Psychologie Heute: Über den Nutzen des Eigensinns
Über den Nutzen des Eigensinns.
Ein „bekennender Introvertierter“ im Gespräch mit „Psychologie Heute“.
PSYCHOLOGIE HEUTE Herr Delius, was fasziniert Sie an eigensinnigen Zeitgenossen? In Ihren Büchern kommen ja sehr viele Charaktere dieser Art vor.
FRIEDRICH CHRISTIAN DELIUS Mir ist lange nicht aufgefallen, dass sich eigensinnige Figuren, gelassene, zielbewusste Einzelkämpfer in meinen Büchern häufen. Offenbar fühle ich mich dieser Art Menschen nah und verwandt. Wenn einer wie Konrad Zuse den Computer erfindet, unter widrigsten Umständen, wenn einer wie Paul Gompitz aus der DDR mit dem Kopf durch die Mauer nach Syrakus will, dann kann ich mich da gut einfühlen, dann ist mir das ein Buch wert. Da gibt es Verbindungen: Schriftsteller kann man nur mit einer großen Portion Eigensinn und innerer Ruhe werden, das ist selbstverständlich.
PH Was heißt für Sie eigensinnig in Bezug auf das Schreiben?
DELIUS Im eigenen Auftrag die eigenen Themen suchen, den eigenen Stil, die Form, die eigene Stimme finden – bei vollem ökonomischem Risiko. Und dabei die Kunst beherrschen, wenig auf den Erfolg zu schielen. So autonom wie möglich werden bei gleichzeitiger Sensibilität für andere – mit diesem Widerspruch hat man es schwerer als die meisten. Dafür hat man aber das Privileg relativer Freiheit und Unabhängigkeit – außer vom Markt -, die einen offen macht für andere in ähnlicher Lage, um bei Beispiel Konrad Zuse im Roman Die Frau, für die ich den Computer erfand oder Gompitz in Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus zu bleiben.
PH Versetzen Sie sich vor dem Schreiben in diese eigenwilligen Helden gezielt hinein, oder wissen Sie ohnehin, wie diese Menschen denken und handeln?
DELIUS Meine Arbeit ist anfangs nicht auf den Protagonisten fixiert. Meist interessiert mich eine Geschichte, beispielsweise bei dem Spaziergang. Ich bin zufällig in den Osterferien auf Rügen auf einen Zeitungsartikel über einen Menschen gestoßen, der sich jahrelang vorbereitet hat, um in einem Segelboot aus der DDR hinauszukommen. Nicht, um zu fliehen – er wollte eine Reise nach Italien machen. 1988 ist es ihm schließlich gelungen. Ich fand die Geschichte toll, habe den Artikel auf einen Stapel gelegt, wo ich interessante Zeitungsausschnitte sammle. Normalerweise vergesse ich sie nach und nach. Aber diesen Artikel habe ich immer wieder hervorgeholt. Und eines Tages dachte ich: Das ist so eine besondere Geschichte, die muss jemand aufschreiben. Und wenn es niemand macht, dann mach ich es.
PH Wie sind Sie beim Schreiben der Erzählung Spaziergang von Rostock nach Syrakus vorgegangen?
DELIUS Ich habe recherchiert, viel gelesen, habe mich mit dem realen Vorbild für Paul Gompitz getroffen, ausführlich mit ihm geredet und ihn erzählen lassen. So habe ich die ausgeprägte Beharrlichkeit dieses Mannes kennengelernt und habe schnell verstanden, dass er noch viel eigensinniger war, als ich anfangs gedacht hatte. Sieben Jahre lang hat er im Geheimen nach einem Weg gesucht, die DDR für eine Italienreise zu verlassen, hat Segeln gelernt, ein Boot gekauft, sich ständig in Gefahr gebracht, sein ganzes Leben auf seine fixe Idee eingestellt. Erst während des Schreibens habe ich seinen Charakter wirklich erfasst.
PH Weil der Protagonist stets betont, dass er nur ein paar Wochen verreisen will, ist die Erzählung keine tragische DDR-Fluchtgeschichte, sondern ein Schelmenstück über einen mündigen Bürger. War das Absicht?
DELIUS Das war ja das Unerhörte, dass tatsächlich der schlichte Wunsch zu reisen der Antrieb für all den Aufwand war. Dass die Sehnsucht, etwas von der Welt zu sehen, die für Leute im Westen ganz selbstverständlich war, in der DDR so existenziell sein konnte. Gompitz hat immer wieder betont: „Ich mache ja nur eine Bildungs- und Pilgerreise“, hat damit auch kokettiert. Und ist dann wirklich in die DDR zu seiner Frau zurückgekehrt.
PH Gibt es für Sie auch ein Zuviel an Eigensinn? Einen Punkt, wo man sagt: Jetzt ist genug, jetzt wird es nervig, bedenklich, verbissen?
DELIUS Den Punkt gibt es bestimmt, in jedem Fall wieder anders nuanciert. Aber zum Eigensinn gehört ja auch Humor, Distanz zu sich selbst. Das hab ich schon früh gelernt bei meinen beiden eigensinnigen Lehr- und Lachmeistern, dem Literaturwissenschaftler Walter Höllerer in Berlin und dem Verleger Klaus Wagenbach. Deshalb habe ich auch meine Doktorarbeit Der Held und sein Wetter geschrieben. Ich dachte mir: Es schreiben doch alle über Kafka und Goethe, ich schreibe übers Wetter. Eine Spur Ironie lag darin. Und der Wunsch, nicht das Naheliegende zu machen.
PH Sie sind nach dem Universitätsabschluss ohne Umwege literarischer Lektor geworden. Würden Sie in der Rückschau sagen, dass Sie auch persönlich eigensinnig Ihre Wünsche verfolgt haben?
DELIUS Ja. Erstaunlicherweise war mir bereits mit 18 Jahren klar, dass ich im Literaturbetrieb arbeiten wollte, als eine Art Vermittler, als Redakteur oder Lektor. Und ich wurde Lektor, acht Jahre lang. Ich schrieb ja fleißig Gedichte, und gewiss trug ich auch den geheimen Traum einer Schriftstellerexistenz mit mir herum, aber mein 18-jähriger oder studentischer Größenwahn war nicht groß genug, das für realistisch zu halten. Mit 36 konnte ich dann sagen: Jetzt versuch ich das mal. Natürlich immer mit der Parole Eigensinn.
PH Schon mit Anfang zwanzig haben Sie im Wagenbach-Verlag sehr sicher Literatur von gestandenen Autoren beurteilt und zukünftige namhafte entdeckt. Warum konnten Sie das?
DELIUS Viel lesen hilft immer, schreiben auch – also differenzieren, justieren, verwerfen. Man muss unterscheiden können zwischen Floskeln, Redewendungen, Normsprache und literarischer Sprache, und das habe ich wahrscheinlich als Pfarrerssohn früh gelernt. Das Wort der Bibel und Predigt war bei uns zu Hause allgegenwärtig. Ich bilde mir ein, schon als Kind gemerkt zu haben, dass die oft formelhafte Sprache auch viel verbirgt, und habe in der Pubertät versucht, mit Gedichten diese Gleichförmigkeit aufzubrechen. Andererseits: Die Poesie und Sprachmelodien der Psalmen, das hat auch etwas. Das Urteilen über literarische Texte geht nur bei höchsten Ansprüchen. Wenn Sie in einem Verlag sitzen, merken Sie bei 95 Prozent der Manuskripte: Das haben andere schon besser geschrieben, das muss nicht gedruckt werden. Bei den fünf Prozent wird es spannend, am Ende kommen Sie vielleicht auf ein Prozent: So ein Text ist nie vorher geschrieben worden, also: Ja, her damit!
PH Sie waren als Jugendlicher ein Skeptiker, der den allzu sicheren Sprachduktus hinterfragt hat?
DELIUS Ich habe die Worte meines Vaters als Sprache der Macht empfunden, habe verstanden, dass man auch mit einer Sprache der Nächstenliebe Druck ausüben kann und habe mich innerlich dagegen gewehrt. Gut hinzuhören, was gesagt wird, ist für ein Kind vielleicht auch eine Form, sich zu wehren. Ich war irgendwann gewöhnt, die Sprache meines Vaters für mich zu demontieren, vielleicht sogar zu veralbern. Die Floskeln habe ich jedenfalls früh durchschaut. Noch heute ist es so: Wenn ich die ersten Sätze vom Wort zum Sonntag höre, könnte ich fast mitsprechen und sagen, mit welchen Formeln es weitergeht.
PH Was ist an einer literarischen Sprache so ganz anders?
DELIUS Literatur verkündet keine Gewissheiten. Die Sprache der Wirtschaft, Politik, der Kirchen, der Werbung, der Trivialliteratur dagegen schon. Das Wunderbare an der literarischen Sprache ist für mich neben vielen anderen Vorzügen, dass sie nicht nur Zweifel zulässt, sondern Betrachtungen auch immer genauer differenziert, Widersprüche formuliert und den Blick auf neue Horizonte, neue Fragen, Erfahrungen öffnet, statt ihn enger zu machen.
PH War die Beschäftigung mit Literatur auch eine Opposition gegen die Macht und Weltsicht Ihres Vaters?
DELIUS Zum Teil. Literatur hat mich gestärkt. In meiner Jugend war ich schüchtern, ein unsicherer Stotterer, ein antiväterlicher Schweiger. Beste Voraussetzungen zum Schreiben also: Erst durch den Mut zum Schreiben entdeckte ich, dass ich über ein Selbst, eine eigene Sprache verfüge. Es ist ein kleines Wunder, wenn aus den unendlichen Möglichkeiten, Wörter zu kombinieren, ein Gedicht entsteht, anfangs natürlich noch ganz epigonal: aber etwas Eigenes, Ich-Stärkendes, Narzisstisches, sogar Nützlich-Narzisstisches.
PH In Ihrem autobiografischen Bericht Als die Bücher noch geholfen haben schildern Sie, dass im Wagenbach-Verlag, wo Sie ja die literarische Sprache pflegen wollten, in den 1968er Jahren demagogische Töne aufkamen …
DELIUS Das Thema Sprache um 1968 müsste wirklich mal gründlich angegangen werden. Mit der Politisierung wurde die Sprache erst frecher, dann polemischer, dann immer formelhafter. Außerdem begann die Tendenz zu einer Sprache des „Wir“. Alles wurde unter den Teppich des Plurals gekehrt. Mit der Konjunktur der neuen Begriffe (wie „Arbeiterklasse“ statt Arbeiter) wurde die Sprache der Linken immer ideologischer. Diese sprachliche Umwälzung ging auch am Wagenbach-Verlag nicht vorbei. Ich war allerdings für die Literatur, nicht für die politischen Veröffentlichungen zuständig. Der Konflikt spitzte sich zu, als Klaus Wagenbach Propagandaschriften der RAF ohne jeden kritischen Kommentar veröffentlichte. Mir und den meisten anderen im damaligen Kollektiv sträubte sich alles gegen die Einschüchterungssprache der RAF, gegen ihre Aktionen sowieso. Darüber kam es dann, kurz gesagt, zum großen Krach.
PH Wie ist Ihnen denn nach den Jahren im Lektorat der Wechsel auf die andere Seite, ins Schriftstellerdasein gelungen?
DELIUS Die andere Seite war mir ja nicht ganz unbekannt. Bis zum Ende meiner Lektorenzeit 1978 hatte ich drei Gedichtbände und zwei Satirenbücher publiziert. Das war der Anfang: die formelhafte Sprache aufspießen, literarisch verändern, verarbeiten. Als Erstes nahm ich die Sprache der Wirtschaft unter die Lupe, so ist zum Beispiel die satirische Festschrift Unsere Siemens-Welt entstanden. Historische Dokumente, Geschäftsberichte, das ganze Wirtschaftsvokabular von Absatzmarkt bis Firmenphilosophie ist da eingeflossen. Eingebaut wurden auch die Fakten, die Konzerne normalerweise verschweigen, so demontierte ich als Satiriker die Wirtschaftssprache. Und insbesondere die Fakten über die Nazizeit waren provokant, die wurden ja noch in den siebziger Jahren von den betroffenen Firmen fleißig unter den Teppich gekehrt.
PH Haben Sie es eigentlich darauf angelegt, dass das Buch ein Skandal wird und man Sie verklagen würde?
DELIUS Überhaupt nicht. Ich hatte zwar gedacht, dass es die Firma ein wenig ärgern würde. Aber ich war komplett erstaunt, dass Siemens das Buch verbieten lassen wollte. So bekam die Satire ja gleich die Weihen höchster Aufmerksamkeit. Gut, ich habe für den Prozess sehr viel arbeiten müssen, hatte einen guten Anwalt. Aber Angst hatte ich nicht. Ich wusste, ins Gefängnis kann ich nicht kommen. Aber ich hätte wegen der Drohung einer Schadensersatzklage mein Leben lang ein armer Schlucker bleiben können.
PH Sie erzählen das so heiter, als wäre es ein Scherz. Was bedeutet Ihnen diese Ironie, diese schelmische Sichtweise?
DELIUS Es ist doch öde, sich als Opfer hinzustellen. In einer Demokratie hat auch ein Konzern das Recht, Prozesse zu führen. Goliath gegen David, das ist doch eine tiefkomische Konstellation. Da braucht man List und Humor. So hab ich nach dem Prozess, als wir neun Stellen schwärzen mussten, einfach das Urteil des OLG Stuttgart für das Buch übernommen: Folgende neun Stellen dürfen im Namen des Volkes nicht weiterverbreitet werden … Ein gewisser Schalk ist immer ganz hilfreich. Nach der Satire um Siemens kam der damals berühmte Kaufhauskönig Horten wegen einer Ballade, die ich über ihn geschrieben hatte, und wollte drei Zeilen verbieten lassen, das ging bis zum Bundesgerichtshof. Horten habe ich in einem offenen Brief als meinen Förderer gepriesen, der mir zu Ruhm und Ansehen verhalf. Wenn ich Leute auf Lesungen diesen offenen Brief vorlese, merke ich, wie begeistert die Leute von der damaligen fein formulierten Frechheit sind, auch ich staune nachträglich über meine Lässigkeit.
PH Die Schweizer Psychoanalytikerin Verena Kast ist der Meinung, dass das Selbstvertrauen von Menschen wächst, wenn sie ihre eigensinnigen Seiten hervorholen, pflegen, danach handeln …
DELIUS Dafür könnte ich als Beispiel dienen, das habe ich auch in mehreren Büchern angedeutet. Wie der Stotterer aus seiner Liebe zur Literatur Selbstvertrauen bezieht. Ich könnte schrittweise aufzählen, in welcher Phase meines Lebens mit welchem literarischen Projekt ich welches Stadium von Selbstbewusstsein erreicht habe.
PH Können Sie eigentlich heute in der Rückschau erklären, warum Sie als Kind gestottert haben?
DELIUS Da das Stottern nur bei Autoritätspersonen auftrat und nicht, wenn ich mit meinen Freunden auf der Straße Fußball spielte, glaube ich, dass ich – ohnehin ein stilles, schüchternes Kind – zusätzlich unter der Strenge meines Vaters gelitten habe.
PH Es gibt in der Psychologie viele neuere Studien über introvertierte Menschen, die ein sehr positives Bild zeigen. Man sagt, dass diese fantasievoller und assoziativer denken, Informationen tiefer verarbeiten.
DELIUS Das höre ich gern, das ist Wasser auf meine Mühle, das habe ich oft bestätigt gefunden. Ich muss sagen, dass ich ein bekennender Introvertierter bin. Dass jemand, der ruhiger ist, nach innen horcht, eine gute Wahrnehmung hat, viel mitbekommt, assoziativ und fantasiestark denkt, ist offensichtlich – und das hilft beim Schreiben sehr.
PH Sie sprachen vorhin von einem Weg hin zu mehr Selbstvertrauen. Ist diese Entwicklung denn irgendwann mal zu Ende?
DELIUS Sie meinen, ob es immer noch was zu lernen gibt in Sachen Selbstvertrauen? (Lacht.) Doch. Es fällt mir immer noch schwer, mich über schlechte Kritiken nicht zu ärgern. Klug verrissen zu werden, kann ehrenvoll sein. Aber aus Häme oder Gemeinheit oder Dummheit, das kann mich so in Rage bringen, dass mir vorübergehend das Selbstvertrauen nicht hilft, ein paar haltbare Bücher produziert zu haben und mit ein paar anständigen Preisen belohnt worden zu sein. Da könnte ich noch lernen. Und: mit diesem Pfund des Selbstvertrauens mehr zu wuchern.
Mit Friedrich Christian Delius sprach Anne Otto.