Friedrich Christian Delius, FCD

Trauerrede Katja Lange-Müller

Liebe Ulla, liebe Mara, liebe Charlotte, liebe Geschwister Angelika und Eberhard, liebe Freunde unseres Friedrich Christan Delius, obwohl nur noch ihr diejenigen seid, die mich hören können, bitte um Verständnis dafür, dass ich mich an Christian wende, denn er ist es, von dem wir – und auch ich – Abschied nehmen müssen.

Christian, als wir uns zum letzten Mal begegneten, 2021 im Leipziger Haus des Buches bei einer Tagung zum Thema „Sechzig Jahre Mauerbau“, ähneltest Du verblüffend einer Fotografie des alten Samuel Beckett. Ebenso viele elegante Falten furchten, ach was zierten! Dein hageres Gesicht, auch Querfalten, die wie Lachfalten wirkten; es waren aber keine, zunächst nicht. – Ich sagte Dir, dass Du mich an Beckett erinnerst, genauer an ein Foto von ihm; sogar eure Brillengestelle wären fast identisch. Du wehrtest ab, bescheiden wie eh und je, doch der Vergleich gefiel Dir; ein breites Grinsen hob Dir die Mundwinkel, und die Querfalten verdreifachten sich und triumphierten über die Längsfalten. Ja, Du warst ein schöner Mann, selbst mit achtundsiebzig noch. Ob Du das wusstest? Ich weiß es nicht. Du mochtest es, verwegene Hüte zu tragen und edle Schuhe. Sicher ist, dass Du immer ein guter, womöglich sogar schöner MENSCH sein wollest, jedenfalls als Friedrich Christan Delius, der nicht gerne Friedrich hieß, sondern sich lieber F. C. nannte und Christian rufen ließ, als derjenige, dem man ins Gesicht schauen konnte und der, seit er seine Schüchternheit überwunden, sich schreibend von ihr befreit hatte, jeden Blick, auch den finstersten, erwiderte.

Das war der eine, einzige, einmalige Christian Delius. Aber außer diesem gab, nein, gibt es die vielen anderen Delii, oder Deliusse, oder Delio (weil ich mich kurzfassen will, sein mir diese eigentlich unmöglichen Plurale erlaubt), eben jene Delius-Figuren, reale und irreale, in die Du nicht einfach geschlüpft bist, sondern Dich hineinrecherchiert, hineingedacht, hineingeschrieben hast, lustvoll, menschenkennerisch, manchmal distanziert, also weniger sympathisierend, oft etwas spöttisch. – Halt, das stimmt nicht ganz. Wahrscheinlich sind Deine Figuren erst einmal in Dich gekrochen und dann, mit Dir vermischt, wieder ausgebrochen, als sogenannte Protagonisten, die jedoch nicht reden und denken wie Du dachtest, nein, die gebrauchen unsere und Deine Sprache so, wie Du Dir ihre Art, sich zu zeigen, vorgestellt hast. Wie widersprüchlich Homosapiens ist, wie widersprüchlich, innerlich divers und an den Rätseln unsers Daseins verzweifelnd, Du warst, Du allein, das offenbaren Deine Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays mehr als – in einem Gespräch etwa – Dein ureigenes, leibhaftiges Ich. Und ohnehin hörtest Du lieber zu, bliebst aber auch keine Antwort schuldig; gelegentlich allerdings kamen Deine Widerworte erst später und als Text. Du sagtest einmal sinngemäß, am Schreiben gefalle Dir besonders, dass unsere unerschöpfliche, wandelbare Sprache und die dichterische Freiheit Dir ermöglichen würden einerseits Du selbst zu sein und andererseits jede Kreatur, von der Du glaubst, sie wäre für Deine Leserinnen und Leser ebenso interessant wie sie es für Dich war: Eine Geisel in einem entführten Flugzeug, ein Saisonkellner und Undercover-Segler, den ein Bötchen Marke Eigenbau über die Ostsee gen Westen trägt, ein unglücklicher Orchesterposaunist, der die fette Rechnung, die ihm die fiesen Kollegen in einem Jerusalemer Restaurant hinterlassen haben, besoffen mit „Adolf Hitler“ signiert, ein Preußenjahr-Erfinder, ein zum Mord entschlossener Literaturstudenten-Delius, ein Christian Friedrich Delius-Embryo im Bauch seiner durch Rom spazierenden Mutter, ein schwer erkrankter Schriftsteller-Delius, der nächtens schlaf- und stimmlos „Die sieben Sprachen des Schweigens“ ersinnt oder ermittelt … Diese Ich-Erzähler oder als solche getarnten Menschen, Protagonisten, Figuren, Kreaturen, Charaktere … oder welche Bezeichnung auch immer sie bevorzugen mögen, sind so unterschiedlich und in sich widersprüchlich, wie es ein Mensch und Autor kaum sein kann. Ob sie alle miteinander tatsächlich jenen authentischen Gesamt-Delius ergeben, dessen sterbliche Hülle wir heute beerdigen müssen, auf diese Frage werden wir, werde ich keine Antwort finden, nicht einmal dann, wenn ich mir wieder und wieder Deinen Kopf leihe und wieder und wieder dies eine Deiner Gedichte lese, das wie Deine Poetik oder eine Deiner Poetiken anmutet:

ICH LEIH DIR MEINEN KOPF

„Ich leih dir meinen Kopf für diesen Nachmittag.
Du kannst ihn duchstöbern, diesen Irrgarten
und in Millionen Zellen nachforschen,
was alles über dich gespeichert liegt.
Du kannst ihn als Flugzeug benutzen für einen
Rundflug über Mauern, Bilanzen und Doktorarbeiten,
hinweg über Nettigkeiten unerträglicher Leute und
weit hinaus fliegen über die Wolken bis Feuerland.
Du kannst ihm eine Brille aufsetzen, wie immer
ihn lesen lassen, Gedichte, Berichte, Wissenschaft.
Du kannst seine Sehstärke prüfen, seine Blindheit,
wieviel er wahrnimmt von der Welt und von dir.
Du kannst auf einem seiner inhaltlosen Gedanken
reiten zur Sonne mit Lichtgeschwindigkeit.
Du kannst ihm jederzeit einen Tee anbieten.
Du kannst genau feststellen, wann er weghört.
Du kannst ihn mit Gerüchten fesseln.
Du kannst ihn nach Lissabon verpflanzen.
Du kannst mit ihm aufs Dach steigen
und dir erzählen lassen, was er alles nicht sieht,
von Unglück z. B. möchte er wenig wissen, aber soviel, wie ihm zur Änderung erforderlich scheint,
obwohl er ja nichts ändert, erstens allein
und zweitens im Kopf. Deshalb kannst du ihm
wenigstens deinen Kopf entgegenhalten.
Du kannst ihn davonjagen, ihn ganz langsam auf dich
zukommen und fallen lassen mit fallenden Haaren.
Du kannst ihn schlafen lassen und dir Geschichten erzählen lassen wie diese:
Ich leih dir meinen Kopf für diesen Nachmittag.“

Lieber Christian, Du bist nicht einsam und verlassen, dort, wo Du in einigen Minuten hingerätst. Die Protagonisten Deiner Bücher, jene Schwestern und Brüder, die Du Dir und uns erfunden hast, Deine Frau, Deine Kinder, Deine Geschwister, auch Deine Mutter und wir alle – hier und anderswo – werden Dich besuchen kommen: an Deinem Grab, in Gedanken und immer mal wieder Deine Werke lesend, so lange, bis wir Dir auf die Art Gesellschaft leisten, gegen die Du zuletzt eben doch wehrlos warst. Du hast ihn klar beschrieben, jenen Augenblick, der für uns, die vorläufig und in mancherlei Hinsicht „Zurückgebliebenen“, keinen Trost bereithält:

„Das ist der Moment, in dem du dich aufgibst, deinen Körper aufgibst, du kannst nicht mehr, du weißt, du wirst nicht durchhalten bis zum nächsten Ufer, du merkst selbst, dass du nun aufgibst, deinen Körper aufgibst und loslässt, der dir wegkippt, abwärts, seitwärts oder aufwärts kippt.“

„Aufwärts“? Womöglich ist dies Wort, das vorletzte Wort dieses Satzes, ja doch ein wenig tröstlich.

Katja Lange-Müller
Juni 2022

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