Friedrich Christian Delius, FCD

Peter Schneider

Peter Schneider und der „Lenz“ als Geburtshelfer des Rotbuch Verlags

Die Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat und die Zukunft die buntesten Farben trug, in den fünf oder acht Jahren nach 1967 also, waren nicht leicht für die Literatur. Zwar wurde wie wild gelesen, aber theoretische Schriften, Sachbücher und sozialistische Trivialliteratur beherrschten die Gespräche, Kontroversen und Moden mehr als die zeitgenössische, jüngere Literatur. Lange hielt sich das Gerücht, im „Kursbuch 15“ (1968) sei der „Tod der Literatur“ ausgerufen worden. Die dogmatischen Linken behaupteten, Literatur habe sowieso keine Funktion oder keinen Sinn mehr außer der Affirmation des Bestehenden. Die einsichtigeren Linken meinten, Literatur müsse irgendwie nützlich sein für die potentiellen Leserinnen und Leser. Die „bürgerliche Kritik“, von Walter Boehlichs Attacke im „Kursbogen“ verschreckt, wollte lange nichts wissen von einer Literatur, die aus dem Umfeld der außerparlamentarischen Opposition kam. Wer in diesen Zeiten schrieb, konnte sicher sein, keinen Beifall zu finden – sondern Scharen von Feinden, an dieser oder jener oder allen Fronten. Peter Handke löste diesen Konflikt, indem er die Rhetorik der Studentenbewegung übernahm und gegen sie kehrte. Rolf Dieter Brinkmann, indem er sich zum poète maudit stilisierte. Peter Schneider ging den schwereren Weg: er beschrieb diesen Konflikt und den mühsamen Prozess der Wiederentdeckung des Subjekts.
Noch ehe ich im Sommer 1970 Lektor bei Klaus Wagenbach wurde, machte dieser mir das Angebot, den Band „Ansprachen“ von Peter Schneider zu lektorieren. Als Wagenbachs ehemaliger Volontär im Lektorat des S. Fischer Verlags und als Autor seines Verlags war ich immer mal wieder um Meinungen zu bestimmten Manuskripten gebeten worden, hatte auch bei der Auswahl für den „Tintenfisch“, das Jahrbuch für Literatur, mitgeholfen, aber „Ansprachen“ war meine erste Lektoratsarbeit. Und Peter Schneiders erstes Buch. (Er hatte im Frühjahr 69 den Berliner Kunstpreis ‚Junge Generation‘ für seine verstreuten Texte bekommen, ein Jahr vor Erscheinen des ersten Buches – diesen Rekord hält er, so weit ich weiß, immer noch.) Der Autor war bereits eine Berühmtheit, seine Reden, seine „Kursbuch“-Essays, seine Auftritte machten Furore, der Skandal um die demonstrative Vergabe der Preissumme an die Anti-Springer-Kampagne noch mehr. Viel war an den rhetorisch geschliffenen Texten nicht zu tun, am meisten arbeiteten wir an den Gedichten. Autor und Lektor verstanden sich gut, auch der Verleger war´s zufrieden.
Es galt als ausgemacht, dass ich auch das nächste Buch von Schneider lektorieren sollte. Eine Arbeit, die lange vor der eigentlichen Arbeit beginnt: den vielbeschäftigten Autor gelegentlich und beharrlich an das lebhafte Interesse des Verlags an einem Manuskript erinnern. Es dauerte ungefähr drei Jahre, bis Schneider die Rohfassung eines Manuskripts herausrückte oder herauszurücken versprach, „Lenz“. Wagenbach und ich lasen Teiles des Textes, nahmen den Titel sofort an, ich schrieb den Vorschau- und Klappentext, und das Buch wurde im Frühjahrsprogramm 1973 des Verlags Klaus Wagenbach angekündigt.
Dort wäre es auch erschienen, wenn sich in der Zwischenzeit im Verlag nicht die erste und größte seiner Krisen zugespitzt hätte. Der „Wagenkrach“ bei Wagenbach ist legendär geworden und trotzdem bis heute nur mangelhaft und einseitig dargestellt. Dies ist nicht der Ort, die immer wieder vorgebrachte Version von Klaus Wagenbach zu widerlegen, in der er sich als Opfer größenwahnsinniger, raubgieriger Angestellten beschreibt, die einer absurden „Kollektiv“-Ideologie anhingen und ihm die Lektoratshoheit streitig machten. Aber da auch die Erzählung„Lenz“ in den Sog dieses Konflikts geriet und ihn vielleicht sogar überwinden half, soll dieser Kontext hier einmal erhellt und das historische Neben-Verdienst Peter Schneiders erwähnt werden.
Um das zu erklären, muss ich ein wenig ausholen: Im euphorischen Schwung der Studentenbewegung dachten seit etwa 1969 die Angestellten des Verlags ebenso wie der Verleger darüber nach, wie man das Arbeiten weniger entfremdet gestalten und den sozialistischen Anspruch des Programms in der Praxis umsetzen könnte. Die Mitarbeiter waren allesamt erfahrene Verlagsleute, seit dem Boom von 1970 und mit dem Zugewinn des „Kursbuch“ vor allem aus den Reihen des Suhrkamp Verlags verstärkt. Auch Wagenbach selbst wollte ein leuchtendes Beispiel geben: seinen Besitz am Verlag auf alle Mitarbeiter übertragen und Personal- wie Finanzentscheidungen von allen, dem „Kollektiv“ (von zehn Leuten) treffen lassen. Nur das Lektorat sollte autonom bleiben. Nach diesen Grundsätzen wurde ungefähr seit 1970 gearbeitet. Das Modell wurde erprobt, für gut befunden, dann beauftragten wir Anwälte, in diesem Sinn eine juristische Grundlage zu schaffen. Die Lösung war: ein Verein, dem sämtliche Mitarbeiter angehören, den Verein zum Besitzer des Verlags machen, der von zwei Geschäftsführern, Klaus Wagenbach und Manfred Naber, nach außen vertreten wird. Gleichzeitig wurde geregelt, wie Wagenbach das von ihm in den Jahren zuvor investierte Vermögen ausgezahlt bekommt. Alle (bis auf Katia Wagenbach) waren über dies Ei des Kolumbus aus Bürgerlichem Gesetzbuch und pragmatischem Sozialismus begeistert und stimmten zu. Weitere Verträge, dies Modell festzuschreiben, wurden vorbereitet. Bilder vom fröhlichen Kollektiv gingen durch die Presse, Wagenbach sonnte sich im Ruhm des Altruismus.
Wie jedes schöne Modell hatte auch dies seine Schattenseite: die Unterschiede der Charaktere. Deshalb muss ich, auch das ein Thema und eine Lehre des „Lenz“, von menschlichen Schwächen sprechen. Außer Katia Wagenbach hatte niemand bedacht, dass Klaus Wagenbach bei all seinen großartigen verlegerischen Fähigkeiten die Leistungen seiner Mitarbeiter, um es freundlich zu sagen, nur schwer oder schwankend zu würdigen vermag. Einzelgänger und Mehrheit, das konnte nicht gut gehen. Wir aber waren Idealisten und sahen das nicht. Es war nur zu spüren, wie Wagenbach im Lauf des Jahres 1972 mehr und mehr Zweifel über das Kollektiv-Projekt äußerte. Enttäuscht von politischen Hoffnungen, auch vom Ende der RAF und der Einkerkerung der Autorin Ulrike Meinhof, gereizt von den Schwierigkeiten mit einigen Autoren, beansprucht von Prozessen gegen den Verlag, neigte er immer mehr dazu, Meinungsverschiedenheiten, auch die um einen Autor, zu Konflikten aufzubauschen. Er hatte Schwierigkeiten mit der Kompetenz seiner Mitarbeiter. Als er seinen Mitgeschäftsführer Naber unter einem Vorwand aus dem Verlag werfen wollte, konnte ich, obwohl in literarischen Fragen meistens mit ihm einig, wegen zunehmender Intrigen nicht mehr auf seiner Seite sein.
Man darf spekulieren, ob wir, wenn „Lenz“ früher erschienen wäre, die Tragik früher erkannt hätten: Er, der doch fast alles in der Hand hatte, sah sich nur noch als Opfer. Und er merkte, dass die mühsam zustande gebrachte Arbeitsform nicht zu ihm passte. Das aber wagte er nicht zu sagen – und das wagten wir, die idealistische Mehrheit, nicht zu denken. Der Konflikt spitzte sich zu. „Das Kollektiv“, dessen der Verleger sich gestern noch gerühmt hatte, wurde über Nacht zum Schimpfwort. Und hier kommt wieder der „Lenz“ ins Spiel – das Erscheinen des Buches war inzwischen, weil der Autor trotz allen Drängens nicht fertig wurde, auf den Herbst verschoben worden.
An einem Samstagnachmittag im März 1973 ließ Wagenbach sich vom späteren Bundesinnenminister und anderen Juristen beraten, wie er aus den bestehenden Verträgen wieder aussteigen, die Mehrheit entlassen und wieder eigner Herr im Verlag werden könnte, mit seiner Frau und dem Lektor Wolfgang Dreßen. Das war der Putsch. Wir, das heißt Eberhard Delius, Anne Duden, Andreas Fimmel, Ingrid Karsunke, Manfred Naber, Helga Scheller und ich, hatten davon Wind bekommen. Am gleichen Nachmittag sprachen wir mit Schneider über sein „Lenz“-Manuskript. Der Autor wollte auch die Eindrücke verständiger Leser hören, nicht nur die seines Lektors. Er war begeistert von der literarischen Kompetenz der Verlagsleute, die Sympathien wuchsen auf beiden Seiten. Jeder spürte: das wird ein außergewöhnliches, provokantes Buch. (Heute wird leicht vergessen, dass „Lenz“ gegen viele linke Tabus verstieß wegen des Insistierens auf Emotionen und, wie man damals sagte, gegen bürgerliche Tabus, wegen des Insistierens auf einer radikalen Politik. Der selbstkritische Grundton war ebenso gewagt wie die Adaption eines klassischen Textes. Und es war noch nicht zu ahnen, dass „Lenz“ der Vorläufer der später so genannten „Neuen Subjektivität“ werden sollte.)
Im Hinterkopf dachten wir: soll sich Wagenbach mit Juristen treffen, wir treffen uns mit Autoren. Wir sahen uns aufs schwerste betrogen, fühlten uns im Recht, wollten weiter im Sinn der gemeinsamen Vereinbarungen und Verträge arbeiten und meinten, damit auch am besten den Autoren des Verlags zu dienen. Weit gefehlt! Als der Konflikt wenige Tage später aufbrach, der dann, ich fasse mich kurz, zur Spaltung führte und zur Gründung des Rotbuch Verlags, verstand Wagenbach es sehr schnell, fast alle Autoren um sich zu scharen. Völlig begreiflich, da die meisten mit ihm gearbeitet hatten und in ihm den Garanten für die Zukunft sahen. Enttäuschend war nur: sein Putsch, sein Betrug wurde als Notwehr hingenommen – das Recht, die gemeinsam erarbeitete Verlagsverfassung interessierte niemanden.
In den folgenden dramatischen Wochen war Peter Schneider einer der wenigen Autoren, der uns treu blieb. Auch er wurde wie die anderen Autoren, die nicht bei Wagenbach blieben, damit bestraft, dass die Bücher von seinem „alten“ Verlag nicht mehr vertrieben und nicht mehr aufgelegt wurden. Während die superlinken Autoren aus dem Umkreis des SDS sich fleißig von dem kurz zuvor noch bejubelten sozialistischen Modell distanzierten, traute Peter unseren Fähigkeiten und wollte es fortgesetzt sehen: alle Mitarbeiter entscheiden gleichberechtigt über Personal- und Investitionsfragen, in Lektoratsfragen bestimmt ein Ausschuss mit, aber nicht gegen die Lektoren. Ohne Schneiders Beistand und die Aussicht auf sein außergewöhnliches Buch hätten wir wahrscheinlich weniger Zuversicht gehabt bei der tollkühnen Neugründung des Verlags.
So kam der „Lenz“ in das erste, das Herbstprogramm des Rotbuch Verlags, neben Aras Ören „Was will Niyazi in der Naunynstraße“, Yaak Karsunke („Josef Bachmann/Sonny Liston“) und einer Neuauflage meiner Festschrift „Unsere Siemens-Welt“. „Lenz“ wurde noch mit einem Untertitel angekündigt, der dann zum Glück fortfiel: „Eine Erzählung von 1968 und danach“. Aber das Manuskript war immer noch nicht satzfertig. Und Peter war gewohnt, Termine nicht einzuhalten. Es blieb dem Lektor nur die Methode, dem Autor auf den Pelz zu rücken, womit der Autor, der solchen Druck brauchte, einverstanden war. Ich erinnere mich an einen sonnigen Sommer, an dem ich etwa vier oder sechs Wochen lang alle zwei, drei Tage in Peters Wohnung in der Xantener Straße auftauchte. Wort für Wort gingen wir den Text durch. (Und doch entdecke ich erst heute, beim Blättern in der Ausgabe von 1980, 109. – 123. Tausend, dass das Wort Cappuccino dreimal mit nur einem P geschrieben ist, wie peinlich für uns Italienfreunde!) Wir diskutierten die jeweils neusten Versionen bestimmter Szenen, ich half beim Kürzen und Präzisieren und da und dort beim Übersetzen des Tagebuchstils in Erzählstil und versuchte dem Autor seine Skrupel zu nehmen. Die Erinnerung behauptet, es sei mein Vorschlag gewesen, dem Kritiker den Namen Neidt zu geben. Es dauerte, bis Peter den später viel zitierten Schluss gefunden hatte.
Zwischendurch sprachen wir über Musik, Frauen, Literatur, Italien, und spielten Tischtennis, er deutlich besser als ich. Im Schneiden war Schneider unübertrefflich. Aus Arbeit wurde Freundschaft. Ich genoss diese Stunden, eine angenehme Abwechslung von der Extremanstrengung, den Verlag aufzubauen und nebenbei noch den Siemens-Prozeß zu führen. Die Aussicht auf einen fertigen „Lenz“ entschädigte für vieles.
Der Rest ist bekannt. Das Buch erschien im Herbst 1973 und wurde sofort ein Bestseller. Es strafte Wagenbachs Unkenrufe „Das Kollektiv kann nichts, es wird in einem Jahr alles ruiniert haben“ Lügen. Der Bestseller „Lenz“ bewies Buchhändlern, Kritikern und Autoren das Gegenteil: die ehemaligen Wagenbach-Leute sind auch nicht schlechter als er, ihr Programm wirkt sogar attraktiver. Einen besseren Start als mit „Lenz“ hätte der Rotbuch Verlag nicht haben können. Und einen besseren Start als bei Rotbuch hätte der „Lenz“ auch nicht haben können.

(in: Phantasie und Kritik. Peter Schneider zum 65. Geburtstag. Rowohlt Berlin 2005)

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