Friedrich Christian Delius, FCD

Heinrich Detering

Heinrich Detering:

Ein freier Schriftsteller

Laudatio auf den 1. F.C. Delius
Joseph-Breitbach-Preis, Koblenz, 21. 09. 2007


Meine Damen und Herren, heute ehren wir einen Meister. Einen Weltmeister sogar. Dass F. C. Delius das ist, hat er uns selbst gesagt, in seiner Fußball- und Kindheits-Erzählung Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde (1994), und man kann ihm schlecht widersprechen. Also, wir feiern heute auch den „1. FC Delius“ und überreichen ihm unseren Pokal. Denn in der Tat, in diesem Mann verbirgt sich eine ganze Mannschaft. Und das gilt nicht allein im Hinblick auf die Genres, in denen er uns seit mehr als vierzig Jahren zu lesen und zu denken gegeben hat. Also nicht nur den Lyriker Delius meine ich und den gleichnamigen Geschichtenerzähler, den Dramatiker und Hörspielautor, den Dokumentar-Schriftsteller und Essayisten. Sondern überhaupt, und diesseits der Gattungen, den Chronisten, den Moralisten, den Artisten und schließlich, notabene, den Lektor und den Germanisten. Wer das verblüffend geschmeidige und erfolgreiche Zusammenspiel dieser, wenn ich richtig gezählt habe: elf Delii würdigen will, muss zumindest diese Viererkette genauer in den Blick nehmen.

Beginnen wir mit dem letztgenannten Delio: dem Germanisten. Das Buch, in dem ich als Student dem Namen Delius zum ersten Mal begegnete, war eine Abhandlung mit dem schönen Titel Der Held und sein Wetter. Schon der Umstand, dass diese Dissertation 1971 bei Hanser erschien, zeigt, dass es hier nicht um irgendeine motivgeschichtliche Studie ging, sondern um ein grundlegenderes Thema – und in einer essayistischeren Darstellung, als sie in der Germanistik seinerzeit als schicklich galt. (Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, dass das Buch bis heute lebendig ist.) Vom ideologischen Gebrauch eines Kunstmittels im Poetischen Realismus handelt es, von den deutschsprachigen literarischen Entsprechungen des uns allen bekannten Phänomens, dass es in Hollywood am dramatischen Ende immer regnet. Warum eigentlich, fragt Delius, regnet es auch im deutschen Realismus immer, wenn die Tragödie unausweichlich wird? Und warum lacht den zukunftsgewissen Bürgern dieser bürgerlichen Romane immer die Sonne Homers? Die Ideologie ausfindig zu machen mitten in einer vorgeblich realistischen Literatur, den Tatnachweis zu führen anhand der kleinen Indizien – bereits der Germanist Delius hat scharfsinnig und scharfäugig vorgemacht, wie das geht. Es ist eine Art Urzsene in seinem Werk geworden.

Denn ‚realistisch‘ zu schreiben, das gehörte ja immerhin zu den Schlagworten, in denen sich seinerzeit die literarischen und politischen Debatten trafen. Und das Etikett des ‚Realisten‘ gehört zu denen, die diesem Schriftsteller am häufigsten angeheftet worden sind, wie dasjenige eines politischen Autors, aber wie – verwirrenderweise – auch gleich noch das eines Vertreters der Neuen Subjektivität. Wer verstehen wollte, um welchen Punkt sich dieses Schreiben bewegt, der müsste versuchen, diese Extreme zusammenzubringen: die politische Aufmerksamkeit und die Neugier auf das Private – auf den einen oder die eine, der oder die als unverrechenbares Individuum in Zeit und Geschichte steht, auf verlorenem Posten, hoffend und enttäuscht; ein Held im Wetter.

Als Chronist der bundesrepublikanischen Gegenwart hatte Delius damals schon begonnen, mit den politischen Gedichten des Bandes Kerbholz 1965, im Jahr von Dylans Like a Rolling Stone. Wer so scharf hören und so genau lesen konnte wie er, und wer ein so empfindlich so-zialisiertes moralisches Bewusstsein mitbrachte, konnte da gar nicht umhin, ‚politisch‘ zu werden, und zwar als Satiriker und Parodist. Mit gewisser Zwangsläufigkeit also kam es auch zum ersten literarischen Skandal, einem der geradezu modellhaften Skandale jener Dokumentarliteratur, die sich bis heute auch mit dem Namen Delius verbindet. 1966 erschien Wir Unternehmer, eine Collage aus O-Tönen vom CDU-Wirtschaftstag, an der das Beunruhigendste der Vermerk war: „Stellen, die besonders bösartig entstellt scheinen“, seien „durchweg originalgetreu wiedergegeben“. Als hätte das nicht schon gereicht, ließ Delius dann zum Firmenjubiläum des Siemens-Konzerns ungebeten seine berühmt-berüchtigte Festschrift folgen, eine grandios parodistische Präsentation der schönen, alten und neuen Konzernwelt mit ihren geschichtlichen Abgründen – und dank der Klagen des Konzerns gegen den Autor mit juristischen und ökonomischen Folgen, die den damaligen Lektor Delius mitsamt dem Verlag beinahe erledigt hätten. Was man damals, in einem der ersten gerichtsnotorischen Streitfälle um die Grenzen der Satire, beinahe übersah, war der eminente Kunstcharakter dieser Texte.

Erst ziemlich spät ist der deutschen Literaturkritik klar geworden, dass dieser Chronist und Moralist ein ausgepichter Artist ist, dass die historische Tiefenschärfe und die moralische Glaubwürdigkeit seiner Bücher sich überhaupt nur der Kunst verdanken, mit der sie erzählt sind. Sie bleibt freilich so unaufdringlich wie die literarische Empfindlichkeit und Empfänglichkeit, von der sie profitiert. Wenn Delius ein fiktives Gutachten schreibt über die Abschaffung des Hungers in der Welt durch die Abschaffung der Hungernden in der Welt durch gezielte Steigerung des Hungers in der Welt: dann darf man sich erinnern an Jonathan Swifts Satire über die Abschaffung der Armut durch Schlachtung und Verfütterung der Armenkinder. Kleist und Fontane sind seine Lebensabschnittspartner gewesen, Goethe und Brecht, und ganz sicher ist dieser leidenschaftliche Beobachter ein Nachfahre des aufgeklärten Spaziergängers nach Syrakus. Seumes Satz, „dass alles besser ginge, wenn man mehr ginge“, liest sich, als wäre er von ihm. Vor allem aber (und ich gestehe, dass ich dies an seinen Büchern am meisten liebe) ist Delius Koeppens Kind, mit Wolfgang Koeppens Gespür für die musikalische Phrasierung der Zeitgeschichte – der Geschichte wie der Zeit –, für Leitmotivik und das rhythmische Gefälle der Assoziationen, und frei von Koeppens Manierismen. (Nicht ganz zufällig ist der englische Komponist Frederick Delius ein entfernter Verwandter.)

Es wäre nicht schwer, aus Delii Romanen eine Chronik der bürgerlichen deutschen Bewusstseinslagen zu rekonstruieren, von der Vorgeschichte der NS-Zeit bis in unsere Gegenwart. Der Debütroman Ein Held der inneren Sicherheit (1981), der sich dann ausweitete zur ‚Trilogie‘ über den „Deutschen Herbst“ – wiedergelesen jetzt, in dessen dreißigstem Jahr, zeigt sie eine Differenzierung, Beobachtungsschärfe und Ideologieresistenz, die nicht nur in jenen Jahren ziemlich einsam dastand, eine stupende Fähigkeit zur Vermittlung von Analyse und Einfühlungsvermögen. Der rücksichtslose Karrierist, der bei Böll als Schurke von außen vorgeführt wird, erscheint bei Delius als Ich-Erzähler – und damit auch mit seinen intimen Ängsten und Hoffnungen, eine abstoßende und traurige Gestalt. Dieser erste Untergebene eines Unternehmervertreters, in dem sich leicht die Gestalt Hanns Martin Schleyers wiedererkennen ließ, nimmt die Ermordung des Entführten in klammheimlicher Erleichterung hin, weil sie ihm endlich den Aufstieg ermöglicht, um den er sich immer betrogen gefühlt hat – und das eigentlich Unheimliche dieses Romans liegt darin, dass Delius uns das Inhumane nacherlebbar macht; dass er kein Monstrum, sondern einen Menschen zeigt; dass er ihn decouvriert, nicht denunziert (obwohl, oder gerade weil, es so leicht gewesen wäre).

Die Tiefenschärfe schon der ersten Zeitromane ergibt sich aus der historischen Perspektivierung des Aktuellen – so wie umgekehrt die Vergegenwärtigung der Vergangenheit beziehungslos geblieben wäre, zeigte dieser Autor nicht ihre Prägekraft für die Bewusstseinsstrukturen der jetzt Lebenden. Und zwar, erst das macht diese Zeitenwechsel so unheimlich und genau, in den Köpfen der jeweiligen Täter wie in denen der jeweiligen Opfer. Je weiter die Nachkriegsgeschichte fortschreitet und Delius sie anteilnehmend beobachtet, desto komplexer wird das Zeitengefüge seiner Texte, desto größer werden die Ansprüche, die die Zeit an sie stellt, desto anspruchsvoller also folgerichtig diese Texte selbst. So kommen Geschichten zustande wie die des Ich-Erzählers in Flatterzunge (1999). Die unerhörte Begebenheit dieser Novelle ist jener allen Zeitungslesern bekannte Abend, an dem in einem israelischen Restaurant ein deutscher Musiker die Rechnung mit dem Namen „Adolf Hitler“ unterschreibt. Im Schreibprozess wird er sich zum Täter und Detektiv zugleich; die Gewissenserkundung nach dem ihm selbst unbegreiflichen Vorfall weitet sich aus zur Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse und, abermals, der bundesdeutschen Geschichte. Und ganz allmählich erscheint vor unseren Augen der vermeintlich nazistische Täter als Objekt kollektiver Entlastungsbedürfnisse, als Projektionsfläche einer medialen Öffentlichkeit, ein komplizierter Mensch in einer nach simplen Stories gierenden Welt; und der Text zeigt ihn uns von innen.

Nicht nur Faschismus und Krieg sind es nun, deren Erzähl-Fäden sich immer wieder mit denen der Gegenwart verheddern, sondern auch der Kalte Krieg und sein Ende, die Jahre der Rebellion, der Restauration und der Reformen, die Wirren der Wiedervereinigung. Umgekehrt kann darum auch die Erinnerung nicht bei der NS-Zeit stehenbleiben, sie muss weiter hinunterklettern in die verschütteten Keller der (hier: familiären) Vorgeschichte, in die Gedanken der Mutter zum Beispiel, im Rom des Jahres 1943, und ihre Erinnerungen an alte Kindheitsmuster. Auch wer den ahnungslos-rücksichtslosen Aktivismus der Wessis in Ribbeck verstehen will und die hilflose Passivität der Ossis in der kläglichen deutsch-deutschen Begegnung, die sich bei der symbolträchtigen Wiederanpflanzung eines Birnbaums in Ribbeck im Havelland tatsächlich zutrug und aus der Delius eine Meisternovelle gemacht hat – auch wer das begreifen will, muss zurückgehen durch die Zeitensedimente bis zu Fontane. Diese artistische, an Koeppens Jugend geschulte Geschichtsprosa entfaltet sich als ein einziger langer Satz. Weil die Geschichte kein Ende nimmt, vermittelt die Syntax das reine Verstreichen der Zeit; die Einsicht, dass nichts fest ist, wird zum Prinzip des Satzbaus. Der siebzig Seiten lange Satz von Die Birnen von Ribbeck erzählt, wechselnd zwischen der Ich- und der Wir-Form, davon, wie der Osten zum Westen wird – ohne Larmoyanz, ohne Aggressivität, in einer stillen Verzweiflung und im virtuosen Übergang von der Dokumentation in die Fiktion.

Denn noch immer ist gerade in diesen artistischsten Augenblicken des Deliusschen Schreibens die Herkunft aus der Dokumentarliteratur zu bemerken. In seinen großen Romanen und Erzählungen ist Delius, der germanistisch geschulte Chronist, ein so sensibler und genauer Beobachter und Finder, dass man kaum bemerkt, wo er zum Erfinder wird. Ein Spaziergänger auf der Grenze zwischen Fakten und Fiktionen, ein Liebhaber der Wirklichkeit, im Wortsinne ein ‚Poetischer Realist‘. Und einer jener deutschen Autoren, die uns daran erinnern, wie gut sich Poesie und Realismus vertragen.

Vor allem in dem großen Roman Mein Jahr als Mörder gelingt das Kunststück, deutsche Geschichte von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart als Zusammenhang aus der Perspektive einer einzigen, novellistisch komprimierten Konstellation durchsichtig zu machen, ohne auch nur ansatzweise eine dieser langweiligen Chroniken zu erzählen. Der Plan des Berliner Studenten, einen sühnenden Mord zu vollziehen an einem „furchtbaren Juristen“, der den im Widerstand aktiven Vater seines Mitschülers am Volksgerichtshof zum Tode verurteilt hat – dieser Plan soll Literatur und Leben, Beobachten und Eingreifen verbinden; einen „Mord zum Buch“ nennt ihn der Erzähler im Buch. Heraus kommt nur das Buch. Nur? Es wird ein in seiner Ruhe, Distanz und seinem eben deshalb so unaufdringlichen Engagement aufwühlender Roman über die Fortdauer des Faschismus in den Köpfen und Institutionen nach 1945.

Die eigene keineswegs faschistische, nur nationalkonservativ-obrigkeitstreue Sozialisation des lutherischen Pfarrersohns bleibt in Delii Schreiben spürbar bis in die Kapillargefäße hinein: als das von klein auf erlernte Ineinander der (und was für großartig-schauerliche Begriffe sind das!) „Gottesfallen“ und des „Vaterkäfigs“. Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde – das ist eben nicht einfach ‚Der Tag, an dem ich Weltmeister wurde‘. Es muss ein Sonntag sein, so wie das Radio, an dem der Elfjährige atemlos, entrückt und erschüttert Herbert Zimmermanns Reportage hört, nirgendwo anders stehen darf als im Arbeitszimmer des Vaters. Die Verheißungen des „Fußballgottes“, den Zimmermann ekstatisch anruft und die in der archaischen Wucht der „Toor!“-Schreie explodieren – sie befreien den Halbwüchsigen mit einem Schlag aus der Falle und jenem Käfig, der in ebendiesem Zimmer alltäglich, allsonntäglich immer neu gezimmert wurde.

Was den artistischen Chronisten und Moralisten von Anfang an und – wenn ich recht sehe – bis heute interessiert, sind die sprachlichen, mentalen, sozialen Mechanismen autoritärer Herrschaft, die fatale Lust an den berauschend einfachen Dichotomien – und zwar nicht nur bei den jeweils anderen, sondern auch bei den jeweils Eigenen. Die Unfähigkeit, eindimensional und dogmatisch zu schreiben, hat sich selbst dort bewährt, wo der frühe Delius tapfer solche Texte zu schreiben versuchte. In brechtischer Selbstironie hat er sich einen „freien Mitarbeiter der Klassenkämpfe“ genannt, ungeeignet dazu, sich einzureihen in irgendeine Einheitsfront. Delius ist ein Individualist, dem die freie Entfaltung jedes einzelnen Bedingung für die freie Entfaltung aller ist. Das ist nicht nur eine politische, sondern entschieden auch eine literarische Maxime. Darum ist sein Schreiben genuin dialogisch; imprägniert von der Lust an der Polyphonie. Unter den Auszeichnungen, die er dafür erhalten hat, war 1994 ein Preis der Universität Florida; sie trägt den passenden Namen „Award for Opening Minds“.

Dass es im Wesen der Wahrheit liegen könnte, sie nicht haben, sondern nur suchen zu können: die Lessingsche Vermutung ist wohl auch die dieses Aufklärers. „Wer Bescheid weiß“, so ist in Mein Jahr als Mörder zu lesen, „wer handliche Antworten hat, der kann sich auf die Straße oder vor ein Mikrophon stellen und Parolen schreien, das ist in Ordnung (!), aber wer nichts weiß oder fast nichts und so gebaut ist wie ich, der hat nur eine Wahl: schreiben.“ Es ist das Prinzip, die jeweils andere Seite zu Wort kommen zu lassen, im eigenen Kopf, das er vom ersten Roman an befolgt. Es ist eine sehr agonale, also sehr lebendige Form der Toleranz – und ein zuverlässiges Mittel gegen literarische Langeweile.

Es bedeutet auch die konstante Weigerung, ein Eisenfeilspänchen zu werden im Magnetfeld der allgemeinen Meinungen. Anneliese Groscurth, diese west-östliche Landstörzerin Courasche im Berlin des Kalten Krieges, und der Rostocker Kellner auf dem Weg nach Syrakus, dieser sozialistische Picaro, haben bei allen Unterschieden dies gemeinsam: dass sie sich, als Individuen mit einem naiv-pragmatischen Sinn für Freiheit und Gerechtigkeit, zwischen den Fronten derjenigen vorfinden, für die dies restlos ideologische Begriffe geworden sind, Kampfvokabeln. Beide setzen ihr Leben daran, unter den Fronten durchzutauchen; darum sind sie Helden.

Meine Damen und Herren: Seinen Mörder-Roman hat Delius unter ein Motto von Imre Kertész gestellt; es lautet: „Das wirklich Irrationale und tatsächlich Unerklärbare ist nicht das Böse, im Gegenteil: es ist das Gute.“ Im Roman selbst wird dann die Heldin sagen: „Die Teufel sind immer aufregender als die Guten, das ist unser Pech.“ Dies beherzigend, erzählt Delius beharrlich vom unerklärbaren Guten, von dem, was der Vorspruch in Walter Benjamins Exilbuch Deutsche Menschen etwas pathetischer so formulieren konnte: „Von Ehre ohne Ruhm / Von Größe ohne Glanz / Von Würde ohne Sold“. Aber kann das literarisch gutgehen? „Mit lauter guten Menschen“, hat Peter von Matt geschrieben, sei „keine gute Literatur zu machen.“ Delius macht aus der Geschichte von guten Menschen gute Literatur, weil er auch die bösen Folgen der Güte in ihrer Darstellung nicht ausspart. So ist es eben in seinem jüngsten, seinem schönsten Buch „die sanfteste alle Frauen, die ängstliche Mutter“, die aus lauter Sanftmut gegen die Obrigkeit nichts sagt, ja kaum gegen sie zu denken wagt.

Bis in die stilistische Mimikry hinein macht Delius in dieser Erzählung – abermals einem einzigen langen Satz – die inneren Stimmen der alten Autoritäten hörbar, die im Kopf der Heldin umhergehen, zeigt ein Ich, das zum Sprachspiel geworden scheint, macht es erkennbar als das Resultat einer auch sprachlichen Sozialisation. Und lässt doch nach und nach aus dem entfremdenden Stimmengewirr das Individuum wieder hervortreten, das selbst zu denken und womöglich einmal frei zu handeln vermag. Die geschichtliche Möglichkeit der Güte und die Behauptung der individuellen Freiheit – dieses Deliussche Lebensthema realisiert sich hier im artistischen Sprachspiel der Erzählung. Im decouvrierenden Freilegen der fremden Stimmen, die sich zum Ich zu verschlingen scheinen und in Wahrheit doch nur das Ich verschlingen, gibt der Text seiner Heldin ihre eigene – ja: Identität zurück. Die Musik Bachs, auf die ja alles zuläuft und auf deren Aufführung diese Heldin ganz buchstäblich zuläuft, auf ihrem Weg durch die Stadt: diese polyphone Musik erweist sich am Ende, ohne dass das auch nur mit einem Wort ausgesprochen werden müsste, als Inbegriff jener Kunst, die sich auch in dieser Erzählung selbst ereignet. Worum es da geht, das sind einfache Dinge, deren Bezeichnungen schon wie modrige Pilze im Munde zerfallen wollten: Menschenliebe, Humanität, der freie Wille eines freien Menschen. Nichts davon wird im Text so gesagt, und würde es das, es verriete sich im Sagen schon als Zitat von Sprachschablonen. Aber gezeigt wird es auf jeder Seite, im Patchwork der Diskurse und im rhythmischen Fall der Sätze.

Meine Damen und Herren, falls ich es noch nicht gesagt haben sollte: Es ist ein Vergnügen, Delius zu lesen – den Chronisten, den Moralisten, den Artisten, und den Germanisten sowieso. In seinem Roman wird Selma Lagerlöfs Nils Holgersson zum kindlichen Schutzheiligen dessen, der aus Moral beinahe zum Mörder geworden wäre. Aber der Schatten der ziehenden Wildgänse und des kleinen Mannes darauf: dieser sanfte Schatten mit seinen Verheißungen von Ferne, Weite und Aufbruch gleitet über alle seine Bücher hinweg, und einmal geschieht das sogar im ganz deutschen (und auf die schönste aller denkbaren Weisen deutschen) Ton Eichendorffs: „Da spannte die Phantasie ihre Flügel aus, ich sah mich wie Nils Holgersson fliegen“. So ähnlich muss es gewesen sein im Pfarrhaus von Wehrda, damals, als Deutschland Ungarn schlug und der „Fußballgott“ sich offenbarte und Friedrich Christian Delius, der gehemmte und stotternde Pfarrersohn, zum Weltmeister wurde.

Und weil er diese Flügel noch immer ausgespannt hält und weil er bis heute dieser Weltmeister geblieben ist, ein freier Schriftsteller: darum verleihen wir dem 1. FC Delius, allen elfen, nun den Pokal. Es ist unser Dank „for Opening Our Minds“.

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