Friedrich Christian Delius, FCD

Mit Parag Khanna: Wenn die Chinesen Rügen kaufen …

Wenn die Chinesen Rügen kaufen

Der deutsche Schriftsteller Friedrich Christian Delius und der amerikanische Politikwissenschaftler Parag Khanna im Gespräch über die plötzliche Omnipräsenz Asiens und warum es Europa nicht gelingt, das auch als Chance zu begreifen.

Berlin – Der jüngste Roman des Büchnerpreisträgers von 2011 Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, hat den Titel „Wenn die Chinesen Rügen kaufen, denkt an mich“. Er erschien im Rowohlt Berlin Verlag. Parag Khanna wurde 1977 im indischen Kanpur geboren. Der US-Bürger lebt in Singapur und arbeitet u.a. als Berater. Sein jüngstes Buch „Unsere asiatische Zukunft“ erschien dieses Jahr ebenfalls bei Rowohlt Berlin. Das Gespräch führte Arno Widmann.

Arno Widmann: Parag Khannas Buch beginnt mit einer Erinnerung an den Mai 2017. Damals trafen sich in Peking Vertreter aus 68 Ländern, die Hälfte des weltweiten Bruttoinlandsprodukts, zum ersten Gipfel der chinesischen Belt and Road Initiative, zum Start der Neuen Seidenstraße also. Beginnen wir mit Delius. Sein Roman ist das 2017/18 spielende Tagebuch eines entlassenen Redakteurs, der sich Gedanken über den Weltlauf macht. Um ihre Großbanken zu retten, notiert er, treiben die Europäer Griechenland in den Ruin. Das Land muss u.a. den Hafen von Piräus verkaufen und begibt sich damit auch politisch in Abhängigkeit des den Weltmarkt erobernden China.

Friedrich Christian Delius: Nun, das sind die Fakten, das ist keine Apokalypse. Der Journalist beschäftigt sich mit Yanis Varoufakis’ „Die ganze Geschichte“ und ist, wie wohl jeder, der das tat, entsetzt über die dreiste Dummheit der Troika-Europäer, die sehenden Auges Europa zerstören.

Parag Khanna: „Die ganze Geschichte“ heißt es in Deutschland? Der englische Titel ist so schön ironisch: „Adults In the Room: My Battle With Europe’s Deep Establishment“.

Delius: Die Piräus-Verschleuderung nahm in Europa kaum jemand ernst. Der Umfang des chinesischen weltweiten Engagements war damals wenigen bewusst, auch meinem Protagonisten noch nicht richtig. Nun aber kommt es zu heftigen Gedankensprüngen, von den Seidenstraßen bis nach Rügen.

Widmann: Herr Khanna, Ihr Buch heißt nicht „Unsere chinesische“, sondern „Unsere asiatische Zukunft“.

Khanna: In Asien wächst zusammen, was zusammengehört. Was in Asien passiert, ist nicht in erster Linie ein Angriff auf uns. Es ist die Wiederauferstehung Asiens nach fünfhundert Jahren Kolonialismus und Kaltem Krieg. Der Zerfall der Sowjetunion im Jahre 1991 war für Asien die Wende. Die letzten dreißig Jahre verbrachten die Asiaten damit, ihre alten Beziehungen wieder herzustellen. Das ist ihnen in einem überraschenden Umfang gelungen. Piräus ist ein wichtiger Meilenstein in dieser Entwicklung. Die Verpachtung an China hat Piräus gut getan. Piräus ist heute der fünftgrößte Containerhafen Europas. Dass Deutschland Anfang dieses Jahres sich gegen eine Beteiligung Italiens an der chinesischen Belt and Road Initiative stemmte, hat einen sehr einfachen Grund: Hamburg hat Angst vor dem, was ein chinesisches Engagement aus Triest machen könnte. Der italienische Hafen ist 600 Kilometer näher an München als Hamburg.

Delius: Dass Piräus jetzt floriert, dass es mehr Arbeitsplätze gibt, wird mein Journalist nicht bestreiten. Darum geht es ihm nicht. Er beobachtet nur genauer, wie ökonomische Macht schleichend oder offen zu politischer Macht wird. Unsere mühsam erkämpfte Gewaltenteilung und die Grundrechte, das sind nicht gerade die Maximen Chinas, und mein Journalist, wundert sich da nur, wie wir an so vielen Punkten defensiv werden. Gerade die Deutschen, die immer noch meinen, fast überall die besten und tollsten zu sein. Dieser fürchterliche Weltmeisterfimmel macht uns so blind für die wirkliche Lage und die Zukunft. Das ist das eigentliche Thema meines Buches, die maßlose deutsche Selbstgefälligkeit bei gleichzeitig „stümperhafter“ (Adam Tooze) Euro-Politik.

Khanna: Natürlich stellt sich bei jeder chinesischen Übernahme, bei jeder Kooperation irgendwann die Frage: Kommen wir den Chinesen zu weit entgegen? Sind wir noch wir oder fangen wir an, wie Chinesen zu handeln? Sie haben Recht, es kommt vor, dass wir unsere Kritik verschweigen, dass wir unsere Standards senken. Aber das war dann unsere Entscheidung. Es ist unser Fehler.

Delius: Selbstverständlich. Als deutscher Schriftsteller, der sich immer wieder mit deutscher Geschichte und politischer Gegenwart beschäftigt hat, weiß ich schon ganz gut, an wen ich zuerst meine Kritik zu adressieren habe. Oder ich kann das Dilemma beschreiben: Auf Instagram hat Daimler-Benz mit einem Spruch des Dalai Lama geworben. Dafür entschuldigte sich der Konzern umgehend, die Gefühle des chinesischen Volkes seien verletzt worden, man werde „sofort Schritte unternehmen, um unser Verständnis für die chinesische Kultur und Werte zu vertiefen“. Es habe keinen Druck der chinesischen Behörden gegeben, betonte der Konzern. Der Druck wird nicht ausbleiben, da Chinas Regierung plant, bis 2049 – einhundert Jahre nach Gründung der Volksrepublik – das Land zur größten Industriemacht der Welt zu machen. Natürlich gehen die Chinesen überall hin, wohin sie gehen können. Aber: Man sollte es einer Wirtschaft, die von einer Diktatur gestärkt wird, nicht so leicht machen, wie die Europäer mit Piräus, Griechenland, Ungarn, Zypern, Portugal usw.

Khanna: Was ist Besonderes daran, wenn China expandiert? Warum tun wir so, als wäre China die Ausnahme? Noch etwas: „Weltdominanz“ ist noch keinem geglückt. Deutschland und Japan sind im vergangenen Jahrhundert sehr schnell damit gescheitert. China war in viertausend Jahren nicht einmal die dominante Macht Asiens. Der letzte Versuch einer asiatischen Großmachtpolitik ging von Japan aus. Nicht von China. Die Geschichte Asiens war fast immer multipolar. Die große Ausnahme sind die Mongolen. Die eroberten China. Nicht umgekehrt. Außerdem: Schon heute gibt es so viel Widerstand gegen den chinesischen Expansionsdrang, dass es schwer fällt, sich vorzustellen, es könnte jemals ein chinesisches Imperium geben. Nicht in Asien und schon gar nicht im Rest der Welt. Sehen Sie sich an, was in Sri Lanka passierte: Der Präsident, der Hafen und Flughafen Hambantota für 99 Jahre China überschrieb, musste gehen. Ich glaube nicht, dass in den nächsten 150 Jahren noch irgendein Politiker auf Sri Lanka eine Chance hat, der mit den Chinesen liebäugelt. Das ist nur eines von vielen Beispielen in meinem Buch, die zeigen, dass China nicht immer gewinnt.

Widmann: Herr Khanna, „Unsere asiatische Zukunft“ heißt Ihr Buch. Wer ist „unsere“?

Khanna: Wir alle. Die Brasilianer, die Araber, die Deutschen sollen sich fragen: Wie bitte, ich habe eine asiatische Zukunft? Wir werden nicht unsere Identitäten aufgeben, aber Asien wird in unser aller Zukunft eine Rolle spielen.

Delius: Ich bin Schriftsteller. Ich darf Ich sagen. Das ist mein Privileg. Niemand denkt bis in alle Verästelungen hinein so wie ich. Dann erfinde ich mir noch einen hinzu, der ein wenig so denkt wie ich. Wir sind dann zwei, die sich tollkühn auf die Gegenwart einlassen. Aber zu einem weltumspannenden Wir werde ich es nie bringen, deshalb kann ich mir in diesem Tagebuchroman viel Witz und Ironie erlauben.

Khanna: Wenn ich hier in unserem Gespräch „Wir“ sage, dann meine ich wir Deutschen, wir Europäer. Ich kann mich sehr gut in die deutsche Lage versetzen und hier auch Politik-Beratung machen. Meine eigentliche Identität – ich bin US-Bürger – spielt dabei keine Rolle. Das „Wir“ in Europa ist ein anderes „Wir“ als in den USA. Aber alle haben eine asiatische Zukunft. Bei SAP in Berlin kommt die Hälfte der Mitarbeiter aus Indien. Das ist unsere Lage.

Delius (schaut zu Widmann): Uns Ältere wird es weniger betreffen. Darum richtet meine Figur sich auch an seine Nichte, an die nächste Generation. Die wird vielleicht in zwanzig, dreißig Jahren in diese Aufzeichnungen blicken und sagen: So ein Trottel oder: So falsch lag mein Onkel damals nicht.

Khanna: Das ist sehr kluges erzählerisches Verfahren. Heute wird ein Kind in New York geboren, und es kann in eine Kita, in der es von Anfang an Chinesisch lernt. Ich kam als Austauschschüler nach Deutschland. Heute gehen die jungen Leute für ein Jahr nach Japan, Korea oder China. Die großen Universitäten der USA haben „Filialen“ an den unterschiedlichsten Orten der Welt. Sie müssen, um einen Yale-Abschluss zu bekommen, nicht nach New Haven in Connecticut. Sie können das auch in Singapur tun. Viele amerikanische Studenten machen genau das. Diese Generation wird ganz selbstverständlich in einer auch von Asien geprägten Welt leben.

Delius: Wer die Presse gründlich liest, weiß halbwegs, was auf uns zukommt. Sie haben in Ihrem Buch die Fakten hervorragend zusammengetragen. Aber die meisten Informationen sind unbequem, und die Mehrheit der Leute ist zu faul zum Denken. Auch Abgeordnete könnten besser Bescheid wissen.

Khanna: Ich komme gerade vom Bundestag. Dort habe ich mit zwei Abgeordneten und ihren Mitarbeitern gesprochen. Sie sind sehr vertraut nicht nur mit der Anwesenheit asiatischer Firmen in ihren Wahlkreisen, sondern auch mit den internationalen Trends. Aber was die Bundesregierung, was Europa mit dieser Kompetenz machen, das ist eine ganz andere Frage.

Delius: Die Entwicklung ist ja ungeheuer dynamisch. Was sich seit Mai 2017, seit der Verkündigung der Seidenstraße-Projekte alles ereignet hat!

Khanna: Die Beschleunigung spielt sicher eine Rolle. Aber wichtiger noch ist das Ansteigen der Komplexität. Es gibt viel mehr Player als früher, sie alle interagieren. Je komplexer die Situation ist, desto unübersichtlicher ist sie, desto schwerer tun sich die Politiker mit der Entscheidung. Auch China ist dieser Komplexität ausgesetzt. Ich halte nichts davon, derzeit herrschende Trends einfach hochzurechnen. China erlebt Rückschläge und es wird weitere erleben. Herr Delius, warum Rügen?

Delius: Der Titel macht neugierig. Es geht dem Erzähler nicht nur um einen der großen Orte der deutschen Romantik, um den Caspar- David-Friedrich-Komplex. Sehen Sie, ich kenne das toskanische Prato, einer der traditionsreichen europäischen Textilstandorte, heute die größte Chinatown Europas. Ich lese: Chinesische Milliardäre kaufen französische Weingüter – und preziöse Immobilien. Da ist die Assoziation „Rügen“ doch ganz naheliegend. Für einen Milliardär aus dem Land der Hochgeschwindigkeitszüge hätte der Rasende Roland, die alte Dampfeisenbahn der Insel, doch einen gewissen Reiz, das wäre ein erster Schritt. Der Witz in Richtung Zukunft wird verstanden, viele Leute kaufen das Buch auch wegen des Titels.

Widmann: Der Erzähler trifft am Ende keinen Chinesen auf Rügen.

Khanna: Die kommen noch.

Delius: Er sieht aber schon das Denkmal der Chinesen für Merkel auf dem Königstuhl.

(Berliner Zeitung / Frankfurter Rundschau, 17.11.2019)

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