Friedrich Christian Delius, FCD

Rainer Moritz

Rainer Moritz: Widerstand gegen den Trend

Wer in den Geschichten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nachschlägt, stösst mit Sicherheit auf seinen Namen. Der im Hessischen aufgewachsene und jetzt in Berlin lebende Friedrich Christian Delius ist fest gebucht, wenn Germanisten für die dokumentarisch-politisch geprägte Zeit der Sechziger und Siebzigerjahre nach einer Bezugsgrösse suchen.

Delius – das ist dann, wie etwa in Wilfried Barners umfänglicher “Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart” ein Autor unter anderen, einer, dessen Bücher in der Regel keiner Einzelanalyse unterzogen werden. Delius ist offenkundig in den Augen vieler ein ewig junger Schriftsteller geblieben, dessen Renommée sich zuerst aus Jugendwerken über “Unsere Siemens-Welt” oder den Kaufhauschef Helmut Horten speist. Die Prozesse darüber liessen Delius in die Justizgeschichte der Literatur einziehen und prägten das Etikett des unentwegt politisch agierenden Autors, der nicht altern darf. Zu Delius’ sechzigstem Geburtstag legt der Rowohlt Verlag eine Art Rückschau vor, eine Blütenlese aus Essays der Jahre 1967 bis 2002. Was meist für den Tagesgebrauch geschrieben war, liegt nun als gekürzte Sammlung von Exzerpten vor, die in alphabetischer Ordnung von “Achtundsechzig” bis “Zweifel” Einblick in Delius’ Denken geben.
Natürlich haftet dieser – auch zu Wiederholungen neigenden – Zusammenstellung Willkürliches an, und nicht bei allen Texten bestand unbedingt die Notwendigkeit, sie nach vielen Jahren zu reanimieren. Doch wer anfängt, sich in diesem Büchlein festzulesen, stösst allenthalben auf kluge Bemerkungen und vorausschauende Einschätzungen, die Delius einerseits als streitbaren und, wenn man will, “linken” Zeitbeobachter kennzeichnen und ihn andererseits als behutsam reflektierenden Kommentator der politischen Entwicklungen ausweisen. Es ist gewissermassen das Dilemma des Essayisten Delius, dass er nicht zum lautstark polemisierenden Meinungsführer taugt, der wie manche seiner Kollegen Öl ins Feuer der Tagesauseindersetzungen gibt. Delius argumentiert bedächtig, fast spröde und nur gelegentlich mit galligem Spott in der Stimme. “Theorie war meine Sache nie”, bekennt er lapidar, und auch seine akademischen Anfänge richteten sich nicht vorrangig an literaturtheoretisch Querelen. Seine 1971 in Buchform erschienen Dissertation “Der Held und sein Wetter” trägt den nicht nur zeittypischen Untertitel “Ein Kunstmittel und sein ideologischer Gebrauch im Roman des bürgerlichen Realismus” und zielt – wie etliche seiner erzählerischen und lyrischen Arbeiten – darauf, untergründige Machtsysteme in Gesellschaft und Kunst aufzuzeigen.
Dass Delius gelernter Literaturwissenschaftler ist, zeigt sich auch in seiner Geburtstagssammlung. Die eindringlichsten Texte gelten Kollegen wie Wolfgang Koeppen, Heiner Müller oder Nicolas Born. Wenn er Letzteren als Autor “zwischen der priesterlichen und der bieder politischen Prosa” ansiedelt, so meint man, eine dezente Selbstbeschreibung herauszuhören. Mit Weihetönen, wie sie die fast gleichaltrigen Peter Handke oder Botho Strauss anschlugen, weiss Delius wenig anzufangen; gleichzeitig wollte er nie als einseitiger Agitprop-Repräsentant verstanden werden – auch nicht in seiner Trilogie “Deutscher Herbst” (1981 – 1992), die sich aus den Zeitromanen “Ein Held der inneren Sicherheit”, “Mogadischu Fensterplatz” und “Himmelfahrt eines Staatsfeindes” zusammensetzt und die zu den nicht sehr zahlreichen epischen Auseinandersetzungen mit den grossen Themen der bundesrepublikanischen Geschichte gehören.
Delius’ Einmischung in den öffentlichen Diskurs sind von Leitmotiven bestimmt, von wiederkehrenden Feind- und Freundbildern, die in unterschiedlicher Differenziertheit gezeichnet werden. Da ist einmal das Sich-Reiben am publizistischen Dominierungswillen der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung”, der Delius 1988 eigens ein amüsantes Buch – “Konservativ in 30 Tagen” gewidmet hat. Und da ist das Unverständnis gegenüber einer Gesellschaft, die sich ihres moralischen Fundamentes zu entledigen scheint. Delius – “aus der letzten Generation, die noch ohne Fernsehbilder erzogen worden ist” – sieht in den Achtzigerjahren einen Niedergang einsetzen, den er, ausgesprochen plakativ, als “Triumph der Shareholder und Verlustmacher über die Werte- und Verantwortungsträger” geisselt. Delius, der bekennende Nicht-Zyniker, argumentiert hier holzschnittartig, und man wird daran zweifeln dürfen, ob es um die Rolle der “Werteträger” in den Fünfziger- und Sechzigerjahren grundsätzlich anders bestellt war.

Der Schriftsteller und die Gesellschaft

Schriftsteller sind – wenn sie nicht Günter Grass oder Martin Walser heissen – keine Leitfiguren der öffentlichen Auseinandersetzung mehr, was einen wie Friedrich Christian Delius, der um 1970 selbst zur viel beachteten rebellierenden Intellektuellengeneration zählte, schmerzen muss. Umso eindringlicher klingen deshalb seine Klagen darüber, dass ein verbindliches Ziel der schriftstellerischen Bemühungen nicht mehr zu existieren scheint: “Gibt es in der schreibenden Zunft noch das eine gemeinsame Interesse: die Vielfalt der Argumente, Differenzen, Geschichten, Debatten fördern zu helfen, also den Humus unserer Arbeit zu pflegen? Die Bereitschaft, gerade auch von den Meinungen sich anregen zu lassen, die man nicht hat? In den oberen Etagen Beissen und Treten, in den unteren kindisches Jammern. Merkt noch jemand, was uns verloren geht?”
Delius selbst nahm in ganz jungen Jahren an den letzten Tagungen der Gruppe 47 teil und mag vielleicht auch deswegen den Zeiten eines differenzierten literarisch-gesellschaftlichen Gesprächs nachtrauern. Die aktuelle Situation stellt sich für ihn als ein Gegen- oder Nebeneinander vereinzelter Schreibender dar, die durch kein einigendes Band mehr zusammengehalten sind. Der romantisch angehauchte Gedanke einer diskussionsseligen Gemeinschaft von politisch bewussten “Geistesmenschen”, die sich bei allem Meinungsstreit immer als zusammengehörig fühlen, ist eine der kleinen Utopien, denen Delius anhängt.
Dahinter verbirgt sich, wie gesagt, nicht der Wunsch nach Gedankennormierung, sondern nach vielfältiger Debatte, die mehr als blosse Zustimmung oder Ablehnung hervorruft. Als Dozent an der Universität Paderborn hat Delius dieses Dilemma so formuliert: “Unsere Gesellschaft, unser Verhalten scheint immer mehr auf den simplen Dualismus der binären Logik zu schrumpfen: Ja-Nein, Gut-Böse, In-Out-, On-Off usw. So fallen Entscheidungen, Wertungen, so wird heute Schicksal gemacht. Ich behaupte, dass es dagegen Opposition gibt, die nach mehr oder weniger bewussten Ausgleichs- oder Widerstandsformen sucht gegen den Trend zur computergestützten Ja-Nein-Mensch-Maschine, die von der beschleunigten Elektronik des Geldes angetrieben wird. (…) Literatur, und daran zweifle ich nicht, gehört im weitesten Sinn zu dieser Opposition und kann ein Widerstandspotential gegen den Trend sein”.
Friedrich Christian Delius ist ein Schriftsteller, der mit autobiografischen Zeugnissen geizt. Er äussert Meinungen, polemisiert und ironisiert, doch aus dem eigenen Leben mag er nur selten erzählen. Das sollte man einem Autor in Zeiten allgemeiner Bekenntniswut nicht ankreiden. Manchmal nur scheint es so, als würden seine Texte von ihrer Nüchternheit verlieren, wenn sie nur ein wenig mehr aus dem seelischen Interieur ihres Verfassers berichteten. Einmal vor allem, 1994, hat sich Delius auf dieses Terrain begeben, als er in seiner grossartigen Erzählung “Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde” über die eigene Kindheit schrieb, über den glücklichen Tag des Fussball-WM-Endspiels 1954. Der überraschende 3:2-Sieg der deutschen Mannschaft über die Ungarn lieferte der Nation die ersehnte Gelegenheit, sich wieder selbstbewusst zu zeigen, und er war zugleich ein Befreiungsschlag für das Kind Friedrich Christian, das den religiösen Zwängen des Elternhauses zu entfliehen begann. Delius’ Fussball-Geschichte wurde so zu seinem persönlichsten und vielleicht zu seinem gelungensten Buch. Vielleicht, so darf man dem jetzt 60-jährigen wünschen, greifen seine kommenden Werke wieder auf diesen Fundus zurück.

(Schweizer Monatshefte, 82. /83. Jahr, Heft 12/1)

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