Friedrich Christian Delius, FCD

Trauerrede Thomas Lehr

Liebe Ulla, liebe Mara, liebe Charlotte, lieber Eberhard – liebe weitere Familienangehörige, liebe Gäste!

Wenn ich mutig wie Christian wäre, würde ich seine Grabrede mit einem Geständnis beginnen: Ich habe nicht alle seine Bücher gelesen! Schon sehe ich ihn schmunzeln, auf seine unnachahmliche Grandseigneur-Art, und es könnte sogar sein, dass er mir leicht und salopp mit der Hand auf die Schulter klopfte.
„Allerdings“, würde er mir dann empfehlen, „solltest du dein Licht nicht unter den Scheffel stellen und also besser sagen: Ich habe nicht alle seine Bücher gelesen, aber von den wichtigen die meisten. Und füge locker hinzu: ich habe sie auch verstanden.“
Zurückhaltend, aber nicht falsch bescheiden sein, präzise, aber nicht pedantisch, nicht die Zuhörer oder Leser damit langweilen, dass man in die Breite wirtschaftet – solche Dinge hat mein großer Freund und Kollege Christian versucht mir beizubringen.
Bei einem der vielen Freundes- und Werkstattgespräche, die ich in den vergangenen zehn Jahren mit Christian geführt habe, schilderte ich ihm ein akutes Problem mit meinem neuen, umfangreichen Roman. Ich fühlte mich getrieben, das bereits Geschriebene, hunderte von Seiten, immer wieder durchzugehen und zu perfektionieren, so dass ich kaum noch vorankäme. Da hob er kurz den Kopf, sah auf seine zugleich oberlehrerhafte und lausbübische Art durch die Brillengläser und sagte unverwandt, ohne eine Sekunde zu überlegen: „Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“
„Du alter Pfarrerssohn“, sagte ich ergriffen, „schon wieder hat dich Gott als sein Instrument benutzt.“
Die Belesenen werden leicht Lukas 9,62 erraten, bei Christans Satz. Wir beide stritten im Folgenden darüber, ob es Pflug oder Pflugschar heißen müsse oder ob man die oder seine Hand daran legte. Geeinigt haben wir uns, glaube ich, nicht.
Wenn ich in diesem Rahmen einen unserer bibelkundigen Dialoge wiedergebe, dann in der Hoffnung, Christian möge sich darüber freuen und ironisch applaudieren, mit der linken Hand des Papstes und der rechten seines von ihm so knapp wie furios beschriebenen gestrengen Priester-Vaters. Christian hat lange gebraucht, um die heitere Gelassenheit des Agnostikers zu erreichen, das Paradies des Nichtglaubens, wie er es einmal mit Lichtenberg sagte. Und niemand außer Christian selbst kann so knapp und treffend seine Kindheit zusammenfassen im Rückblick auf seine berühmte Erzählung Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde: „Meine Kindheit in einem evangelischen Pfarrhaus sollte ausgeleuchtet werden, der Einfluss der Bibelsätze, Gebete, Choräle usw. auf die Seele des Elfjährigen und die subtile Herrschaft des wortmächtigen und gotteswortmächtigen Vaters über seinen stotternden Sohn, der vorübergehend in der Fußballanbetung sein Glück findet.“
„Was war denn gut an ihm?“, habe ich Christian einmal über seinen frommen Erzeuger gefragt. „Ach, doch auch einiges, zum Beispiel, dass er einmal ein Dutzend Kinder in sein Auto packte und mit ihnen zum Eisessen über den nächsten Hügel fuhr.“ Und einmal schrieb er auch: „Bei aller Distanz zu meiner christlichen Erziehung weiß ich inzwischen, was ich ihr an Bildung, Sprachkraft, Empathiekultur verdanke.“ Christian konnte die Dinge von zwei und von drei Seiten sehen, und auch das machte ihn zu einem großen Freund.
In den letzten Jahren fanden unsere Zweiergespräche vor allem in Charlottenburg statt, im zwei- oder dreiwöchigem Abstand, zur Lunchzeit, als Arbeitsessen, das wir nicht steuerlich absetzten. Es konnte der Amerikaner in der Sophie-Charlotte-Straße sein, der uns beide an unsere New York-Aufenthalte erinnerte, oder der Luxemburger in der Leonhardtstraße. Zum Schluss war es das Café Manstein, wenige Meter von Christians Wohnhaus entfernt, „an der Ecke“ gelegen, an der wir uns davor auch trafen, um bereits im Gehen über unsere Bücher, unsere Frauen oder unsere Töchter zu sprechen. Ich muss sofort hinzufügen: Nur wenn es um Bücher ging, war Christian indiskret. Auf Ulla, Mara und Charlotte und erst recht auch die kleine Dalia war Christian nur stolz. Ich habe ihn auch nie – das fiel mir beim Schreiben erst auf – über irgendjemanden schlecht reden hören im Sinne einer Verurteilung einer gesamten Person, nicht einmal über seine schlimmsten Kritiker. Er verzieh ihnen den Angriff nur schwer, aber er machte aus ihnen keine Monstren. Und wie sollte man jetzt nicht darauf kommen: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!
Der glänzende und freudig polemische Stilist, denke ich heute, war auch ein stiller Moralist – und damit gingen Tugenden wie Höflichkeit, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Dezenz ganz leicht einher. Christian war old school, im allerbesten Sinne. Wenn er seinen Borsalino aufsetzte, einen Trenchcoat aus den neunziger Jahren anlegte oder in seinem Arbeitszimmer saß in Sakko und gestreiftem Hemd, dann passte das eben ganz genau für jemanden, für den Form keine Frage des aktuellen Mitlaufens war.
Zur guten Form gehörte auch etwas, das all seine Freunde an Christian kennen, nämlich seine Fähigkeit zuzuhören, die eine Facette seiner Offenheit und Neugierde war. Über die Fußgängerbrücke seiner Toleranz, möchte ich sagen – und ich markiere hier das wichtige Wort Fußgänger – habe ich ihn, haben ihn viele jüngere Autoren kennengelernt. In meinem Fall war es eine Autorentagung im Literarischen Colloquium vor etwa zwanzig Jahren, bei der Christian, damals schon renommiert und berühmt, als so ziemlich der einzige ältere Autor sich zwanglos unter uns jüngere mischte und hören wollte, was wir zu sagen hatten. Noch dazu beließ er es nicht beim Zuhören. Er las die jüngeren Autorinnen und Autoren auch! Unter allen Autorinnen und Autoren, die ich kenne, habe ich keinen so großen Leser wie Christian getroffen und niemanden, der so konsequent, bis noch im vergangenen schweren Jahr der Krankheit, so empathisch und aufmerksam die Entwicklung der Gegenwartsliteratur verfolgte.
Wenn Autoren prima miteinander auskommen, dann zumeist, weil sie sich nicht lesen. Wenn sie aber eine lange und enge Freundschaft führen wollen, dann kommen sie nicht darum herum, des anderen Bücher aufzuklappen und tatsächlich hinzusehen. In unserem Falle war dieser doppelt prekäre Vorgang ganz ungefährlich. Schon Jahre bevor ich Christian kannte, war ich ein staunender und begeisterter Leser seiner kühnen Romantrilogie zum Deutschen Herbst gewesen – und als wir uns richtig anfreundeten, im Sommer 2011 in Rom, als ich bei seiner lieben Frau und vollendeten Gastgeberin Ulla Bongaerts in der Casa di Goethe aus meinem Roman September las, legten wir beide so richtig los und lasen uns, was das Zeug hielt.
Vielleicht kann ich ganz einfach geografisch begründen, weshalb das gut ging: Christian und Ulla kehrten 2013 nach vielen römischen Jahren nach Berlin zurück und zogen in Charlottenburg an das nördliche Ufer des Lietzensees, während ich mit meiner Familie gerade an das südliche gezogen war. Die Ufer liegen am Lietzensee nicht weit auseinander – und so kamen der 68-er Friedrich Christian Delius und der 79-er Thomas Josef Lehr, der agnostische Protestant und der entlaufene Katholik, der ältere, aber viel schnellere literarische Kurz- und Mittelstreckenspezialist und der langsame vergrübelte Marathon-Man spielend zusammen. Wir lasen unsere neuen Bücher, besprachen die entstehenden und studierten, wenn es uns darauf ankam, Werke des anderen auch ein zweites Mal.
Im Übrigen empfahlen wir uns auch etwas, denn wir wurden ja in guter Freundschaft zehn Jahre älter und bei allem, was uns unvermeidlicherweise ausfiel, halfen wir uns auch, die Lücken zu stopfen. „Es kann nicht sein, dass du Joseph Roth‘s Radetskymarsch noch nicht gelesen hast!“, konnte man Christian inmitten der eng stehenden Tische beim Amerikaner ausrufen hören. Ich dagegen fand, dass man nicht siebundsiebzig werden könne, ohne Georges Perec‘s Das Leben. Gebrauchsanweisung studiert zu haben. Im letzteren Fall verblüfften mich Christian und Ulla gleichermaßen: Sie kamen aus einem kurzen Urlaub zurück und hatten sich den Roman gegenseitig vorgelesen. Wer das 850-seitige Buch kennt, wird mir nun beipflichten, dass dies eine große, auf Seelenverwandtschaft beruhende Liebe gewesen sein muss!
Am Ende ziehen immer wieder die Begegnungen mit Christian vorbei, nicht nur die zahlreichen Zweier-Tischgespräche, sondern auch die großen Gesellschaften, die Ulla und Christian in ihrer schönen Dachgeschoßwohnung in der Witzlebenstraße gegeben haben, denn ausgezeichnete Gastgeber waren sie beide – von Natur aus, möchte ich fast sagen. Ich will und kann nicht schildern, was meine Frau und ich dort alles an wunderbaren Gesprächen geführt haben. Stattdessen gehe ich noch einmal im Geist in Christians Arbeitszimmer, in dem ich ihn in seinen letzten Lebenswochen besucht habe, Mittwoch nachmittags zumeist, auf einen Kaffee, für den wir oft zwei Stunden brauchten. Unter der Dachschräge steht sein Schreibtisch vor dem Fenster, von dem aus man das wuchtige Gebäude des ehemaligen Reichskriegsgerichts sehen kann, umfunktioniert zu Luxus-Eigentumswohnungen. Wer hätte eine solche Ironie der Geschichte besser in Worte fassen können als Christian?
Doch schauen wir zurück auf sein Regal. Beim Anblick der zahlreichen Belegexemplare und der dichten Reihe von Dutzenden stets schwarz eingebundenen Notizhefte muss auch ich immer wieder staunen, und ich denke: Was hast du nur alles geschrieben, Christian! Bücher, die aus dem kecken satirischen Geist entstanden sind wie Unsere Siemenswelt oder schon die gedruckte Dissertation Der Held und sein Wetter. Bücher, die aus deiner großen Kunst des Zuhörens zu kommen scheinen wie Der Spaziergang nach Syrakus oder Mein Jahr als Mörder. Bücher, die sich deiner Musikalität verdanken wie Die Zukunft der Schönheit oder Bücher, die flammend aus dem Protest hervorgingen wie die Himmelsfahrt eines Staatsfeindes. Wo du eben noch als in sieben Sprachen Schweigender still und ehrerbietig während des Irakkriegs neben Imre Kertész durch Jena gewandert bist, holst du dir morgen, zum 500. Jahrestag des Thesenanschlags, den bronzenen Martin Luther vom Podest, um ein Bier nach unverändertem deutschen Reinheitsgebot mit ihm zu trinken und ihm in einer 96. These den Kopf dafür zu waschen, dass er mit der Übernahme des Augustinischen Konzepts der Erbsünde und der Schuldbeladung von Sexualität im Grunde die Reformation versemmelt hat.
Als die Bücher noch geholfen haben… In dem Verlust eines einzigartigen Freundes gibt es nur ein Glück: dass man ihm in seinen Werken wiederbegegnen und sich von ihnen helfen lassen kann. „Er ging voran, ich folgte seinen Schritten“, heißt es bei dem von Christian so benannten frechsten Dichter der Welt, Dante Alighieri, der den größten Fußweg oder extremsten Spaziergang der Weltliteratur unternommen hat. Wie ein Vergil wird Christian, mit wiedergewonnener sonorer Stimme durch seine Romane, Gedichte, Aufsätze, Erzählungen und inspirierten Polemiken geleiten. Und oft wird es einem dann ganz genau so vorkommen, wie es Christian bei der Beschäftigung mit Dante erging: „Als wäre die Dichtung, als wäre die Kunst das einzige Konstante in einer taumelnden Welt.“

Thomas Lehr
Juni 2022

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