Friedrich Christian Delius, FCD

Nachruf von Ijoma Mangold

Der große Stille


Wie das Ende einer Epoche: Friedrich Christian Delius hat mit seiner Literatur die Zeitläufte gespiegelt

Es ist eine emblematische Szene, und er selbst, Friedrich Christian Delius, hat sie immer wieder erzählt: wie er als junger Mann auf der berühmten Tagung der Gruppe 47 in Princeton ein Gedicht vortragen sollte, von dem er überzeugt war, dass es ihm misslungen war. Schon zweimal hatte der junge Delius auf dem “elektrischer Stuhl” genannten Vorleseplatz gesessen und sich wacker geschlagen. Aber diesmal wollte er lieber nicht. Da trat ein junger Mann mit unverschämtem Selbstbewusstsein auf, es war Peter Handke, und er würde der versammelten deutschen Gegenwartsliteratur “Beschreibungsimpotenz” vorwerfen. Von diesem Moment an ging es nur noch um Handke, er stahl Delius die Show – wofür dieser ihm ganz dankbar war.

Diese Episode erzählt dreierlei über Delius. Erstens: Er ist immer dabei gewesen. Zweitens: Er war stets einer der Leisen im Umkreis der Lauten. Und drittens nutzte er diese beiden Umstände, um zu einem diskreten und deshalb psychologisch für alle Zwischentöne besonders empfänglichen Chronisten der Ereignisse zu werden. Tatsächlich lässt sich die Geschichte Deutschlands von den letzten Kriegsjahren bis in die Gegenwart anhand seiner Bücher rekonstruieren: Er schrieb über den Kaufhauskönig Horten und über die Lebenslügen des Wirtschaftswunders, er wurde berühmt mit seiner Trilogie über den Deutschen Herbst (in der er dem Milieu der RAF-Sympathisanten kein gutes Zeugnis ausstellt). Mit Die Birnen von Ribbeck schrieb er 1991 den ersten deutschen Wenderoman – und musste sich vorhalten lassen, als Westdeutscher einen ostdeutschen Stoff aufgegriffen zu haben. Und zuletzt nahm er mit dem Roman Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich die neue aufstrebende Weltmacht in den Blick. Sein Hunger nach Zeitgenossenschaft war elementar.

Wer selbst laut ist, bekommt meist weniger mit, die Leisen hören einfach mehr. Aus dieser Gabe der distanzierten, fein auflösenden Beobachtung hat Friedrich Christian Delius ein eindrucksvolles erzählerisch-essayistisches Werk geschaffen, für das ihm 2011 zu Recht der Büchnerpreis verliehen worden ist.

Das Leise und das Laute spielen aber auch in anderer Hinsicht eine Rolle in seinem Leben. Er wuchs auf in der oberhessischen Provinz, umgeben von Altnazis, in einem Dorf, in dem sein Vater evangelischer Pfarrer und als solcher für den Sohn ein Mann der Sprache und der Macht war. Das muss auf den jungen Delius so verunsichernd gewirkt haben, dass er zum Stotterer wurde. Als verweigere er sich – eine Art Oskar-Matzerath-Reflex – durch das Stottern einer Sprache, die er als Komplizin der Macht empfand. Erst indem er für sich selbst eine andere, eine literarische Sprache schuf, gewann er jenes Selbstbewusstsein im Umgang mit Worten, das dann auch das Stottern zu überwinden half.

Vieles an Delius war generationentypisch – so sein ambivalentes Verhältnis zum Vater. Aber anders als seine Generationsgenossen war er immer mehr ein Mann der dialektischen Kontinuitäten als der revolutionären Brüche. Mit Blick auf den Vater räumte er im Rückblick ein, dass es das “kräftige Lutherdeutsch” und “die Schlagkraft der Choräle” gewesen seien, die sein Sprachempfinden geschult und seine Empfindlichkeit gegen “Phrasen und Hohlheit” geschärft hätten. Die väterliche Autorität verkörperte eben sowohl die Sprache der Macht als auch die Macht der Sprache.

Im “roten Jahrzehnt” (Gerd Koenen) war Delius mitten dabei in Berlin. Er wurde zu einem der eindringlichsten Chronisten der 68er, aber auch hier war es seine Ehre, für die leisen, genauen Töne einzustehen. Dem radical chic, mit dem seine Generationsgenossen kokettierten, misstraute er. Als mit Blick auf die RAF-Inhaftierten unbedingte Gefolgschaft verlangt wurde, verließ Delius den Wagenbach Verlag, wo er in den Siebzigerjahren als Lektor gearbeitet hatte, und gründete mit anderen den kollektiv geführten Rotbuch Verlag, der trotz seines Namens die drei M, Moskautreue, Maoismus und Meinhof, mied und sich zu einem Ort der literarischen Rebellion von Heiner Müller über Thomas Brasch bis zu Feridun Zaimoglu entwickelte.

In Als die Bücher noch geholfen haben schreibt Delius präzise-süffisant: “In größeren Gruppen, in Seminaren oder in der Nähe von bedeutenden, wichtigen Leuten sagte ich nichts, in kleinen Gruppen der Freunde wenig. Ich schwieg, und wie allen Schweigern war mir mein Schweigen peinlich. Während ich hinter der Stummheit nur meine Ängste und Dummheiten sah, wollten andere darin eine eigenwillige Klugheit und Überlegenheit entdecken, ich ließ sie in diesem Irrglauben, musste aber hin und wieder Texte vorlegen, die diese schmeichelhafte Meinung nährten.” Über ein langes Leben hinweg ist ihm dies immer wieder auf eindringliche Art gelungen. Am Montag ist Friedrich Christian Delius im Alter von 79 Jahren gestorben. Von ihm nehmen wir Abschied wie von einer ganzen Epoche.

Ijoma Mangold, Zeit Online, 01.06.2022

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