Friedrich Christian Delius, FCD

Mara Delius

Papa. Versuch über den Vater

Liebe Familie, liebe Freunde,

meine Schwester und ich wurden früher oft gefragt, wie es denn so sei, als „Schriftstellerkind“ aufzuwachsen. Und wir wussten nie eine richtige Antwort.
„Na, genau wie bei Euch“ stimmte nicht. „Er arbeitet zu Hause und schreibt den ganzen Tag“ aber auch nicht. „Ganz normal halt“ stimmte erst recht nicht und schien doch unter lauter falschen Antworten noch die richtigste.

Überhaupt, Schriftsteller. Die großen Namen der deutschen Literatur begegneten meiner Schwester und mir nicht als Schriftsteller, sondern eher wie vertraute Hausgeister, die unsere Kindheit in der Halberstädterstraße begleiteten.
Bloß nicht mit Kerzen in der Nähe vom Bett spielen – Ingeborg Bachmann, sagten die Eltern. Oder: Aufpassen in England mit dem Linksverkehr – denkt an den Brinkmann.
Walter Höllerer klang geheimnisvoll, dunkel nach Hölle, und doch wurde über ihn ausschließlich hell und freundlich gesprochen. Dieser Durs musste mit diesem Dorst verwandt sein. Und Günter Grass war der schnauzbärtige Mann mit zotteligem Hund, der unter einem Baum sitzend uns überzeugte, dass Kapern doch nicht so scheußlich waren wie wir bis dahin gedacht hatten.

Ein Schriftsteller? Nein, Papa war einfach einer, der Bücher schrieb.
Und wenn ich heute zurückdenke, hatten wir auch keine Schriftstellerkind-Kindheit. Wir hatten eine Kindheit in der Sprache.

An unserem Vater konnte man die Wunder der Schrift ablesen.
Er, der sonst eher leise sprach und nicht immer viel, verwandelte sich, wenn er vorlas.
Seine Worte schienen plötzlich aus seinem Herzen zu kommen, und er mit jedem von ihnen sicherer, ein anderer und gleichzeitig mehr er selbst zu werden. Sogar das frühere Stottern von dem noch eine Schwäche bei Wörtern mit Z oder W geblieben war, war nur noch wie ein angedeutetes Gewitter, das sich verzog noch bevor es sich entladen konnte.
Wenn Papa las, wurde seine Stimme sanft, kräftig und klar. Eine andere Welt tat sich auf, in die er uns Kinder mitnahm.

Wir hatten die Sprache als Abenteuerort und Versteck, nur für uns.
Es gab Wortgeheimnisse wie die „Flügelkröten, die still in ihren Beeten beten“ und den „Tisch, der auf den Mond steigt“; es gab erfundene Unsinnsbuchtitel, Anti-Hunde-Haikus und Pro-Katzen-Sonette, es gab Quatschgedichte und Spontangedichte.
Es war immer so: wir gaben ihm ein Wort und er reimte los, oft minutenlang und selten so ganz versschemagetreu. (Bsp.: Hirse/Thierse)

Was machst Du da, Papa, fragten wir lachend. Tja, er leide an Reimzwang und er könne nicht anders, antwortete er. Und wo kommt das her? Da, er deutete auf seinen Hinterkopf, an dem sich zu unserer Verwunderung tatsächlich eine leicht erhobene, huckelige Stelle befand.

*

Wo geht das jetzt alles hin?
Wo geht das jetzt alles hin, dachte ich, als er gerade gestorben war und Charlotte und ich an seinem Bett saßen.
Draußen vor dem Fenster des Krankenhauses öffnete sich ein weiter blauer Maiabend und wir beide strichen ein letztes Mal über diese leicht erhobene, huckelige Stelle.

Wo geht das jetzt alles hin? Ich habe eine Antwort gesucht, als lesende Tochter eines schreibenden Vaters: in den Büchern – in seinen Büchern. Zwischen den Seiten, die immer wieder von Sprechen und Schweigen, von Rückzug und glücklichem Hadern mit der Welt handeln. Ich las und las.
Aber je mehr ich las desto mehr trat mir, an meinem Schreibtisch in Paris, eine Geschichte entgegen, die jetzt seine letzte gewesen sein wird.

In den vergangenen Wochen hat unser Vater diese Geschichte wieder und wieder Charlotte erzählt, und sie ist ganz kurz:
Du und ich, wir fahren mit dem Zug nach Paris, erster Klasse, wir essen am Platz grüne Bohnen und ein Stück Fleisch während draußen die öde französische Landschaft vorbeizieht. Und wenn wir ankommen, warten Mara und Dalia auf uns. Mehr Details, mehr Plot gab es nicht. (Nur, dass es nicht karg zugehen sollte, nicht sparsam, war ihm – plötzlich ganz unprotestantisch – wichtig.)

Er wusste, dass er das alles nicht mehr schaffen würde und hat sie dennoch erzählt, diese Vater-Tochter-Utopie. So wie früher die für uns erfundenen Gutenachtgeschichten – nur dass er jetzt wohl auch sich selbst beruhigte, Mut machte vor der hereinbrechenden Nacht.

*

Das letzte Bild, das ich von ihm als aufrechtstehenden Mann habe, ist ein Bild des Abschieds:
Ich hatte ihn gerade besucht, war am Gehen und drehte mich, nachdem ich seine knochig gewordenen Schultern nicht ein, sondern zwei oder drei Mal umarmt hatte, nochmal zur Tür. Mein Vater war aufgestanden, zittrig stand er da, aber in Weste und Hosenträgern. Was machst Du da, Papa, bleib doch sitzen! Nein, so verabschiedet ein Preuße keine Dame.
Und er richtet sich auf, schaut mich aus einem Jungengesicht an und führt die Hand an die Schläfe, listig, zuversichtlich, liebevoll.

Vielleicht verbindet dieser Blick auch die Erwachsenenwelt von uns Töchtern heute mit der Kinderwelt von damals (die – mit der Trennung unserer Eltern – natürlich nicht immer nur eine heitere war).
In den letzten Jahren war sie aber: die des stolzen Vaters, Großvaters, eines Mannes, der erlöst schien, seine Töchter als die erkennen zu können als die er sie sich nicht einmal zu wünschen gewagt hatte, wie er sagte.

So erinnere ich mich, wie ich im vollbesetzten Axel-Springer-Journalistenclub eine Rede hielt und er fast platzte vor begeisterter Rührung – was den Springer-Skeptiker nicht davon abhielt, der versammelten Führungsriege inklusive Friede von seiner Tochter vorzuschwärmen (was dieser unsäglich peinlich war). Ja, richtig so, meinte er später mit listiger Freude, er sei mit „Enteignet Springer“ gescheitert; klüger sei wohl meine Taktik der intellektuellen Unterwanderung.
Ich erinnere mich, wie er sich glühend freute als seine Enkelin, meine Tochter, mit drei, vier sagte, sie sei nicht durstig oder hungrig, nein, sie sei „lesig“ und wolle etwas vorgelesen bekommen.

Und ich erinnere mich wie er vor überraschter Bewunderung leuchtete als Charlotte es schaffte, wieder einmal mit einem Grobian von Arzt so klar, beharrlich und bestimmt zu sprechen als sei sie die Oberärztin.
Du hast mich gerettet, sagte er da.

Eine Tochter weiß ihren Vater zu lesen.
Wir wussten, welche Tonalität eines Geräuspers welchen Aufregungspegel andeutet; in wie viele Rillen die Stirn sich kräuseln kann, nämlich sieben; welches offene, helle Gesicht einem „Doch, das war sehr gut!“ vorausgeht und welcher Takt des Kopfschüttelns stummes Missfallen meint.
Als Töchter wussten wir sogar, was das schweigende Gesicht des Vaters uns erzählt. Seinen Tod zu lesen, wissen wir noch nicht.

*

Als Beobachter ist er in den vielen schönen Nachrufen beschrieben worden – die Fülle hätte ihn begeistert, die Tatsachte, dass er – ausgerechnet – vor dem Wetter verabschiedet wurde, eingeleitet vom urdeutschen Satz „Und nun die Wettervorhersage“ – das hätte ihn belustigt.

Und auch ich erinnere meinen Vater als Beobachter.
Wir laufen durch London, meinen, seinen Norden der Stadt. Er trägt seine englische Filz-Kappe, wir gehen in Hampstead über den Platz und er zeigt auf eine Inschrift im grauen Boden, das ist es, was da steht, schau: „The living moment is everything“, D.H. Lawrence. Vorher hat er mir erzählt, wie er sich als junger Mann für das Alter ein tief faltiges Gesicht wie das von W.H. Auden gewünscht habe: vom Leben zerfurcht und trotzdem nicht alt. Dann, weiter oben in Hampstead, Parliament Hill, erzählt er, sein liebster Song der Beatles sei immer „Fool on the hill“ gewesen: “day after day alone on a hill, the man with the foolish grin is keeping perfectly still”.

*

Liebe Familie, liebe Freunde, Ihr kennt alle seine Antwort auf die Frage „Warum schreiben Sie?“ – „Weil ich ein schlechter Schwimmer bin.“
Mein Vater war tatsächlich ein schlechter, ängstlicher Schwimmer, der sich mit langem Hals eher mühevoll über Wasser hielt.
„Warum schreiben Sie? – Weil ich ein schlechter Schwimmer bin.“ Ich habe das immer als Eingeständnis einer Schwäche gelesen, schuldbeladenen Eskapismus, in jedem Fall eine kokette Schriftstellerantwort für einen Zeitungsfragebogen.

24 Stunden nach seinem Tod, am Abend des 31. Mai fanden Charlotte und ich ein unwahrscheinliches Bild, ein Foto, das wir, glaube ich, nie vorher gesehen hatten:
Unser Vater sitzt auf einem gelblich schimmernden italienischen Felsen, lachend der Sonne entgegen in die Kamera blinzelnd, die von unserer Mutter gehalten wird.
Der schlechte Schwimmer trägt – Schnorchel, Taucherbrille und Flossen; er ist kurz davor ins tiefe Meer zu steigen.

Uns Töchtern hat unser Vater keine Lehren, keine Sinnsprüche oder Weisheiten mitgegeben, das war nicht seine Art. Aber er schenkte uns diesen Blick auf die Welt mit dem er – in seiner Sprache – zu sagen schien:

Ich tue das was ich tue, auch wenn ich unsicher bin; und vielleicht, ja wahrscheinlich bin ich damit noch mutiger als die Mutigen.
Weil ich so bei mir bin.

Impressum