Friedrich Christian Delius, FCD

Glossen

Jedes neue Buch ist ein Spiel mit dem Abgrund

Wolfgang Müller / Rainer Stollmann im Gespräch mit Friedrich Christian Delius (Dickinson College, 3/3/2000)

F.C. Delius liest einen Textauszug aus seinem Buch Die Flatterzunge, Rowohlt Verlag Reinbek 1999:

Wenn alle so frei wären wie ich, wenn alle es so machten wie ich, wenn jeder Deutsche einmal für 5 Sekunden AH wäre, ich habe es einmal ausgerechnet mit dem Taschenrechner, wenn alle 5 Sekunden ein Deutscher AH wäre, könnten es in einer Minute schon 12 sein, in 1 Stunde 720, an einem Tag 17.280, im Jahr 6.307.200 Menschen. In einem Jahr könnte also die Last, ein Mini-Hitler zu sein, schon auf gut 6 Millionen Deutsche verteilt werden. Greise, Kinder, Frauen, Behinderte, natürlich darf sich niemand entziehen, auch die frisch eingebürgerten Türken nicht. Nach ungefähr 13 Jahren wären alle 80 Millionen Deutsche dran gewesen, dann dürfen alle aufatmen, auch ich. Wenn es uns und der Welt gefällt, fangen wir dann noch einmal von vorn an, für die nächsten 13 Jahre, aber vorher schieben wir noch die Österreicher ein.

Glossen: Du glaubst eigentlich nicht, daß man den Faschismus bewältigen kann?

Delius: Was heißt bewältigen? Das ist dies schiefe, verlogene Wort aus den Sonntagsreden der fünfziger und sechziger Jahre: “Wir müssen die Vergangenheit bewältigen.” Damit war gemeint: sich ein bißchen erinnern, ein bißchen erschauern, dann abhaken und hinter sich lassen. Eine Form der Verdrängung also, nicht viel mehr, und das geht nun gerade nicht.

G: Wir können irgendeinen anderen Begriff nehmen, „verarbeiten”, „mit der Vergangenheit umgehen” — meine Frage zielt dahin, ob es überhaupt möglich ist, ein lebendiges Verhältnis zu dieser Vergangenheit aufzubauen.

D: Ja, natürlich.

G: Ich bin nicht sicher. Wir leben zwar weiter, aber man muß doch das, was gewesen ist, sozusagen subjektiv verflüssigen. Da sind schreckliche Katastrophen im 20sten Jahrhundert passiert; die muß man sich aneignen, verarbeiten und bewältigen, wie immer man das bezeichnet. Die Nachgeborenen müssen irgendwie damit umgehen. Kann man wirklich sicher sein, daß das geht, bei dem Ausmaß dieser Katastrophen?

D: Was heißt damit leben? Ich bin der Überzeugung, daß jede Generation davon viel wird erfahren müssen und auch wollen. Erst das Wissen von dieser Vergangenheit macht einen ja frei, damit zu leben. Wenn nur diese dumpfe Ahnung bleibt, daß da in unserem Land, in unseren Städten und Dörfern von unseren Vorfahren unermeßliche Verbrechen begangen worden sind, aber niemand konkret darüber spricht oder informiert, dann macht das unfrei, dann wird das Krampf. Erst wenn ein gewisses Quantum an Wissen, an Information da ist, kann man frei damit umgehen und damit leben.

G: Aber es ist ja durchaus denkbar, daß die subjektiven Kräfte dafür einfach nicht hinreichen, sondern daß etwas aufgehäuft worden ist im 20sten Jahrhundert, ein Block, der nicht mehr verarbeitet werden kann. Ich hatte die Stelle, die du vorgelesen hast, spontan so begriffen: Es geht nicht nur über den Kopf und über Aufklärung, sondern du schlägst Mimesis vor – jeder spielt einmal Adolf Hitler.

D: Ich schlage ja mit dieser Erzählung keine Therapien vor. Hier wird die Geschichte von jemandem erzählt, der auf sehr extreme und groteske Weise auf dieses Thema gestoßen wurde. Allerdings steckt die Ahnung darin, daß, wer einmal so etwas gemacht hat, wer einmal “Hitler” war, nie wieder da heraus kommt.

G: Ja, das meine ich. Können wir eigentlich sicher sein, daß in irgendeiner Weise Geschichtskatastrophen von solchem Ausmaß subjektiv bewältigt werden können oder ergibt sich ein vollkommen anderes Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart, als es in früheren Zeiten der Fall war?

D: Es ist ganz klar, diese Geschichte betrifft uns alle, obwohl wir eine andere Generation sind und die nächste Generation noch weiter entfernt davon ist. Allerdings müssen wir andere Mittel der Verarbeitung entwickeln als dieses falsche, groteske Schuldgefühl. Dadurch entsteht der Krampf. Zum Beispiel die Walser-Debatte, der fühlt sich ständig schuldig für etwas und wehrt sich sozusagen blind, schlägt um sich, um seine Schuld, die er gar nicht hat, los zu werden. Das ist das Alberne und Groteske. Hier in den USA, das fällt einem ja sofort auf, fühlt sich kein US-Amerikaner heute schuldig für das, was fünf, vier, drei Generationen vorher den Indianern angetan wurde. Und das war ein Völkermord.

G: Ja, natürlich.

D: Das war zwar eine völlig andere, doch auch eine furchtbar grausame Vernichtungs-Geschichte. Ich weiß nicht, ob man in hundert Jahren ähnlich historisch gelassen über den Massenmord an den Juden und die 60 Millionen Toten des zweiten Weltkriegs reden wird. Auf jeden Fall hat unsere Generation die Aufgabe, das Problem mit dem Schuldgefühl anzupacken, das der Generation unserer Eltern und Großeltern zukommen mag, aber nicht uns.

G: Trotzdem ist das Verhältnis beider Völker zu ihren Untaten noch immer voller Tücken. Wenn z. B. hier in den USA Holocaust-Museen betrieben werden, obwohl dies Verbrechen in Deutschland bzw. Europa stattgefunden hat, sollten dann die Deutschen nicht vielleicht ein Sklaverei- und ein Indianer-Museum mitten in Berlin bauen?

D: Viele der Überlebenden sind hier gelandet, sie haben nicht viele Länder gehabt, wo sie hin konnten. Hier sind sie geblieben, deshalb ist der Bau von Museen, die daran erinnern, natürlich auch eine Folge davon. Die Indianer konnten leider nicht bis Deutschland fliehen, der Weg war zu weit. Sie sind nur in das Karl May Land, in die Roman-Welt geflohen.

G: Aber mir scheint, daß in beiden Ländern das Schuldgefühl ghettoisiert wird und dann bei bestimmten Anlässen wieder zutage tritt. Es gibt eine interessante Antwort von Barbara Honigmann auf die Frage, warum sie nicht in Deutschland lebt, sondern in Straßburg. Sie sagt, sie möchte Jude sein außerhalb des Antisemitismus-Diskurses. Dieser Diskurs herrsche in Deutschland, in Frankreich sei das etwas einfacher.

D: Sicher.

G: Dieser Schulddiskurs an sich ist schon falsch, der Begriff Schuld paßt nicht, ich bin als nach 1945 Geborener nicht schuldig daran. Die nächste Generation ist nicht schuldig, aber sie ist verantwortlich dafür, daß so etwas nicht noch einmal passiert.

D: Scham ist angebracht, nicht Schuld oder Schuldgefühl. Ich glaube, Elie Wiesel hat diesen Rat schon vor Jahren gegeben.

G: Ich habe die Meldung über den deutschen Musiker, der in einem Hotel in Israel mit „Adolf Hitler” unterschrieben hat, in der Zeitung gelesen. Ich war sehr daran interessiert, zu wissen, was da eigentlich passiert ist. Später hörte ich, daß du ein Buch darüber geschrieben hast. Wenn ich mich dieses Stoffes angenommen hätte, wäre ich natürlich hingefahren und hätte den Betreffenden zu interviewen versucht. Wie bist du auf die Idee gekommen, dies nicht zu tun?

D: Ich habe es überlegt. Ich habe im Berliner Telefonbuch nachgekuckt, da stand er mit Name und Adresse. Aber ich wollte nicht eine bestimmte individuelle traurige Figur, vielleicht einen Psychopathen, der irgendeine persönliche Macke hat, nachzeichnen, sondern ich wollte diese Figur vorsichtig typisieren. Das ist auch ein schreibtechnisches Problem. Ein Journalist hätte den Mann interviewt, und das haben ja einige getan. Ein Schriftsteller muß ja viel, viel weiter gehen, und einer wie ich sucht immer auch die geeignete Form für seinen Gegenstand. Hier musste es die Ich-Form, das Tagebuch sein, die Figur also reflektionsfähig und beschränkt selbstkritisch und doch verräterisch. Also jemand, der partiell so vernünftig ist wie du und ich, zur Identifizierung einlädt, und dann doch wieder völlig danebenhaut. So kann Lesevergnügen entstehen, gerade durch Irritation. Darum habe ich nur die Informationen verarbeitet, die ich aus der Presse hatte. Im übrigen wollte ich das Ganze von der Musik her schreiben, also aus dem Alltag, den Freuden und dem Elend der Orchestermusiker, deshalb habe ich in dieser Richtung viel recherchiert.

G: Könntest du eine Erläuterung zu dem Begriff Dokumentarliteratur geben?

D: Sehr ungern! Ich bin früher ja festgelegt worden auf diese Gattung. Dabei habe ich mit dem, was ich damals gemacht habe, ja schon Parodien auf Dokumentarliteratur angefertigt. Das erste Buch, Wir Unternehmer (1966), das waren Protokolle eines CDU-Wirtschaftstages, die ich verfremdet habe, also zusammengekürzt und die absurdesten und schrägsten Sätze herausgezogen. Das hatte ich ursprünglich als Parodie auf die Stücke von Peter Weiss und Kipphardt konzipiert. Unsere Siemens-Welt (1972) war auch nicht ein ernsthaft-biederes dokumentarisches Projekt, sondern bereits das Spiel mit dieser Form. Eine „Festschrift” ist das dreifach hoch geschraubte Lob der Wirtschaft auf sich selber. Der Euphemismus als Kunstform des Kapitals, das war das Thema. Und ein literarisches Experiment: gibt es für die Sprache der Ökonomie eine literarische Sprache? Die dokumentarische Form hat ja ganz enge Grenzen. Als ich meinen ersten Roman Ein Held der inneren Sicherheit (1981) schrieb, habe ich erst richtig entdeckt, welche Freiheiten ich mit der Romanform habe. Das Material, die sogenannten Dokumente kann ich auf Figuren und Handlung verteilen, kann viel besser und freier damit jonglieren. Um die Frage zu beantworten: Dokumentarliteratur ist eine notwendige, aber vergleichsweise primitive Kunstform.

G: Nun gibt es ja Autoren, die sich in hohem Maße von der Literatur anregen lassen und nicht von Schnipseln der Wirklichkeit. Bei Arno Schmidt ist das klar, aber bei dir ist es doch so, du nimmst starken Anteil an Vorfällen der Wirklichkeit.

D: Why not?

G: Natürlich – ich will das bloß festhalten. Würdest du dich als Realisten bezeichnen?

D: Ich kann mit diesen Begriffen nicht arbeiten, die kommen in meinem Vokabular nicht vor. Den Begriff Realismus hab ich schon in meiner Dissertation “Der Held und sein Wetter” zu dekonstruieren versucht …

G: Da ist so ein Stückchen Realität, der oben erwähnte Vorfall, das liest du in der Zeitung. Jetzt gehst du sehr frei damit um und gehst davon aus, daß dies irgendeine allgemeine Bedeutung hat. Ein Dokumentarist hätte den Fall aufgerollt, wäre hingegangen, hätte Interviews verfaßt und hätte sich eher gescheut, das zu machen, was du tust, also mit der Phantasie erklären, erläutern. Das sind doch zwei verschiedene Haltungen?

D: Aber wer ist jetzt der größere Realist? Die Realität gibt es doch nicht.

G: Mir geht es um den Verarbeitungsprozeß. Wir haben die Phantasie, wir haben unsere Gedanken, Realität, Empirie, und erkennbar hast du doch eine Neigung, mehr mit Wirklichkeitssplittern umzugehen und sie zu verarbeiten, was man bei anderen nicht unbedingt so sagen kann.

D: Schiller hat den Stoff der Räuber auch aus der Zeitung, Keller den von Romeo und Julia auf dem Dorfe auch, und so weiter. Der Anlaß, die Anstiftung zu einem Werk sagt ja über Methode und Form erst einmal gar nichts aus. Bei mir ist es die Neugier, die mich anstiftet. Ich bin einfach neugierig auf das, was um mich herum passiert. Ich schreibe nicht, weil ich eine Meinung verkünden will, sondern im Gegenteil, weil ich genauer wissen will, was geschieht und geschehen ist, und das kriege ich nur durch das Schreiben heraus. Die Flatterzunge ist da ein untypisches, aber auch ein typisches Beispiel. Da frage ich mich, wie alle anderen Zeitungsleser auch: wie kommt ein Mann, ein Musiker, ein gebildeter Mensch dazu, so etwas in Tel Aviv zu machen? Und irgendwann packt mich die Frage so, daß ich sage, das will ich nun wirklich wissen. Ich kann das aber eben nicht wissenschaftlich oder in einer dokumentarischen, journalistischen Weise machen, ich will einen Menschen zeigen in seinen Widersprüchen, in seinen Reibungen mit der Gesellschaft.

G: Der Hannes in Die Flatterzunge ist eine sehr deutsche Figur, mit dieser Ambivalenz, mit den übertriebenen Sekundärtugenden, der Ordnungsliebe auf der einen Seite, aber auch mit dem Gefühl, Opfer zu sein auf der anderen.

D: Gut möglich, aber das ist nicht geplant, jedenfalls nicht in dieser Eindeutigkeit. Ich versuche erst einmal, die Geschichte zu erzählen, so gut ich kann. Ich denke an die Stimmigkeit der Figur, aber nicht an Deutschland oder an den typisch Deutschen, das geht nicht. Solche Folgerungen, Interpretationen und Fragen sind eigentlich euer business, ich versuche mich da eher zurückzuhalten.

G: Aber das Buch ist sehr nah dran an deutscher Befindlichkeit, nicht wahr?

D: Ja, sicher, so ist die Rezeption der Leser und auch der Presse. Aber was ist denn nicht deutsche Befindlichkeit? Ich schreibe über einen Posaunisten in Tel Aviv, schon bin ich in der sogenannten deutschen Befindlichkeit. Ich habe das Buch angefangen, bevor die Walser-Debatte ausbrach, und sie war schon vorbei, als das Buch herauskam; insofern steht es auch ein bißchen im Schatten dieser ganzen Debatte.

G: Ich habe deine Geschichte beim Lesen für plausibel gehalten und zunächst angenommen, daß er sich so verblüffend alltäglich verhalten hat, bevor der Stoff in die Mühle der political correctness geriet. Nun bemerke ich aber, dass dich der individuelle Fall eigentlich nicht interessiert.

D: Das habe ich nicht gesagt. Aber ich verwandle, transponiere, forme doch um und subjektiviere. Als Autor bin ich, und sei es nur zu fünf Prozent, ein Teil meiner Figuren, etwa so, als wäre mir selber so etwas unterlaufen. Ich bin also auch der Kellner aus Rostock im Spaziergang von Rostock nach Syrakus, der Bauer in Die Birnen von Ribbeck, der Schreiber eines Unternehmerchefs in Ein Held der inneren Sicherheit usw. Ich gebe zu, daß mir das Spaß macht, in diesen verschiedenen Rollen zu agieren – mit Distanz, aber diese Rolle zu spielen und sie gut zu spielen, bis zur Grenze der Verwechslung. Hier in der Flatterzunge kann ich ein bißchen von dem schreiben, wie ich durch Tel Aviv und Jerusalem gelaufen bin, von den Empfindungen dabei, von der Befangenheit, von der Angst, etwas falsch zu machen, und dem Krampf, der sich dann einstellt.

G: Die Flatterzunge ist ein passender Titel, weil das Wort enthält, hier kann einer Geheimnisse nicht bei sich behalten. Zum Baß — es war doch in der Realität ein Bassist — läßt sich eine solche Verbindung nicht knüpfen.

D: Das war nicht so abstrakt gedacht, sondern weil ich selber mal eine Posaune hatte, als ich fünfzehn war und ein Jahr lang darauf herumdilettiert habe. Da wollte ich wenigstens ein Instrument nehmen, das ich schon einmal in der Hand gehabt hatte und ein wenig kenne. Deshalb war mir ganz am Anfang klar, wenn ich diese Geschichte schreibe, dann nur mit Posaune.

G: Wie arbeitest du? Hast du einen Einfall und schreibst dann zehn druckreife Seiten? Oder setzt du dich pflichtbewußt hin, nimmst dir deine Manuskripte immer wieder vor und überarbeitest sie?

D: Ja, es gibt so eine Pflicht zum guten Satz, zur möglichst differenzierten und möglichst klaren Sprache. Ich brauche lange, ehe was anfängt. Dann versuche ich, eine erste Fassung zu schreiben, zwei, drei Seiten pro Tag. Wenn das Ganze einmal durch ist bis zum Ende des Tunnels, muß kräftig nachgearbeitet, ausgefeilt und korrigiert werden.

G: Wir werden ja ständig überflutet mit all diesen Geschichten, es ist fast wie, auf Englisch würde man vielleicht sagen, “white noise”, das einen ständig umgibt. Wie kann man überhaupt noch schreiben unter diesen Bedingungen, wo alle alles über alle wissen und auch öffentlich sagen. Empfindest du das als Druck?

D: Der Witz ist ja: Alle tun so, als würden sie alles wissen. Aber das stimmt natürlich nicht. Nehmen wir ein Beispiel. Ich habe mich in drei Romanen ziemlich lange mit dem Terrorismus der RAF und den Ereignissen der 70er Jahre auseinandergesetzt. Das war natürlich ein Thema, das in den Medien präsent war wie kaum ein anderes. Aber gleichzeitig hat es alle irgendwie gelähmt. Mich hat jetzt interessiert, woher diese Lähmung? Warum sieht es so aus, als hätte die Gesellschaft diesen Terrorismus “gebraucht”? Was sind die Gemeinsamkeiten zwischen den Bekämpfern und den Verteidigern des Staates, wo haben sie sich ergänzt? Kurz, ich wiederhole ja keine allseits bekannten news, sondern ich frage, schreibend: Was ist hinter den Schlagzeilen, was ist hinter dem, was jeden Tag an Nachrichten war? Das ist die große Chance von Literatur nach wie vor, hinter dieses “white noise” zu kommen. Es braucht den poetischen Umgang mit den “Fakten”. Also, es schreckt mich nicht, daß rund um die Uhr die Nachrichten laufen, alle Leute sich aus den Zeitungen oder dem Internet die Nachrichten holen, daß wir voll sind mit Nachrichten, von denen wir 90% sofort danach vergessen. Meine Stoffe suche ich nicht, schon gar nicht in den Nachrichten. Ich finde sie. Manchmal ist es der Zufall, der einem hilft, wie bei der Geschichte vom Kellner aus Rostock. Zufällig an einem verregneten Ostersamstag auf Rügen lese ich die Ostsee-Zeitung Rostock, die ich ja sonst nicht lese, da gibt es eine kleinere Reportage über diesen Mann. So etwas hebe ich auf, lasse das 1 1/2 Jahre liegen. Oder auch in Ribbeck. Ich bin dahin gefahren, aufs Dorf, kurz nach dem Fall der Mauer. Da läuft uns ein Bauer über den Weg und fängt an zu reden und zu reden und hört nicht auf. Daraus entsteht dann Literatur. Literatur als Finderlohn.

G: Die Flatterzunge geht auch über die letzten 50 Jahre oder 60 Jahre hinaus — Es geht nicht nur um spezifische deutsche Schuld und Verstrickung, deutsche Verbrechen und Reaktionen darauf. Es geht auch allgemein darum, wie sich jemand verhält, der einmal in eine “box” hineingeraten ist? Was immer er tut, ist falsch, er kommt nicht wieder heraus. Jemand, der als Verbrecher oder als Hexe oder als Häretiker bezeichnet wird, mag tun, was er will. Alles, was er tut, wird in diese Richtung hin interpretiert. Ist das nicht bei aller Aktualität auch ein impliziter Angriff auf historisches Denken. Die allgemeine Frage, die sich für mich daran knüpft, ist, wenn Gleichnishaftes in Deinen Texten entsteht, in denen sich die Wirklichkeit, die Realität, die Details vieler Zeiten wiederfinden, dann widerspricht das dem linken Zeitgeist, den wir aus den 60er und 70er Jahren übernommen haben, der auf der „Historizität” von Ereignissen besteht. Um ein konkretes Beispiel, d. h. ein Beispiel aus einem literarischen Text, von zeitlosen Verhaltensweisen anzuführen: Bei Umberto Eco in Der Name der Rose gibt es eine Szene, in der er einen Hexenprozeß beschreibt. Die unschuldige Frau wird gefoltert, bestreitet alles , aber schließlich sagt sie: „Ja, ich bin eine Hexe”. Dieser Mechanismus ist in Die Flatterzunge auch vorhanden — natürlich geht es dort nicht um Folterung und Mord. Alle erwarten, daß in diesem besonderen Deutschen ein kleiner Hitler steckt, weil er eben in jedem Deutschen steckt; also gut, dann bin ich es eben, sagt sich der Protagonist in einer merkwürdigen Mischung aus Trotz und Affirmation der Erwartungen.

D: In der Flatterzunge ergibt sich diese Mischung von Trotz und Affirmation auch aus der Figurenkonstellation. Der imaginierte Gesprächspartner des Musikers ist ja ein Richter. Dem unterwirft er sich, vor dem buckelt er, auch wenn er ihn und alle andern angreift und seine Unschuld beweisen will. Er erwartet sein Urteil von oben, das macht ihn wieder zum Untertan.

G: Das ist ja eine sehr deutsche Situation, dieses ständige Gefühl, einen Richter über sich zu haben. Das ist die verinnerlichte Autorität. — Noch eine andere Frage, manche Autoren sagen, beim Schreiben, beim Setzen der Wörter sei der Rhythmus am wichtigsten.

D: Da stimme ich voll zu. Ich bin jemand, der keinen einheitlichen Stil hat für alle seine Bücher, sondern ich brauche, wenn ich etwas Neues anfange, immer eine Weile, bis ich dafür den richtigen Rhythmus, Stil, Gestus gefunden habe. Für jedes Buch muß ich sozusagen den eigenen Takt finden, d.h. eigentlich nicht den eigenen, sondern den Takt, den die Geschichte fordert. Aus dem formt sich dann, wenn es gut geht, ein Rhythmus. Die Flatterzunge hat einen anderen Rhythmus als die Kellner-Geschichte, als Die Birnen von Ribbeck, als die Romane, das ist jedes Mal wieder anders. Ich habe neulich die amerikanische Übersetzung von Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde gesehen. Ich habe das gelesen und hatte das Gefühl, dieser Rhythmus ist da, und das ist entscheidend.

G: Ist das gegenwärtige Deutschland ein guter Platz zum Schreiben?

D: Ja, ich habe schon kurz nach der Wende die These aufgestellt: nie waren die Zeiten für Schriftsteller so gut wie heute. Das war besonders gegen diese Jammerei, meistens von Autoren der untergegangenen DDR, gerichtet, die jetzt alles so schlimm und katastrophal fanden. Zwei Gesellschaften verschmelzen ohne Krieg miteinander, Biographien biegen sich radikal um, völlig neue Schwierigkeiten des Alltags müssen bewältigt werden. Hier liegen ungeheure Stoffe, buchstäblich auf der Straße, und ich glaube, daß das viel zu wenig gesehen wurde von vielen. Es sind auch deshalb gute Zeiten für Schriftsteller, weil wir noch in einer kulturellen Blüte leben, die nach und nach ein bißchen abwelken wird. Auch was den Buchmarkt und die Förderung und Breite von Kultur betrifft, da darf man uns Deutsche beneiden. Das sehen gerade viele Schriftsteller nicht.

G: Gibt es eine Amerikanisierung des deutschen Buchmarktes?

D: Ja, natürlich, die Laufzeiten der Bücher werden kürzer, die Kriterien sind immer mehr Verkaufskriterien, das ist leider wahr.

G: Ich meine jetzt auch die vielen amerikanischen Übersetzungen, die den deutschen Buchmarkt überrollen. Und deutsche Schriftsteller schreiben schon so wie Amerikaner. Die sogenannte junge Generation verfaßt doch Bücher, die genauso gut in Amerika hätten geschrieben werden können.

D: Nun gut, jeder nach seiner Facon. Und was für eine Torheit in dieser Art Globalisierung steckt, wird sich irgendwann auch herumsprechen. Das Problem ist nur, daß die deutsche Literatur vor allen Dingen von der deutschen Literaturkritik seit längerem unterschätzt wird. Aber das ist ein Kapitel für sich, die Misere und Arroganz der deutschen Kritik, besonders wenn man sie mit der amerikanischen, der britischen, der französischen, der italienischen vergleicht. Ich spreche natürlich auch pro domo, und hier in Carlisle und im Internet, wo mich keiner hört, kann ich es ja mal laut sagen: ich fühle mich in Deutschland unterschätzt oder deutlich unter Wert gehandelt an der literarischen Börse – und für ein Dutzend Autoren etwa meiner Generation könnte ich das auch sagen und belegen, und es tut dann doch manchmal weh, wenn man sieht, wie mittelmäßiges, routiniertes Zeug aus den USA mit allen Mitteln gepuscht wird.

G: Gibt es Autoren, an denen du dich orientierst?

D: Ja, als ich angefangen habe, Prosa zu schreiben, habe ich mich an Wolfgang Koeppen zu orientieren versucht. Er ist ein großer und im Weltmaßstab unterschätzter Autor. Er hat diese Mischung aus einem unbestechlichen Blick auf die Realität und einer hohen poetischen Phantasie. Wie er historisches Wissen mit direkter Wahrnehmung verknüpft, und wie seine Melancholie mit Mythischem, Utopischen, Gleichnishaften, das ist ziemlich einmalig. Er hat in den fünfziger Jahren eine Technik entwickelt, die man später phantastischen Realismus genannt hat.

G: Es gibt wenige deutsche Autoren aus dem Westen, die eine Affinität gegenüber dem haben, was im Osten passiert. Woher kommt das?

D: Die Teilung war im Westen immer mehr akzeptiert und internalisiert als im Osten, und noch heute findet man in Köln oder Stuttgart nicht allzu viel Interesse für Leipzig oder Dresden. Ich kann nur sagen, warum das bei mir ein bißchen anders ist. Als jahrelanger Westberliner, der Freunde auch in Ostberlin hatte, meistens Schriftsteller, Künstler, hat mich immer interessiert, wie es denen in der DDR ging. Als Linker, der mit dem System der DDR nichts anfangen konnte und wollte, oder als Lektor, der versucht hat, einigen Autoren zu helfen, die in der DDR Schwierigkeiten hatten, hat mich das immer beschäftigt, was da in meiner unmittelbaren Nachbarschaft stattfand. Das andere ist, daß ich selber durch die Familie meiner Mutter ein halber Mecklenburger bin, aber während der DDR-Zeit nie das Bedürfnis hatte, dort oben nach meinen sogenannten Wurzeln zu suchen. Überspitzt könnte man sagen: nicht nur Deutschland war geteilt, auch ich war geteilt. Erst mit dem Niedergang, mit dem Ende der DDR, das mich tief im Innern irgendwie sehr befriedigt, erleichtert und entlastet hat, konnte ich diese innere Teilung aufheben – Die Birnen von Ribbeck sind auch aus Freude über den Fall der äußeren und inneren Grenzen entstanden, und ähnlich war es beim Spaziergang von Rostock nach Syrakus. Dazu kamen die glücklichen Funde bei diesen Büchern. Als ich daran arbeitete, war mir das Risiko klar, nun aus der Innenperspektive von DDR-Bürgern zu schreiben. Christoph Hein oder Volker Braun habe ich in Ribbeck nicht gesehen, und ich wußte nur, diese Geschichte mußte geschrieben werden, also mach ich eben den Versuch, ob ich das kann oder nicht, hatte ich mir gedacht. Jedes neue Buch ist ein Spiel mit dem Abgrund, sonst hat es ja keinen Sinn zu schreiben, wenn man nicht scheitern kann. Ähnlich war es beim Spaziergang, das Beschreiben der Innenwelt der DDR war dann mein Abenteuer, mein lebensgefährlicher, listenreicher Spaziergang nach Syrakus. Und in schwierigen Lagen hilft dann der Gedanke: wenn du das nicht schreibst, dann schreibt das keiner, es gibt auf der Welt nur einen einzigen Menschen, der das schreiben kann. Also versuche ich das eben.

G: Ist Flatterzunge ein komischer Text?

D: Es ist eine Groteske, der Anlaß ist auch ein grundkomischer.

G: Du läßt Komik zu, wenn sie aus dem Fluß des Rhythmus und der Situation entsteht. Aber du legst es nicht darauf an?

D: Ich liebe eigentlich die versteckte Komik, die man nicht auf den ersten Blick entdeckt. Und nicht nur hier, auch in anderen Büchern. Der wunderbare Germanist Egon Schwarz aus St. Louis hat mal einen Essay geschrieben über den “Humor bei Delius” am Beispiel des Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde, das hat mir natürlich sehr gefallen. Peter Rühmkorf hat vom „angeschnittenen Humor” bei der Flatterzunge gesprochen. Das ist, glaube ich, ein ganz guter Begriff aus dem Tennis und Tischtennis. Nicht geschmettert, sondern geschnitten, sogar noch feiner: angeschnitten.

G: Im Grunde hat dieses israelische Theater, das am Schluß der Erzählung Die Flatterzunge den Deutschen einlädt, die größte Portion Humor. Die Theaterleute lassen ihn sein, wie er will, und wollen ihn offen reden lassen.

D: Und spielen lassen. Humor über das falsche Schuldgefühl, das geht. Humor über die grauenhaften Verbrechen, das geht nicht. Und Martin Walser, behaupte ich mal, konnte nur zum umstrittenen Helden der deutschen Feuilletons werden, weil er keinen Humor hat. Und weil er diese Unterscheidung nicht macht.

G: Wie ist der Text “Die Schlacht um den Seelenfrieden” entstanden?

D: Nach einer Krankheit im Herbst 1999 habe ich mir, ich weiß nicht aus welchen masochistischen oder therapeutischen Gründen, als Lektüre für die Erholungswochen die Dokumentation über die Walser-Bubis-Debatte gesucht. Zum einen hatte ich das Gefühl, daß zu Walser entgegen allem Anschein längst noch nicht alles gesagt ist. Zum andern suchte ich offenbar die größte anzunehmende Herausforderung. Ich erhielt einen Rezensionsauftrag von der Zeit, aber denen war dann alles zu lang und zu sehr auf Walser bezogen. Ich konnte aber nicht anders, gekürzt hatte ich schon genug, und ich hatte keine Lust, das anderswo anzubieten. Und jetzt bin ich gespannt, wie die Leserinnen und Leser der Glossen reagieren.

(Glossen, Heft 11 – Dickinson College Homepage)

Impressum