Friedrich Christian Delius, FCD

Martina Kumlehn

Martina Kumlehn

Das bleibend Fragmentarische

Laudatio anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät Rostock an Dr. Friedrich Christian Delius am 24.10.2019

Magnifizenz, Spektabiles, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studierende, sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Frau Bongaerts und vor allem sehr geehrter Herr Dr. Delius,

„[D]ie Glocken schlugen mich wach, zerhackten die Traumbilder, prügelten auf beide Trommelfelle, hämmerten durch den Kopf und droschen den Körper, der sich wehrlos zur Wand drehte.“ (Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde)

„Für einige Augenblicke gelang es, nichts als Harmonien zu hören und im Schwung der Glocken oben zu bleiben, ich flog mit dem Glockenklang dahin, unter mir lag die Straßenkreuzung mit dem dreistöckigen Gasthaus, […] Ich lebte auf in dem erhebenden Gefühl, alles zu sehen, ohne gesehen zu werden, und konnte für kurze Zeit dem strengen, rhythmischen Ruf der Schläge noch die Aufforderung ablauschen, alles gut sein zu lassen, den Lärm der Glocken und die donnernde Macht, die von oben kam, wie ein schützendes, väterliches Streicheln hinzunehmen.“ (Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde)

Mit diesem Bild der ambivalenten Wirkmacht der Glocken und ihrer hin und her schwingenden Deutung zwischen Überwältigung und Erhebung des Ichs, zwischen Ohnmacht und Ermächtigung, zwischen Bedrohung und Schutz beginnt die autobiographisch grundierte Erzählung von Friedrich Christian Delius „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“.
Dieser Doppelklang der Glocken kann zugleich als Leitmotiv verstanden werden, das sich in unterschiedlichen Perspektiven auf das Werk von Friedrich Christian Delius beziehen lässt. In seinen Erzählungen verbindet sich eine sensible Wahrnehmung der Welt mit der Erzeugung intensiver Atmosphären durch starke Bilder, einen poetisch oder auch aphoristisch pointierten Ausdruck, durch Wortschöpfungen sowie Satire, Ironie und Humor in unterschiedlichen Schattierungen, insbesondere jedoch durch Formen des inneren Monologs. Die Figuren, die in diesen Atmosphären agieren, erleben sie jedoch niemals eindeutig. Vielmehr werden Deutungsräume zwischen Polen aufgespannt, wobei sich das Wesentliche im Hin- und Herschwingen oder im Dazwischen abspielt, z.B. zwischen Fernweh und Heimweh in „DerSpaziergang von Rostock nach Syrakus“, zwischen innerem Widerstand und Ergebung in „Mogadischu Fensterplatz“, zwischen der „Wortmacht des Vaters und dem Trauerschweigen der Mutter“ in „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“.
Friedrich Christian Delius will den Prozess betonen, in „dem sich die Wörter bewegen und bewegt werden“ (Die Verlockungen der Wörter), es geht um das ständige „Widerspiel zwischen Ordnung und Zweifel, zwischen Chaos und Form“. Kunst solle als Ort „nichtlinearer Wahrnehmung“ Widersprüche nicht zudecken, sondern eher zuspitzen und provozieren wie es in seinen poetologischen Erwägungen heißt. Eine solche Inszenierung von Gegensätzen und Widersprüchen verbindet sich mit einer durchgängigen Aversion gegen alles Totalitäre, gegen jede Form von Ideologie, gleichgültig ob sie sich in religiösen Dogmen, in Institutionen, in der Wirtschaft oder eben im politischen Raum zeigt. Ideologiekritik verbindet sich dabei mit einem Ethos der Aufklärung und keineswegs paradox mit eigenem politischen Engagement. Das gilt insbesondere auch für die frühen Dokumentarsatiren: Zuerst für „Unsere Siemens-Welt“, die im Modus einer satirischen Festschrift u.a. die nationalsozialistischen Verstrickungen des Konzerns aufdeckt, oder die verfremdende Collage von Zitaten aus der Führungsriege der Wirtschaft in „Wir Unternehmer“, die deren floskel- und phrasenhafte Sprache decouvriert. Früh ist Delius klar, dass Macht auf Sinndeutung und Sprache angewiesen ist, wenn sie sich behaupten will, und so geht er der Sprache der Macht nach, deckt ihre Strategien auf, indem er die eigene Sprachmächtigkeit nutzt. Dass eine solche selbst deutungsmächtige Aufdeckung von Deutungsmachtansprüchen wie zu allen Zeiten riskant war, haben die Prozesse der Siemens-AG und Helmut Hortens gegen die Satire, die im Sinne eines Kampfes von David gegen Goliath sehr belastend waren, gezeigt. Schließlich kam es zu einem Vergleich mit Siemens und zu einem Sieg gegen Horten beim Bundesgerichtshof.
Biographisch hat sich Friedrich Christian Delius von der hessischen Provinz 1963 ins „Zentrum der deutschen Widersprüche“, nach Berlin zum Studium der Literaturwissenschaft begeben. 1965 erscheint sein erster Gedichtband „Kerbholz“ und er nimmt seit 1964 viermal in Folge an Treffen der Gruppe 47 teil, die er im Spannungsfeld von faszinosum et tremendum erlebt. 1970 mitten im Sog der Studentenunruhen und Umbrüche von 1968 promoviert er bei Walter Höllerer mit der Arbeit, „Der Held und sein Wetter“, die ideologiekritisch die Wettermetaphorik im bürgerlichen Roman untersucht. In seiner Zeit als Lektor beim Verlag Klaus Wagenbach und beim Rotbuch-Verlag von 1970 bis 1978 kommt es zu einer neuen Bewegung des Hin- und Herschwingens zwischen Lebens- und Deutungswelten, indem Delius über 100 Besuche in Ostberlin unternimmt. Diese Übergänge, die er auch als „MauerUnterwanderungen“ bezeichnet, gelten dem Kontakt mit Schriftstellern aus der DDR wie z.B. Günter Kunert, Karl Mickel, Wolf Biermann, Heiner Müller und Thomas Brasch – unter hohem Einsatz für beide. Es wurden Manuskripte unter dem Hemd geschmuggelt, Veröffentlichungsmöglichkeiten bei lauter Radiomusik gegen die Wanzen in Ost und West abgewogen, einmal auch Reifen für Günter Kunert gebracht, allerdings von der Stasi beschlagnahmt. Immer noch eindrücklich beschreibt Delius die Atmosphäre des Wartens bei der Grenzkontrolle in seinem Werk „Als die Bücher noch geholfen haben“: „An diesem öden Ort, dachte ich oft, bleibt dir nur eins, meditieren. Entspannen, tief einatmen, entspannen, woher, wohin, entspannen, Abstand fühlen, tief ausatmen, die Wünsche farbig durchs Hirn wehen lassen. Oder, wenn das nicht gut gelang, beobachten. […] So verschieden die Nuancen schweigender Mienen und verkrampfter Körperhaltungen waren, alle duckten sich vor der fremden Macht wie Untertanen. Auch ich, der doch antiautoritär sein wollte. Hier kuschten wir gemeinsam […]“.
Der Fall der Mauer war dann auch für die Künstlerbiographie ein dramatischer Einschnitt, denn sie hat Friedrich Christian Delius eine ganz neue Form der Erinnerungskultur ermöglicht. In diesem Sinne hat er sich als „Einheitsgewinnler“ bezeichnet. Denn der Fall der Mauer hat auch die eigene Herkunft wieder ins Bewusstsein geholt und in mehrfacher Hinsicht neu zugänglich gemacht. Erst jetzt konnte die eigene Familiengeschichte auf verschiedenen Ebenen immer wieder im Schreiben vergegenwärtigt werden. Damit entstand eine neue Zuwendung zu der Teilheimat Mecklenburg, in der die Familie mütterlicherseits verwurzelt war und wo er mit der Mutter von Mai 1943 bis 1944 in Bad Doberan gelebt hat. Die Fiktion Mecklenburg wurde Realität, weil das Reisen nach Rostock und Bad Doberan die Anerkennung mütterlicher Erbschaften und Erblasten ermöglichten, so Delius. Und die Realität Mecklenburgs wurde zugleich wieder fiktionalisiert und zum eigenen Erzählgegenstand und zwar sowohl in den biographischen Erzählungen als auch in „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“. Die ambivalenten Erfahrungen der Wiedervereinigung selbst hat Delius mit einem zugleich kritischen Blick auf die Deutungsmachtansprüche derer, die meinten, sich als Sieger fühlen zu können, aus der Perspektive eines Traktoristen in „Die Birnen von Ribbeck“ erzählt. Und auch in seinem neusten Werk „Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich“ werden beim fiktiven Wandern über die Kreidefelsen Visionen neuer Formen der Enteignung im Kontext der Fragen nach Wirtschaftsmacht und drohendem Zerfall Europas entfaltet.
Im Weiteren lege ich jetzt jedoch vor allem eine Auswahl derjenigen Erzählungen und Romane seit 1989 zugrunde, die das Gespräch mit der Theologie in besonderer Weise anregen und herausfordern, weil sie auch die dritte Perspektive des Glockenmotivs explizit aufnehmen,nämlich die massiven Ambivalenzen des Erlebens von Religion als Identitätsmarker einerseits und Identitätsblockade andererseits sowie die aus diesen widersprüchlichen Erfahrungen erwachsenen religionskritischen Anfragen. Wir nähern uns diesem Zusammenhang im Werk einerseits vor dem Hintergrund unseres Instituts für Text und Kultur, das in besonderer Weise einen Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theologie und anderen Textkulturen sucht und – wie jetzt bereits mehrfach angeklungen ist – im Rahmen unseres DFG-Graduiertenkollegs „Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten“, in dem wir kritisch die Genese von Geltungsansprüchen reflektieren und die Strategien analysieren, mit denen religiöse und weltanschauliche Deutungen Wirkmacht zu erlangen suchen. Für diese Fragestellungen bietet das Werk von Delius auf unterschiedlichen Ebenen sehr interessante Anschlussstellen: Denn auf der Ebene des Erzählten werden Wechselverhältnisse von Er- und Entmächtigung sowie vielfältige Formen von symbolisch vermittelter Akteursmacht sowie relationaler und institutioneller Macht im Bereich von Gesellschaft, Politik und Religion zum Thema und damit die Frage: Wer hat die Macht zur Deutung? Auf der Ebene des Erzählers wird jedoch zugleich in Form der überraschenden Perspektivenwechsel und des Ausschöpfens der eigenen Sprachmächtigkeit auf die mögliche Wirkmacht von Um- und Gegendeutungen gesetzt, die ihre eigenen Geltungsansprüche entfalten.
Wir ehren jedoch nicht nur den mecklenburgaffinen ideologie- und religionskritischen Literaten, der den wachen Blick auf die Gegenwartskultur schärft und darin auch die religionshermeneutische Reflexion herausfordert, sondern zugleich den Schriftsteller, der konstruktiv vorführt, wie Leben im Erzählen gewürdigt werden kann und der leitmotivisch immer wieder an der Frage arbeitet, was es bedeutet, eine eigene Stimme und eine eigene Sprache jenseits aller Floskeln und Denkverbote zu gewinnen. Dieser Versuch, eine eigene Sprache zu generieren, gerade auch in dem Kontext einer weitgehenden konfessionellen Ungebundenheit, prägt viele unserer Anliegen in Forschung und Lehre. D.h. das, worum es uns im Letzten geht, mag aus dem folgenden Zitat des zu Ehrenden deutlich werden: „Wenn sie mich zum Beispiel bei Feierlichkeiten, gerade bei akademischen, verhalten oder gar lächeln sehen, dann denke ich vielleicht daran, daß wir zu 98,6 Prozent Schimpansen sind, 1,4 Prozent Mensch, und was für ein unendlicher Raum der Freiheit, der Sprache und der Möglichkeiten.“ (Selbstporträt mit Schimpansen). Genau für dieses permanente Ringen um den Raum der Freiheit, der Sprache und der Möglichkeiten durch das gesamte Werk hindurch verleihen wir Friedrich Christian Delius die Ehrendoktorwürde und knüpfen damit nicht nur an zahlreiche Preise und Auszeichnungen an, die ihm schon zu Teil wurden, wie z.B. an den renommierten Georg-Büchner-Preis 2011, und an den Evangelischen Buchpreis 2009, sondern wir setzen damit auch einen Akzent in unserem Forschungsbereich, der nach dem Verhältnis von Theologie und Literatur fragt. Dabei geht es uns gerade nicht um die Suche nach Illustration und Bestätigung des Eigenen im Anderen, sondern es geht um die produktive Irritation der Weltwahrnehmung, um das Infragestellen unserer Begrifflichkeiten, um die Erweiterung des eigenen Blicks auf die Wirklichkeit, um sich dann auch in der eigenen Sprachbildung anregen zu lassen. Dieser Spur folge ich jetzt in der gebotenen Kürze und damit hochselektiv in wenigen Verdichtungen der Würdigung des Werkes von Friedrich Christian Delius in theologischer Perspektive noch etwas genauer:

I. Fiktionale Rekonstruktion von Lebensgeschichten – Rechtfertigung von Lebensgeschichten

Der Aufbau narrativer Identität in fiktionaler Brechung der eigenen Familiengeschichte erfolgt besonders eindrücklich in dem Roman „Die Liebesgeschichtenerzählerin“. In ihr beschließt die Protagonistin drei Liebesgeschichten der ferneren und gegenwärtigen Familiengeschichte zu erzählen, die im Wandel der Zeiten doch eine sich nach und nach zeigende innere Verbindung aufweisen. Sie erzählt dabei so, dass deutlich wird, wie wir alle immer schon in Geschichten verstrickt sind und sich die eigene Identität im Horizont dieser Geschichten aufbaut. Tabus und Verdrängtes, wie z.B. die verschwiegene Abschiebung der Großmutter in die Psychiatrie nach Gehlsdorf oder der Umgang mit den Schulderfahrungen im Krieg, drängen ans Licht. Die individuellen und kollektiven Erfahrungen von Niederlagen werden als das eigentlich Spannende wahrgenommen und zum Motor des Erzählens. Zugleich geht es um die Marginalisierten, die eine Stimme bekommen sollen, denn die „herrlichen Möglichkeiten der Literatur“ sind für diejenigen zu nutzen, „die im Dunkeln stehen“.
Im biographischen Erzählen geht es um die Frage, wo das Ich beginnt. Das unlösbare Rätsel der eigenen Existenz, das Undefinierbare drängen in die Deutung. Die Erzählerin im Roman weiß, dass „kein Leben geordnet, jede Biographie eine Konstruktion ist und kein Lebenslauf in eine gerade Reihe zu bringen oder nur dann, wenn man das Schwierige, das Intime, die Umwege, die Ausflüchte, das Kreiseln, die Verzweiflungen und geheimeren Nöte weglässt oder verkürzt.“ Friedrich Christian Delius legt alles biographische Erzählen durch die Erzählstimmen hindurch entsprechend als eine Würdigung des bleibend Fragmentarischen, des Ambivalenten, der Gebrochenheit auch angesichts des Wahrnehmens von Schuld und Versagen im Leben an.Dabei zwingt freilich das Freilegen der biographischen Schichten auch zu Formen des Neu- und Anderssehens, zu Umdeutungen und Revisionen. Im Raum des Fiktionalen erfolgen Möglichkeitsschübe, die an Ordnungssysteme rühren, Grenzen verschieben, Perspektivenwechsel inszenieren und damit das Vertraute in ein irritierendes neues Licht rücken. In diesem Sinne entfalten die Deutung selbst eine modale Macht, die etwas Neues ermöglicht. Dabei wird jedoch das Geheimnis jeder Person, das, was der Deutung immer auch entzogen bleibt, gewahrt. Letztlich entsteht so eine eigene Form der Rechtfertigung von Lebensgeschichten jenseits des Besserwissens, ein bei aller Klarheit schließlich gnädiger Blick, der Beziehungen neu bestimmt und eröffnet.
Für die literarische Arbeit von Friedrich Christian Delius ist dabei das Verhältnis von Realität und Fiktionalität besonders markant hervorzuheben. Angesichts dessen, was erzähltheoretisch zu dem Verhältnis differenziert zu sagen wäre, sei hier nur darauf verwiesen, dass Delius in all seinen Arbeiten sehr dicht an die Wirklichkeit herangeht. Er schreibt in dem Bemühen, „möglichst viel von dem, was meine, was unsere Welt ist, zu erfassen und dabei selbstverständlich gesellschaftliche und politische Fundamente, auf denen sich die Subjekte wie schwankend auch immer bewegen“, nicht zu vergessen (Die Verlockungen der Wörter). Dazu greift er nicht nur auf die eigene Familiengeschichte zurück, sondern auf vielfältig Erlebtes, z.B. auf die ihm von dem Betroffenen selbst erzählte wahre Geschichte des Grenzdurchbruchs über die Ostsee, die er dann in „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“ verarbeitet. Allerdings entsteht im Schreiben immer etwas Neues und die Leserinnen und Leser sind von daher gut beraten, sich nicht an die Frage zu verlieren: War es so? Denn in der Darstellung werden die Möglichkeiten des Fiktionalen dann eben durchaus ausgeschöpft, die ja nicht nur den Raum des freien Erfindens bestimmen, sondern auch dazu beitragen, das Gefundene zu verdichten, zuzuspitzen, anzureichern, zu verfremden und zu irritieren und so dafür zu sorgen, dass wir nicht ein Abbild der Wirklichkeit bekommen, sondern ein neues Bild der Wirklichkeit mit einem eigenen Wahrheitsanspruch, der uns gerade in der subjektiven imaginierten Sicht etwas neu sehen lässt.
Eine solche fiktional angereicherte Weise, auf Lebensgeschichten zu blicken und sie in ihrer Gebrochenheit in der Deutung nach vorne hin offen zu halten, findet z.B. eine starke Resonanz in einer Theologie, die den Begriff des Fragmentarischen und Vorläufigen in aller Identitätsbildung betont, die selbst eine Kunst des Perspektivenwechsels intendiert und gesellschaftlich Marginalisiertem Stimme verleiht. Zudem kann eine solche literarische, vorsichtig tastende Deutung von Lebensgeschichten, die einen kritischen mit einem wertschätzenden Blick ohne vorschnelle Wertung verbindet, auch eine sensibilisierende Seh-und Leseschule für diejenigen sein, die im Bereich religiöser Kultur und Praxis in Seelsorge, Kasualien und Bildungsprozessen Biographiebegleitung anbieten und dabei auf das Potential sinnstiftender narrativer Rekonstruktion durch die Erfahrungen von Sinnabbrüchen hindurch zurückgreifen. Wenn Lebensgeschichten dann in Auslegungsprozessen deutend mit biblischen Traditionen verschränkt werden, wie z.B. in Kasualansprachen, geht es nicht zuletzt um ein auch theologisch relevantes Verstehen des Ineinanderverwobenseins von Fiktionalität und Wirklichkeitserschließung. Denn die biblischen Traditionen sind selbst zu einem großen Teil narrativ verfasst und erzählen durch die fiktionalen, imaginativen Verdichtungen hindurch wirklichkeitsgesättigt und existenzerhellend von den menschlichen Erfahrungen mit dem Unverfügbaren, dem Unbedingten, mit Gott. Biblische Erzählwelten können wie andere literarische Texte im Anschluss an Paul Ricoeur als spezifische Möglichkeitsräume, als Laboratorien der Existenz, in die hinein Menschen ihr Leben entwerfen können, aufgefasst werden. Erzähltheorien verschiedensten Zuschnitts finden von daher in der Theologie inzwischen ihren festen Ort. Im Spiegel einer Erzählweise und Erzählhaltung, wie sie bei Delius zu finden ist, kann auch in theologischer Perspektive über das Verhältnis von Wirklichkeit, Fiktion und Wahrheit nachgedacht werden.

II. Literarische Verarbeitung religiöser Sozialisation in Deutungsmachtkonflikten

Religion spielt im Ringen um die eigene Identität im späten biographisch grundierten Werk von Delius eine zentrale Rolle und zwar, wie bereits durch das Glockenmotiv angedeutet, eine höchst ambivalente. Am Beispiel des Großvaters und der Mutter sowie anhand des eigenen Erlebens im Pfarrhaus werden bestimmte zugleich individuelle und exemplarische identitätsstiftende und identitätsbedrohende Modelle religiöser Sozialisation im fiktionalen Raum zur Sprache gebracht. Es geht von daher im Folgenden nicht um eine religionssoziologische Perspektive mit objektivem Geltungsanspruch, es geht auch nicht um die Frage, ob in dieser Perspektive alles über Religion gesagt wird, was zu sagen wäre, sondern es geht um die Verdichtung von subjektiv erlebten und erlittenen Erfahrungen im Raum religiöser Weltdeutung, die auch dann etwas in einer Schärfe und Denkwürdigkeit sehen lassen, wenn das Geschilderte sich kaum noch mit unseren Wahrnehmungen von Religion in der Lebenswelt deckt, wobei es freilich religiöse Milieus gibt, die nach wie vor ähnliche Strukturen aufweisen können.
Mit Blick auf den Großvater wird in der Erzählung „Die Liebesgeschichtenerzählerin“ eine Saulus-Paulus-Geschichte erzählt, auch wenn dieser Vergleich nicht ganz aufgeht: Schon in derKindheit durch den Verlust von Vater und Mutter traumatisiert und zum Gefühlsverweigerer geworden, der alle Tränen bei sich und anderen mit dem immer wiederholten Motto „Schlucks runter“ abwehrt, kehrt der U-Boot Kapitän mit allen verdrängten Schuldgefühlen aus dem Krieg heim. Durch die katastrophale Niederlage und die Novemberrevolution ist er jedoch aller bisherigen Sicherheiten und Ordnungssysteme der eigenen Existenz beraubt. Er reagiert mit psychosomatischen schweren Lähmungserscheinungen und wird nach Gehlsdorf gebracht, wo man ihm kaum eine Chance gibt. Aber langsam setzt die Genesung ein, die durch eine verstärkte Frömmigkeitskultur, durch Beten und Bibelstunden, begleitet wird und dann durch Kontakt mit einem Erweckungsprediger in einem Bekehrungserlebnis gipfelt und den ehemaligen Kapitän schließlich Volksmissionar bei der Wichernvereinigung werden lässt. Der Wandel wird mit drastischer Wortwahl erzählt: der Großvater wird zum „Handelsvertreter für Jesus“, tauscht den Kaisergehorsam gegen Gottesgehorsam, wechselt „von der wilhelminischen Rüstung in die protestantische, in die pietistische Rüstung, von Frömmigkeit zu Frömmigkeit“, es ist von einer „Panzerung mit Bibelsätzen und Luthersprüchen“ die Rede (Die Liebesgeschichenerzählerin). Allerdings wird auch von dem protestantischen Trotz erzählt, der ihm Widerstandskraft gegenüber dem Nationalsozialismus und seiner Menschenverachtung ermöglicht hat und ihn zum Mitglied der Bekennenden Kirche werden ließ (wie Martin Niemöller, der mit ihm auf dem U-Boot fuhr) und ihm fortan auch tatsächlich Halt in den Bedrängnissen des Zweiten Weltkrieges geboten hat; allerdings um den Preis, dass das geschlossene System, die „Schutzweste des Glaubens“ keine echte Trauerarbeit mehr ermöglicht hat. Es wird vom Austausch zweier Deutungssysteme erzählt, die durch ihre innere autoritative Struktur und Ordnungsfunktion miteinander verbunden sind. Es wird veranschaulicht, was es heißt, wenn durch die Flucht in ein geschlossenes System die individuellen Bedürfnisse und die eigenen Zweifel stillgestellt werden, die dann auch den Anderen mit seinen individuellen Fragen und Anliegen nicht mehr wahrnehmen lässt.
In dem Roman „Bildnis der Mutter als junge Frau“ begleiten wir die Mutter 1943 in Rom auf einem Spaziergang, der als Gedankengang in einem Satz erzählt wird. Die Mutter hat mit 21 Jahren zum ersten Mal Deutschland verlassen, um ihren Mann, der als Prediger an der Evangelischen Kirche in Rom in der Via Sicilia arbeitet, zu treffen. Dieser wird jedoch nach nur einem Tag nach Afrika abgeordnet und sie bleibt allein hochschwanger im besetzten Italien zurück. Schmerzlich vermisst sie ausdrücklich die Deutungskompetenz, ja die in bestimmter Weise gebildete Deutungsmacht ihres Mannes, der sie sich auch sonst ganz ausliefert und unterordnet. Durch seine Brille wollte sie Rom wahrnehmen und kennenlernen. Jetzt fühlt sie sich in dem Feld konkurrierender Deutungshorizonte und -ansprüche, die ihr am fremden Ortbewusstwerden, verlassen und überfordert. In ihrer Unsicherheit führt sie gegen das Fremde und sie Befremdende, gegen die Pracht Roms und die Verehrung des Papstes ihre protestantische Identität ins Feld, die im Sinne der Selbstvergewisserung nicht ohne Selbstgerechtigkeit auskommt: „Ein Glück, dass wir Martin Luther hatten“. Es gefiel ihr, „mit der Wartburg vor Augen durch die Hauptstadt der Katholiken zu spazieren“. Aber diese zur Selbstberuhigung aufgerufene Identitätsvergewisserung bekommt Risse und es drängen sich Fragen auf: Wie sind Krieg und Gottes Wille zusammenzudenken? Wie Gott und Führerkult? Wie verhalten sich heidnische und christliche Symbole zueinander, wie das Wappentier des römischen Adlers zum deutschen? Was zeigt sich (die alte Pracht), was ist verdeckt (z.B. die Armut)? Was darf man denken, was nicht? Was darf man sagen, was nicht? Die angerissenen Deutungsmachtkonflikte im Kultur- und Religionskontakt werden jedoch im Grunde nur schwach bewusst und sofort wieder verdrängt. Aus Angst setzt die Mutter bleibend auf die Deutungsmacht und Überlegenheit der eigenen Kultur, insbesondere der eigenen Religionskultur und übernimmt damit auch das quietistische, das eigene Denken stillstellende Erbe. Allerdings werden anders als beim Großvater – vielleicht auch durch den liebenden Blick des Erzählers – jenseits des Panzers auch andere Formen einer individuell angeeigneten Religion sichtbar: Die Mutter lebt mit den sie tröstenden biblischen Bezügen, die ihr helfen die starken inneren Konflikte zu ertragen. Als besonders wirkmächtig wird dabei die tröstende Kraft der Musik beschrieben, in der die Gefühle ausagiert werden können, die sonst unterdrückt werden.
In der Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ findet sich in dem imaginativ im Rückblick sprachlich verdichteten Erleben des 11jährigen Pfarrersohnes, der die Geschichte des Autors reflektiert, die ganze Wucht einer bürgerlichen protestantischen Frömmigkeitskultur, die stark ritualisiert, biblisch ausgerichtet und an Gehorsam und Gewissen orientiert ist, und dabei zugleich eine hohe Prägekraft mit Blick auf die Sprache und Alltagskultur entwickelt, die auch als Schutzraum und sicherer Rückzugsraum erfahren wird. Das Werk steht durchaus in eigenwilliger Form doppelt gebrochen in der Tradition der Reflexion der Prägekraft protestantischer Pfarrhäuser, wie sie z.B. von Albrecht Schöne wegweisend schon 1958 in der Arbeit „Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrerssöhne“ initiiert worden ist und seitdem in einer Legion von kultur- und sozialgeschichtlich ausgerichteten Studien zur Pfarrhauskultur weitergeführt worden ist.
Diese Erzählung ist trotz der knappen Form in ihrer Verdichtung und ihrem Beziehungsreichtum ein literarisches Kunstwerk. Die Zeitstruktur, das Spiel mit der Raum- und Ortsymbolik, die Ebenen des Bildungs- und Emanzipationsromans, der psychologischenEntwicklung und der Sprachentdeckung, die Überblendung des protestantischen Milieus dieser Spielart mit den Spezifika der Adenauerära und den Problemen der Verdrängung der Schuldgeschichten unter den Nationalsozialisten, die Symbolik von Drinnen und Draußen, all als bräuchte den genauen Blick (vgl. Sanna, Vieregg, Schlüter, Conrad), der hier nicht möglich ist. Nur der religiöse Grundkonflikt ist aufzurufen, in dessen Darstellung die Machtthematik so intensiv auch auf der Sprachebene eingewoben ist wie an wenigen anderen Stellen im Werk. Es ist eine Vater-Sohn-Geschichte und die Wahrnehmung des Vaters geschieht in der Perspektive einer erlebten und zugeschriebenen Überblendung mit Allmachts- und Gottesattributen. Es geht um das Erleben des „Vater-Käfigs“ und die Versuche des Sohnes, diesem Käfig zu entkommen. Der Vater beherrscht den Raum der Kirche und der Kanzel, aber eben auch den Raum des Privaten und vor allem der Familienrituale, z.B. des Sonntagsmittagessens. Seine Strenge symbolisiert die geglaubte Strenge Gottes: „das Auge Gottes spiegelte sich in den Augen des Vaters, der Mutter, der Großeltern, ihre Augen flankierten und vervielfachten das Gottesauge, zu viele Augen sahen auf mich herab“. Wie in Tilman Mosers „Gottesvergiftung“ sickert dieses Gottesbild in die Kinderseele ein und verursacht Ohnmachtsgefühle im Gegenüber zu phantasierter Allmacht, die sich in einer Identifikation mit der biblischen Figur Isaak entladen: „Ich war Isaak, gefesselt ängstlich gebeugt gedrückt an den Vater Abraham, vom Vater mit der linken Hand festgehalten, […] Isaak konnte es nicht fassen: der Vater ersticht ihn, ich konnte es nicht fassen: was für ein Gott, der so etwas befiehlt, was für ein Vater, der ohne Widerworte einem solchen Befehl gehorcht […], der Engel kam zu spät, der Schmerz war nicht mehr zu stillen […], das Ungeheuerliche war, daß der Schrecken des Kindes keine Rolle spielte in der Geschichte und ich mit dem Schrecken allein blieb“.
Neben diesen Überblendungen steht der Vater jedoch vor allem für eine souveräne wortgewaltige Sprachmacht. Der Sohn schreibt den Worten des Vaters „Zauberkraft“ zu und fragt sich, „welche magischen Fähigkeiten seine Rede vorantrieben, aus der nun immer häufiger das eine einsilbige Wort Gott hervorstach, das Rätselwort, das Zentralwort, das Anfangswort und Punktwort Gott“. Diese Sprachmacht verschlägt dem Sohn die Sprache: „ich trug die Babelgeschichte mit mir herum, trug sie in mir aus, ich spürte den Turm in meinem Körper wachsen, […] ich wurde zerstreut in alle Welt, weil meine Wörter, Silben, Konsonanten und Gedanken nicht zusammenpaßten“. Aus der eigenen Sprachhölle, die aus der „Besatzungsmacht“ der Deutungen der Anderen resultiert, die die Luft zum Atmen und Sprechen nimmt, erwächst der unbändige Wunsch: „Laßt mich meinen eigenen Text sprechen“.

III. Eine eigene Sprache finden – auf der Suche nach dem befreienden und wahrhaftigen Wort

Der Sohn findet zum eigenen Wort und zur eigenen Sprache. Zuerst im Singen und dann vor allem in dem Befreiungsschlag, der ihm im Kontakt mit einer anderen, selbst religiös konnotierten Sprachwelt gelingt, nämlich mit der berühmten Radioübertragung des Endspiels von Bern. Er überlässt sich der Stimme von Herbert Zimmermann: „ich staunte, dass der Reporter das Wort glauben mit mehr Inbrunst als ein Pfarrer oder Religionslehrer aussprechen konnte“. Und in den Identifikationsprozessen mit dem Wunder-Geschehen auf dem Platz und dem ergreifenden Sprachgeschehen im Hören der Übertragung erwächst auch ein befreiendes Gefühl von Lust und Glück ohne Scham, ohne die schließlich auch keine Freude am Wort möglich ist. Diese entwickelt sich dann jedoch langsam und immer freier. Erste Gedichte entstehen noch während der Schulzeit. Das dabei dann durch die Negation hindurch der Kontakt mit der prägenden Sprachwelt des Eltern- und Pfarrhauses schließlich die Suche nach der eigenen Sprache weiter mitträgt, weiß der Schriftsteller (vgl. Die Zukunft der Schönheit), der sich in einem spezifischen Sinne deshalb auch als „Kulturprotestant“ bezeichnen kann.
So bekennt Delius später, ein „libidinöses Verhältnis zu den Wörtern zu suchen, in dem altmodischen Vertrauen auf eine wie immer begrenzte, minimale Wirkung von Literatur und Argument“ (Die Verlockungen der Wörter). Der Schriftsteller erkennt: „Das Potential der Wörter enthält das Potential der Wünsche“; „Das Potential der Wörter enthält das Potential Einfluß und Macht“, vor allem aber, das „Potential der Wörter enthält das Potential Wahrheit”. So wird auch die Macht des Fiktionalen sehr klar von der Lüge unterschieden: „Dichtung ist keine Lüge, ja das Gegenteil von Lüge. Die literarischen Wörter sind potentiell emotionale Nachrichten und Ort öffentlicher Wahrheit“. Für Delius ist es die Kunst, die die Sehnsucht wachhält „nach einer Schönheit, die nichts beschönigt, die den Dreck nicht verdrängt, nicht flieht vor dem Schrecklichen und Lügen nicht verkleistert“ (Die Zukunft der Schönheit). Ohne vereinnahmen zu wollen oder Unterschiede einzuebnen, möchte ich zum Schluss sagen: Es ist nach unserer Überzeugung auch die Aufgabe einer ästhetisch geschulten Theologie, sensible Wirklichkeitswahrnehmung mit der Suche nach dem wahrhaftigen, befreienden und im mehrdeutigen Sinne erlösenden Wort zu suchen. Eine solche Theologie kennt den Zweifel, der den Schriftsteller Delius umgetrieben hat, und stellt sich der Religionskritik ohne Denkverbote. Durch sie hindurch versucht sie auf ihre Weise, die Frage nach der Wahrheit offen zu halten, indem sie theoretisch reflektiert, wie sich Grund-, Grenz-und Transzendenzerfahrungen im Horizont der Gottesidee im Wandel der Zeiten wahrheitsbewusst auslegen lassen.

In diesem Sinne fühlt sich die Theologische Fakultät Rostock dem Werk von Friedrich Christian Delius, das die theologische Reflexion anregt und bereichert, sehr verbunden und verleiht ihm in Anerkennung dieses besonderen Potentials für eine kulturoffene Theologie die Ehrendoktorwürde.


Zur Vertiefung der Auslegung der Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“, bieten sich folgende in der Laudatio erwähnte Beiträge besonders an:

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