Friedrich Christian Delius, FCD

Über die Gruppe 47

50 Jahre Gruppe 47 in Amerika

Saßen Sie auch auf dem elektrischen Stuhl?

Am 22. April 1966 fuhr die Gruppe 47 nach Princeton. Es wurde die berühmteste Klassenfahrt des deutschen Literaturbetriebs. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller F. C. Delius, der dabei war.

Ein Frühlingsnachmittag in Berlin-Charlottenburg. Das große Fenster im Wohnzimmer des Schriftstellers Friedrich Christian Delius, 73, gibt den Blick frei auf den Lietzensee. Delius lebt nach Jahren in Rom wieder in der Stadt, die ihn geprägt hat – als Student, Schriftsteller und Lektor für Literatur, zunächst im Verlag Klaus Wagenbach, dann im Rotbuch-Verlag, zu dessen Gründern er gehört. 1966, bei der Tagung der Gruppe 47 in Princeton, war er der zweitjüngste Teilnehmer (der jüngste war Hans Christoph Buch). Gerade hat Delius seinen neuen Roman veröffentlicht, „Die Liebesgeschichtenerzählerin“. Am Strand von Scheveningen entscheidet sich darin Marie von Schabow, endlich ihrem Traum zu folgen und einen Roman zu schreiben. In ihren Überlegungen werden bald drei Liebesgeschichten daraus, erzählt vor dem Hintergrund von zwei Weltkriegen, Katastrophe und Verlust. Eindrucksvoll gelingt es Delius, Maries Hoffnungen und Zweifel mit Erinnerungen an den Vater und ihren eigenen Ehemann zu verweben. Es bleibt ungewiss, ob Marie ihren Traum letztlich verwirklichen wird. Man wünscht es ihr.

Haben Sie in Princeton gelesen?

Zu meiner großen Erleichterung: Nein. Ich war zuvor bei zwei Treffen der Gruppe 47 auf dem elektrischen Stuhl halbwegs gut weggekommen …

… dem Stuhl neben Hans Werner Richter, auf dem der Vortragende saß.

Deshalb war unklar, ob ich wieder mit Lesen dran war. Mein erster Gedichtband war gerade erschienen, ich schrieb an der Dokumentarpolemik „Wir Unternehmer“ über die lustigste CDU, die es je gab, aber das passte nicht zum Vorlesen. Ich hatte ansonsten nur ein Gedicht über die erste Demonstration gegen den Vietnamkrieg in Berlin. Je näher ich New York kam, desto schlechter fand ich das, obwohl mein Verleger Klaus Wagenbach sagte: Doch, lesen Sie das!

Was denken Sie heute, wenn Sie den Text lesen?

Er ist verschollen, zum Glück. Ich bin sicher, er war miserabel.

Spontan, welche Erinnerung an die Reise ragt am meisten heraus?

Eine Begegnung mit Erich Fried, eigentlich sogar nur ein Blick.

Wenn ich Ihren Gesichtsausdruck richtig deute, war es ein kritischer?

Dieser Blick war der Grund, warum ich kein Kritiker wurde – und damals war ich eigentlich auf dem besten Wege dorthin. Ich veröffentlichte Rezensionen in der „Welt der Literatur“ und der „Weltwoche“. In Letzterer hatte ich kurz vor der Reise Frieds Prosaband „Kinder und Narren“ verrissen. Diese zwei, drei Sekunden, in denen Fried mich mit seinen Augen fixierte, hatten nichts Strafendes oder Feindseliges, es war viel schlimmer: Er durchschaute mich, fast mitleidig.

Was erkannte er?

Den überheblichen jungen Mann, der da stand. Die Argumente für meinen Verriss konnte man als stimmig ansehen, aber die Kritik war, wie man das in der Jugend so macht, in rüdem Ton geschrieben, arrogant, zurechtweisend.

Fried und Sie waren doch umgeben von Kritikern, die sich auch mal schroff oder ungerecht äußerten.

Natürlich. Das war sehr unterhaltend und bildend. Trotzdem waren Reich-Ranicki, Jens oder Kaiser keine Vorbilder. Beim Fried-Verriss ging es um mich. Mach es dir nicht so leicht, Junge, deine Seele mit Überlegenheitsgefühlen zu füttern – das sagte der Blick. Danach schwand die Verführung, mich als Kritiker durchsetzen zu wollen.

Hatten Sie überlegt, die Einladung nach Princeton wegen des Vietnamkriegs nicht anzunehmen?

Darüber nachgedacht hatten sicher viele, die eingeladen waren. Aber ich war viel zu jung und unbedeutend, um ein Zeichen setzen zu können.

Sie hätten aus Überzeugung nicht teilnehmen können.

Mir wäre das viel zu pathetisch erschienen. Außerdem, die USA waren das demokratische und kulturelle Vorbild, ich war neugierig auf dieses Land. Nicht zu vergessen die Eitelkeit: Erst drei Jahre zuvor hatte ich Abitur gemacht und war nun schon zum dritten Mal bei der Gruppe 47 eingeladen, sogar in die USA, da sagt man nicht ab. Überhaupt…

Ja?

Denen, die heute mit mehr oder weniger Kenntnis beim munteren Gruppe-47-Bashing mitspielen, sag’ ich gern: Jeder von euch, ob als Journalist oder Autor, wäre damals liebend gerne dabei gewesen. Es gab keine attraktivere Ballung von literarischer Qualität als in der Gruppe 47, nirgends mehr intellektuelle Juden, Frauen, Schwule, Dissidenten, unakademische Akademiker, keinen offeneren Ort geistiger Debatten. Schwierig wurde es nur mit der Politik.

Die Universitätsleitung hatte sich Kritik am Vietnamkrieg verbeten, Princeton sollte nicht in dem Kontext gesehen werden.

Deshalb gab es nach den drei Lesetagen einen Tag mit politischen und ästhetischen Debatten zwischen einzelnen Mitgliedern und Amerikanern, unabhängig vom offiziellen Programm. Enzensberger sagte, je schlechter es den USA in Vietnam gehe, desto schwächer werde die Sache der Demokratie in Deutschland. Weiss und Fried erklärten, sie seien hier, um ihre Sympathie für die Menschen zu zeigen, die für ein anderes Amerika kämpften.

Gab es eine Position, der Sie sich anschlossen?

Ach, ich war und bin literatursüchtig, aber nicht meinungssüchtig.

In Ihren biographischen Skizzen „Als die Bücher noch geholfen haben“ widmen Sie Susan Sontag, die in Princeton zu einem Gespräch mit Walter Höllerer und Hans Magnus Enzensberger eingeladen war, ein Kapitel unter der Überschrift „Der Montag, an dem ich mich in Frau Sontag verliebte“.

Ihr Ausspruch, sie schreibe nicht, um Botschaften zu vermitteln oder politische oder soziale Wirkung zu erzielen, sondern aus Freude an ästhetischen Formen, war für mich wie ein Geschenk. „Pleasure“ als Grundbegriff der Poetik, wie sie das so pragmatisch erklärte, das beeindruckte mich.

Weil es so neu war?

Eigentlich ja nicht. Aber der deutsche Bekenntniseifer war damals so stark, dass man den dornigen Weg von der Ethik zur Ästhetik schwer unterschätzte, auch ich. Diese Synthese kann der Künstler nur im Werk finden, nicht in der Rhetorik, das machte Sontag auf erfrischende Weise deutlich. Was sie nicht hinderte, wenige Stunden später auf dem Teach-in über den Vietnamkrieg die schärfste Kritik an ihrer Regierung zu äußern.

Auf dem Campus fand unter dem Titel „What’s Happening: The Arts 1966“ auch ein Kulturfestival statt – Tom Wolfe und Allen Ginsberg waren zugegen. Über die Gruppe 47 heißt es, sie habe sich anders als die amerikanischen Schriftsteller nicht für den Austausch mit Musikern und Künstlern interessiert.

Alles Quatsch. Allen Ginsberg haben wir zum Beispiel auch in New York oft gesehen, aber er war meistens so bekifft, lag in der Ecke, man konnte mit ihm kaum reden. Wissen Sie, es waren etwa 80 Autoren mitgereist – mit den unterschiedlichsten Interessen. Höllerer hatte seine Lyriker, andere rannten durch die Galerien, Enzensberger und Lettau waren überall, ich war zum Beispiel mit H. C. Buch und Hanspeter Krüger bei einem Konzert von Albert Ayler, der damals im Free Jazz als der Radikalste von allen galt.

Es prallten keine Welten aufeinander? Auf dem Panel „The Style of the 60s“ redeten amerikanische Intellektuelle von der „Glücksexplosion“ und der Pop- und Kitschzivilisation. Allen Ginsberg feierte LSD als essentiellen Teil künstlerischer Arbeit. Die Antwort von Grass: Ich nehme kein LSD, ich trinke Kaffee, er tut es auch.

So what? Die tiefere Komik liegt ja daran, dass, als dieser Dialog stattfand, wir Deutschen erst mal verdauen mussten, was am Tag zuvor geschehen war: Die Popkultur hatte unsere schöne, brüchige Gruppe 47 gesprengt! Dass jemand ohne literarische Leistung, nur mit monotoner Polemik alle in den Bann schlägt, sich seine persönliche „Glücksexplosion“ verschafft ohne Rücksicht auf andere, das war neu. Handke hatte alles auf den Kopf gestellt.

Während einer Debatte über einen Text von Hermann Peter Piwitt stand Peter Handke auf und erklärte: Hier wie anderswo in der deutschen Literatur herrsche Beschreibungsimpotenz, alles Schöpferische, jegliche Reflexion fehle, die Prosa sei läppisch und idiotisch, und läppisch und idiotisch sei auch die Kritik.

Heute würde man sagen, was Handke da betrieb, war „Selbstvermarktung“. Er war zu dem Zeitpunkt völlig unbekannt. Das änderte sich nun schlagartig.

Es hat Ihnen nicht gefallen.

Schon vor 50 Jahren war ich der altmodischen Meinung: Der Autor dränge sich nicht vor sein Werk, er soll literarisch überzeugen. Handke war da anders. Dazu gehörte mehr als Chuzpe und Frechheit, die gesamte deutsche Literatur mit fünf Schlagwörtern zu beurteilen – und das nicht mal spontan, sondern vorbereitet. Das war der eigentliche Paradigmenwechsel: Da setzt sich jemand vorher hin und entwirft die Philippika gegen etwas, was er noch gar nicht kennt, um sich selbst als den Einzigwahren zu inszenieren. Verstehen Sie mich nicht falsch: Polemik, böse Polemik ist was Herrliches und leider ziemlich selten heute, aber Pauschalpolemik nur doof.

Es gab aber keine große Empörung. Günter Grass bemühte sich sogar, aus dem Vorwurf eine konstruktive Diskussion zu machen.

Vielleicht war es der Humor der Verzweiflung. Drei Tage lang hatte es kaum literarische Höhepunkte gegeben, dazu der anhaltende Jetlag, mit dem wir alle keine Erfahrung hatten, ein enger, stickiger Saal, zu viele amerikanische Kritiker, die sich eingeschlichen hatten und die Richter aus diplomatischen Gründen nicht bat, zu gehen. In diese Stimmung warf Handke seine Vorwürfe, das passte, das zündete wie nix, mit allen Missverständnissen. Hans Mayer begann „Was Handke meint, ist Folgendes“ – das war, soweit ich mich erinnere, der größte Lacher der Tagung – und irrte wieder mal fulminant.

Waren Sie enttäuscht von den Tagen in Princeton?

Ich war froh, nicht gelesen zu haben, meiner Hinrichtung entkommen zu sein. Die anderen drei Treffen, an denen ich teilnahm, haben mein insgesamt positives Bild von der Gruppe 47 geprägt. 1967 zeigte dann ja, wie lebendig der Laden noch war, nur politisch zerrissen. Princeton war literarisch mager, aber die Reise in die USA war eindrucksvoll und folgenreich gerade wegen der Kontakte, Namen und Vorbilder – bis hin zu einer so klugen, schönen, emanzipierten Frau wie der Sontag.

In Ihrem neuen Roman „Die Liebesgeschichtenerzählerin“ geht es um einen Versuch der Emanzipation …

… einen sehr konservativen, ja.

Ihre Protagonistin Marie von Schabow plant einen Roman und kommt dabei immer mehr auf die Liebes- und Zeitgeschichte des eigenen Vaters.

Ein Knabe aus völlig verarmtem mecklenburgischem Landadel wird Kadett, also Kindersoldat, steigt auf zum U-Boot-Kapitän. Als kaiserlicher Untertan wird er, nachdem er 1918 die roten Matrosen von Kiel überlistet hat, zum protestantischen Untertan, militant fromm, aber gegen Hitler, ein Volksmissionar der Wichern-Vereinigung.

Marie will wagen, über ihn zu schreiben, hadert aber dann doch immer wieder mit sich.

Sie hadert nicht, sie ringt mit zwei konservativen Haltungen: entweder nicht dran rühren oder verstehend bejahen. Sie will aus dem Korsett, das der Vater vorgegeben hat, ausbrechen, aber nicht zu weit.

Man ahnt, dass Marie an Ihre Tante angelehnt ist und der U-Boot-Kapitän an Ihren Großvater.

Vor über zwanzig Jahren schon hab ich mit Pétér Nádas darüber diskutiert, wie man über einen Mann mit dem Panzer Kaiserglauben und dem Panzer Christenglauben schreibt, ohne zum Besserwisserenkel zu werden. Erst spät merkte ich, es geht nur über die Tochter. So ist dieser Roman zum Schwesterbuch von „Bildnis der Mutter als junge Frau“ geworden. Im Hintergrund bleibt die militärische Erziehung als Grundhaltung des Lebens.

Spiegeln Sie sich in dieser Geschichte, in der Abgrenzung von den Älteren?

Ja, aber in mehreren Spiegeln, in denen sich auch die Leser erkennen können. Mit diesem Großvater habe ich in den 60er Jahren, als ich mich für die Studentenbewegung interessierte, heftige Briefwechsel geführt. Ich war sehr kritisch, aber er sah sich schon als Kommunisten verloren.

Und haben Sie ihm damals die Sorge genommen?

Das konnte ich nicht. Er war F.A.Z.-Leser. Einem solchen konnten Sie in den 60er Jahren diese Sorge kaum nehmen. Dass ich – vielleicht seines Fundamentalismus wegen – gegen Dogmen, Parteien, Ideologien war und in „Wir Unternehmer“ Bundeskanzler Erhards Reden zerpflückte, konnte er nicht verstehen. Für ihn gab es nur Gott oder Teufel, und wer nicht für Gott war, der war verloren. So greift der Roman auch das alte, immer wieder aktuelle Spiel der Gegensätze auf. Wie Goethe sagt: Poesie lässt gelten, Religion will gelten.

Interview Anne Ameri-Siemens, Frankfurter Allgemeine, Sonntag, 24. April 2016

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