagt werden, auch den Italienern, ich weiß. Es scheint mir fruchtbarer, die Gedanken von 1988 fortzuspinnen. Denn das neue Europa muss sich noch selbst entdecken und seine Vorzüge zu würdigen und zu stärken lernen.
Wer das für idealistisch oder eurozentristisch hält, dem antworte ich gern mit Zitaten aus dem jüngsten Buch des Amerikaners Jeremy Rifkin, „Der europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht. Durch den absehbaren Niedergang der USA nach der zweiten Bush-Wahl werden Rifkins Thesen von 2004 heute, Monat um Monat, noch aktueller. Er spricht vom Ende des amerikanischen Traums, weil mit dem Prinzip der Konkurrenz, des Egoismus, des Einzelgängers die Probleme der modernen Welt nicht mehr zu lösen seien. Viel größere Chancen habe der europäische Traum: „Der europäische Traum basiert auf Inklusivität, Verschiedenheit, nachhaltiger Entwicklung, sozialen Rechten und universellen Menschenrechten und auf Frieden und Zusammenarbeit zwischen den Menschen. Dies sind die Komponenten einer hohen Lebensqualität, und die Errungenschaften sind beeindruckend. Obwohl die Amerikaner ein um 28 % Prozent höheres Pro-Kopf-Einkommen haben, genießen die Europäer in vieler Hinsicht eine höhere Lebensqualität, ein deutlicher Hinweis darauf, dass Zusammenarbeit auf lange Sicht einer sicherer Weg zum Glück ist als Konkurrenz.“ (Die Zeit, 14.10.04)
Auf Details kann ich jetzt nicht eingehen. Ich möchte nur festhalten dass zu dieser Lebensqualität auch der Garten Eden zählt, in dem Schriftsteller sich bewegen, die Weiten der Kultur und die Tiefen, die Schönheiten der Kunst. Ich spreche also von dem Reichtum, den Europa hat. Und den Europa noch lange nicht genug als Reichtum begriffen hat.
Vom Reichtum reden heißt: Von den Gegenmitteln reden, die wir haben, um der Idiotisierung der Gesellschaft zu widerstehen, von den Mitteln, die wir haben, um das Sensorium, das Wissen, den Gemeinsinn zu entwickeln. Von den Mitteln, die Demokratie zu beleben und die schwer erkämpften Freiheiten zu würdigen, zu sichern und zu nutzen. Nach diesen Mitteln brauchen wir glücklichen Europäer nicht lange zu suchen. In Bibliotheken, Museen, Theatern, ja auch in Konzertsälen, im Internet, in Buchhandlungen, da und dort auch in Kinos, ja selbst in besseren Fernsehprogrammen und einigen Zeitungen wird dieser Reichtum präsentiert, liegt dort angehäuft, der Kronschatz unserer Zivilisation. Er ist nicht schwer zu finden, wir brauchen nur danach zu greifen, Augen, Ohren und Hände aufzumachen, es ist wirklich fast wie im Schlaraffenland.
Es fehlt nur eines, das Bewusstsein von diesem Reichtum. Also das Glücksgefühl, in einem Schlaraffenland zu leben. Wer sich umschaut in der Welt, selbst in den reichen Ländern der Welt, wird kaum einen solchen Reichtum wie in Europa finden, eine solche Vielfalt von Angeboten, Anregungen, Anstößen, gegen den Mainstream zu denken und zu handeln. Dabei geht es gar nicht um statistische Vergleiche zwischen den Nationen, um die Zahl der Bücher oder Bühnen oder Filmmeter oder Opernsitzplätze pro Kopf und Land. Wichtiger ist die Frage, ob wir unser Schlaraffenland wirklich schon entdeckt haben und es zu genießen und weiterzugeben wissen.
Denn es fehlt noch eines, die Verantwortung, diesen Reichtum an die nächsten Generationen weiterzugeben. Mehr und mehr werden die Künste als Zuflucht und Sinnersatz angesehen und gebraucht. Überall fehlt Orientierung, also sucht man sie, wenn nicht in der Religion, dann in der Kunst. „Das Unbehagen an der Welt,“ ich zitiere Thomas E. Schmidt, „der Verfall der Moral, die Verhässlichung der Welt durch die globale Wirtschaft, der Irrsinn der Wissenschaft, die Verblödung der Massen“, all das führt zu moderaten Heilserwartungen an das irdische Reich der Kultur und Kunst. Es hängt mit diesem immateriellen Reichtum zusammen, dass Hunderttausende von jungen Leuten zum Film, zum Schauspiel, zur Musik, zur Videokunst und Malerei und in den Literaturbetrieb drängen. Ob das immer gut und richtig ist, soll offen bleiben, wichtig ist:
Hier wird ein Ausgleich gesucht gegen den Trend zum alles dominierenden Schema des Ja oder Nein, On oder Off, In oder Out. Die Künste haben nicht-lineare und nicht-entfremdete Tätigkeiten zu bieten. Sie stehen im Widerspruch zur Kosten-Nutzen-Moral, und können, wenns gut geht, den größten, weil unberechenbaren und von keinem McKinsey-Kriterium fassbaren privaten wie öffentlichen Nutzen haben. Der Hunger auf diesen Reichtum ist jedenfalls größer als wir meinen. Und doch wird er als schöne Nebensache betrachtet, nicht als die geistige Goldmine unserer Demokratien.
Ich wäre schon ganz zufrieden, wenn die Leute, die diesen Reichtum erahnen, schätzen, nutzen und mehren, also beispielsweise Professoren, Lehrer und andere Schulmeister, Autoren und andere Diener im Weinberg der Sprache nicht immer nur im Klageton darüber sprechen würden. Seltsamerweise treten die meisten, die von den Schätzen des Geistes und der Phantasie profitieren, eher verzagt und defensiv auf. Oder fühlen sich verdächtigt als die letzten Vertreter einer aussterbenden Bildungskultur und wittern überall den Untergang, nur weil alles nicht mehr so toll ist wie früher angeblich.
Dabei gibt es keinen Grund für Verzagtheit. „Die Ästhetik,“ sagte Joseph Brodsky, „ist die Mutter der Ethik: Unsere Kategorien von ‚gut‘ und ‚schlecht‘ sind zuallererst ästhetischer Natur (…) Jede ästhetische Wahl ist eine hochindividuelle Angelegenheit, und die ästhetische Erfahrung ist immer privater Art. Jede neue ästhetische Realität lässt diese Erfahrung noch privater werden, und diese Art Privatheit, die sich manchmal als literarischer oder sonstiger Geschmack tarnt, ist zwar keine Garantie, aber doch eine wirksame Verteidigung gegen jede Form von Versklavung. Ein Mensch mit sicherem Geschmack, besonders in Stilfragen, ist nämlich weniger anfällig für die primitiven Refrains und rhythmischen Beschwörungsformeln, die jeder Art von politischer Demagogie eigen sind.“
Darum sind Leute mit Bildungshunger und Leselust, man darf das deutlich sagen, in aller Regel auch die mit dem weiteren Horizont und größeren Einfühlungsvermögen, sie sind als Unterwerfungsobjekte nicht besonders brauchbar. Menschen, die sich auf Literatur einlassen, sind nicht so leicht zu unterdrücken, politisch zu manipulieren – denn wer liest, der fragt auch und lernt zu zweifeln. Leute mit Phantasie und Neugier, mit der Lust aufs Zuhören sind nicht sehr brauchbar für Generäle, Bürokraten, Ayatollahs und Meinungsvereinheitlicher welcher Art auch immer. Damit sind sie die eigentliche Avantgarde, das Salz der Gesellschaft, die wirklich fortschrittlichen, zukunftsorientierten, zukunftstauglichen Kräfte. Die Ironie daran ist, dass sie das meistens gar nicht wissen.
Wer sich zu Büchern hingezogen fühlt, von Romanen bewegen, vielleicht sogar von Gedichten entzücken und irritieren lässt, wer nicht leben will ohne die schwer in Worte zu fassenden Sprachen der Musik und der großen Bilder, wer nicht verzichten will auf die Irritationen und Bewusstseinserweiterungen durch Theater und Filme – ist vielleicht nicht schlauer als andere, als Rechtsanwälte, Informatiker, Makler, Politiker, Genetiker und all die wissenschaftlichen Experten, die an unserer Zukunft basteln. Aber sie oder er will mehr wissen über das Leben als die anderen. Stark genug, die eigenen Ansichten hin und wieder in Frage stellen zu lassen, wissen diese Leser, dass Bücher die Dummheit gefährden – nicht alle Bücher, aber doch erstaunlich viele. Sie geben sich nicht mit schnellen Antworten zufrieden. Sie suchen das Vielfältige, nicht das Einfältige, Einförmige. Sie haben Gefallen an sprachlichen Spielen, Melodien, Figuren. An Individualität und Eigensinn. Sie wissen, dass menschliches Leben sich nicht auf Ja-Nein, In-Out, Gut-Böse, Gewinn-Verlust usw. oder ähnliche Formeln reduzieren lässt. Damit wissen sie mehr als die meisten, jedenfalls mehr als die, die alles der Rationalität des Geldes oder Rationalität von Paragraphen unterwerfen und damit jetzt schon verarmt und gescheitert, jetzt schon von gestern sind.
Spätestens in zehn Jahren werden die Experten, die heute nur die sogenannte Effizienz gelten lassen, jammern und fordern: ja, wir brauchen mehr Lesebildung, mehr Geisteswissenschaften, mehr Kunstsinn! Denn meine scheinbar altmodische und altbanale These wird nicht nur von der Erfahrung, sondern noch mehr von der neuesten Hirnforschung und Bildungsforschung bestätigt: Ohne musische Fähigkeiten gibt es keine gesellschaftlichen Fähigkeiten, ohne Emotionalität keine Vernunft, ohne ein Sensorium für die Künste gibt es kein Sensorium für Demokratie und Freiheit, ohne die Literatur, bespielsweise, versinken wir in Barbarei.
„Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt/ Ist ein Barbar, er sei auch, wer er sei“, ließ der alte Goethe den Herzog von Ferrara, also den Politiker sagen.
„Wer nicht liest, kennt die Welt nicht“, sagte der etwas jüngere Arno Schmidt.
Solche Sätze bilden Europas Fundamente.
Gut, man kann nicht von jedermann Begeisterung für die Literatur erwarten. Trotzdem darf die Minderheit, die diesen Reichtum kennt und weitergeben möchte, den heutigen Barbaren durchaus angriffslustiger begegnen als bisher. Denn die Fakten sprechen gegen sie. Zum Beispiel gegen die Fernseh- und Mediengewaltigen, die, das ist leider kein Klischee oder Vorurteil, vor allem die Dummheit fördern und, was nun auch Langzeitstudien beweisen, dem Publikum Krankheiten aufladen, geistige und körperliche Verfettung, mit der dann die geistige und politische Verwahrlosung einhergeht. Auch im Umkehrschluss gilt der Satz von Daniel Barenboim: „Wer die Literatur, die Kunst, die Bildung, also den Dialog nicht fördert, der fördert den Egoismus, den Vandalismus, den Terrorismus.“
Deshalb gibt es keinen Grund, nachsichtig zu sein mit den Quotenidioten, Wortabwürgern und Bildungsvernichtern. Mit Politikern, Elektronik- und Medienindustriellen, die Milliarden investiert haben, um unsere Kinder und mehr und mehr auch die Studenten zu geistigen und körperlichen Krüppeln zu machen. Die Feiglinge vor dem Wort, dem differenzierenden Wort regieren in immer höheren Etagen. Sie wollen uns, was Medienvielfalt, Bildung, Buchmarkt usw. angeht, Schritt für Schritt aufs Weltniveau hinabentwickeln. Sie haben die Freiheit, sich mit diesen Argumenten nicht zu beschäftigen, die nicht in ihr Vierteljahresprofitdenken passen. Aber wir haben die Freiheit, diese Herrschaften, mit Argumenten, als Barbaren, Vandalen, Kinderschänder und Agenten der Verblödung zu bezeichnen, selbst wenn sie in der First Class sitzen oder Silvio Berlusconi heißen. Eins steht fest, sie sind von gestern – wenn Europa eine demokratische Zukunft haben soll.

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