Friedrich Christian Delius, FCD

Günter Kunert

Günter Kunert Nachruf

Günter Kunert gehörte zu den beiden Mitgliedern unserer Akademie, die zweimal zugewählt wurden – auch das eine Folge, wie bei allen Details seiner Biografie, der Risiken und Nebenwirkungen deutscher Geschichte. Als ostberliner Autor 1976 in die westberliner Akademie gewählt, trat er 1992 aus Protest gegen die Modalitäten der Vereinigung der beiden Akademien aus, bevor gut zwanzig Jahre später die nächste Generation in der Sektion Literatur beschloss, ihn zusammen mit dem anderen Protestler von einst, Reiner Kunze, noch einmal zur Zuwahl vorzuschlagen. Nicht nur als überfällige Geste der Versöhnung, sondern aus Respekt vor der Lebensleistung eines Autors, der als Berliner und Weltbürger, als Lyriker, Erzähler und Romanautor, als Reiseschriftsteller, Drehbuchautor und Gesellschaftskritiker, als gnadenloser Spötter und kluger Essayist aus der deutschen Nachkriegsliteratur nicht wegzudenken ist.

Als Kind einer jüdischen Mutter hat er das Kriegsberlin überlebt, wurde früh von Brecht und Becher gefördert, trat mit 19 Jahren der SED bei, fiel mit seinen Gedichten auf, erhielt 1962 den Heinrich-Mann-Preis und geriet dennoch seit Anfang der sechziger Jahre immer wieder und immer öfter mit den Zensurbehörden der DDR in Konflikt, seine Ironie war unerwünscht, ja staatsgefährdend. Da reichte damals ein Gedicht, fünf kurze satirische Zeilen (in der „Weltbühne“!), um zur Unperson zu werden:

“Als unnötigen Luxus
Herzustellen verbot, was die Leute
Lampen nennen, König Tharsos von Xantos, der
Von Geburt
Blinde.”

Zu seinem Glück fand Kunert bereits 1963 im Westen mit Carl Hanser einen mutigen und treuen Verlag. Doch zu Hause nahmen die Reibungen zu, die üblichen Schikanen, die viele Künstler erlebten. Bei ihm wurde es ein ständiges Wechselbad von Ablehnungen, Verzögerungen und gnädig erteilten Genehmigungen der Bücher, Filme, Artikel – und Reisen, immerhin. Gerade die Unberechenbarkeit der Zensur verlangt vom Zensierten eine gut durchtrainierte, unerschütterliche Heiterkeit. Und in dieser Sorte Heiterkeit, im unerschöpflichen Witz und nie nachlassender Kalauerei war Günter Kunert ein Meister. Gleichzeitig beschäftigte er sich seit den frühen siebziger Jahren mit der Zerstörung der Umwelt, zunächst in der DDR, dann mit den weltweiten ökologischen Fragen, und nahm noch von Berlin-Buch aus Kontakt zu den entsprechenden Experten auf. Den wütenden Ernst einer Greta Thunberg hatte Günter Kunert bereits vor rund 45 Jahren. Freilich auch den Sarkasmus und Humor, um solchen Ernst auszubalancieren.

Nachdem er 1976 die Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterzeichnet hatte, sah er wie viele jede Hoffnung auf die DDR für verloren an und konnte 1979 in den Westen, nach Schleswig-Holstein ausreisen. Als Dichter vom Stamm der Montaigne, Swift, Heine und des lakonischen Brecht, konnte er sich jetzt in all seiner Vielseitigkeit entfalten, vielfach geehrt und doch nicht nachlassend in seiner Kritik an der an den allgemeinen Gleichgültigkeit gegenüber den unübersehbaren ökologischen Verwüstungen. Auch im Westen ist er ein dissidentischer Denker geblieben. „Die Unruhe einer transitorischen Existenz als deutscher Jude und Dichter eines uneinigen Deutschland wurde er nicht los“, schrieb die NZZ in ihrem Nachruf. Sein Pessimismus – er sah sich stets als Realist und nicht als Pessimist – brachte ihm hier sogar das Image als „Kassandra von Kaisborstel“ ein, einen Titel, den er nicht ohne selbstironischen Stolz zu tragen wusste.

Günter Kunert wurde 90 Jahre alt. Wenige Stunden nach ihm starb der Kosmonaut Siegmund Jähn. Diese Pointe, am nächsten Tag mit dem größten Helden der DDR um den Platz für Nachrufe ringen zu müssen und von ihm im Aufmerksamkeitswettbewerb in der letzten Minute gewissermaßen überholt zu werden, hätte Kunert zum Lachen gebracht, wenn nicht für eine seiner Geschichten erfunden sein können.

Statt vieler Buchtitel eins seiner letzten Gedichte, das wohl auch Siegmund Jähn gefallen hätte:

ALS WIR UNS ZUM ERSTEN MALE
in die Luft erhoben, merkten wir,
wie klein
die Erde ist. Aber merkten
nicht, wie klein
wir selber. Als Däumlinge fielen
wir übereinander her, weil
wir größer sein wollten als
Gulliver in Brobdingnag, der
auch bloß eine Erfindung war
wie unsereins.

(Nachruf auf Günter Kunert, Akademie der Künste, 9. 11. 2019)

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