Friedrich Christian Delius, FCD

Der einzelne Mensch im historischen Augenblick

Der einzelne Mensch im historischen Augenblick

Ein Interview des Badischen Tageblatts mit Friedrich Christian Delius über „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“, den Abschlußband seiner Romantrilogie über den Terrorismus.

BT: Herr Delius, Ihr Roman „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“ beginnt mit einem Zitat, das man kaum fassen kann. Da steht: „Ich habe ihn geliebt. Horst Herold (BKA) über Andreas Baader (RAF).“ Können Sie diese Aussage erklären oder haben Sie mit Ihrem Buch versucht, sie zu erklären?

Delius: Dieses Zitat ist tatsächlich der Motor des ganzen Buches. Mich hat genau das interessiert, diese verworrene Liebe, die da zwischen dem höchsten Ordnungshüter des Staates und dem obersten Terroristen auf der anderen Seite besteht. Der Roman ist ein Versuch, dieses Motto ein wenig zu erklären. Ich denke, daß ich im Buch beide Seiten nicht nur in ihrer Konfrontation zeige, in ihrem absoluten Kampf gegeneinander, sondern auch in ihren merkwürdigen Gemeinsamkeiten – bei allem was an Mord und Totschlag und Schlimmem beide Seiten trennt. Ich versuche, den Blick zu drehen, und beschreibe im Roman den Entpunkt des Terrorismus der siebziger Jahre als eine große Versöhnung, als die große bestandene Reifeprüfung des Staates.

BT: Sie sehen das historisch so oder in der Fiktion, als uneingelöste Utopie in der Vergangenheit?

Delius: Nein, ich sehe es wirklich so. Ich habe schon damals zu den Leuten gehört , die gesagt haben, das was die RAF da macht, bedeutet letztlich eine Stärkung des Staates. Die Entwicklung hat mich darin eigentlich nur bestätigt. Es ist ja ganz eindeutig, daß durch diese Aktivitäten der siebziger Jahre kein politischen Problem gelöst wurde, sondern daß die staatlichen Strukturen stärker wurden, also der Ausbau des Polizeiapparates, des Sicherheitswesen. Alles, was wir jetzt gewohnt sind an Kameras, die über unseren Köpfen auf den Straßen, in den Bahnhöfen hängen, ist ja in jener Zeit entstanden. Es hat also eine ungeheure Stärkung dieses Staates gegeben. Er ist stabiler geworden, auch selbstgefälliger dadurch. Die Herausforderung des Terrorismus bestanden zu haben – mit Mogadischu am Ende – hat zu einem starken Selbstbewußtsein der damals doch noch sehr unsicheren Bundesrepublik beitragen. Und erst da ist diese Haltung entstanden: “ Wir werden mit Gefahren fertig! Wir sind wieder wer!“ Das hat sich dann erst drei Jahre später in Bonn mit der Wende von der Regierung Helmut Schmidt zu Helmut Kohl politisch ausgedrückt. Und ich sehe da einen ganz eindeutigen Zusammenhang. Ich denke, daß dies ohne die – ich sage das jetzt ganz ironisch – „Mithilfe“ des Terrorismus so nicht möglich gewesen wäre.

BT: Da erheben sich zwei Fragen: Ihre Beschreibung dieser staatlichen Stabilität klingt sehr positiv. Aber damals wurden doch gehäuft Stimmen laut, die vor einem „Überwachungsstaat“ warnten, und als Normalbürger, der an Demonstrationen teilnahm, konnte man sich unter Umständen schon überwacht vorkommen. Zweitens: Jetzt, da der Terror von rechts losbricht, ist von dieser Stärke nach innen leider nichts mehr zu spüren.

Delius: Stabilität ist ja einerseits etwas sehr Sinnvolles. Ich würde nicht von „Überwachungsstaat“ reden, weil ich sehr vorsichtig bin mit vorschnellen Dämonisierungen und dergleichen. Aber daß wir uns eindeutig in diese Richtung bewegt haben, das kritisiere ich natürlich weiter.
Zum zweiten Teil der Frage: Es wurde für meine Begriffe ein ganz entscheidender Fehler vor einem Jahr in Hoyerswerda gemacht. Da wurden auf die Parole „Ausländer raus!“ gehorsam die Busse vorgefahren und die Asylanten weggeschafft, so daß die Leute, die dies forderten, sofort mit einem Sieg belohnt wurden. Daraus ist der Flächenbrand entstanden. Wenn damals der Staat so aufmerksam oder stabil gewesen wäre, das zu erfassen und richtig zu agieren, dann hätte er sich Hunderte und Tausende von Einsätzen heute, in Zukunft, anderswo ersparen können.

BT: Die Dramaturgie ihres Romans „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“ ist kühn. Der Roman spielt sich in den Minuten ab, in denen der Terrorist Sigurd Nagel, der Selbstmord begangen hat, stirbt. Ihr Roman „Adenauerplatz“ spielt in sieben Stunden, der neueste gewissermaßen in Sekunden.

Delius: Ja, entstanden ist die Idee aus dem, was man aus der Sterbeforschung weiß, daß Sterbende, ehe alles ganz verschwindet, eine euphorische Phase erleben – und die kann dem eigenen Empfinden nach auch sehr lang sein. Der ganze Lebensfilm kann in zwei oder drei Minuten ablaufen. Es stellt sich plötzlich alles, was war, schön dar. Das schien mir ein günstiger Ausgangspunkt zu sein.

BT: Welches Verhältnis haben Sie zu Ihrer Hauptfigur beim Schreiben entwickelt?

Delius: Viele Leute sagen, das sei nun Andreas Baader. Ich kann dazu nur sagen: Es gibt sicher viele biographische Elemente von Andreas Baader, die da eingebaut sind, aber mir kam es nicht darauf an, diese Figur zu imitieren, sondern einen Typus wie Baader zu erfassen. Ich habe meine eigene Figur geschaffen und habe ganz bewußt diese Figur nicht in der Sprache von Baader reden lassen. Dieser Sigurd Nagel entwickelt seine eigene Sprache dieses letzten, einen Augenblicks, der sehr verlängert ist.

BT: Und diese Sprache ist sehr lyrisch.

Delius: Ich glaube, daß ich ähnlich wie in den „Birnen von Ribbeck“ die lyrischen Elemente mit dokumentarischen Dingen, die eingestreut sind, und auch einer sehr rhythmisierten, dichten Prosasprache zusammengefügt habe.

BT: Das Buch heißt „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“. Man hätte es auch „Höllenfahrt“ nennen können. Inwieweit geht es um Gut und Böse?

Delius: Ich meine mit „Himmelfahrt“ zunächst das Gefühl, das die „Seele“ hat. Das Gefühl, daß es aufwärts geht. Es geht um den Aufstieg in die Höhe mit dem Blick nach unten. Das vermischt sich mit christlichen Motiven der Himmelfahrt, aber auch mit anderen Formeln – bei den alten Römern wurde die Seele von einem Adler getragen, auf vieles wird angespielt. Ich wollte ganz bewußt aus diesem Gut-Böse-Schema heraus. Natürlich wissen wir, daß jemand, der andere auf die gemeinste Weise umbringt, böse ist. Das stelle ich nicht in Frage. Aber ich glaube, als Schriftsteller kann man mit solchen Kriterien nicht arbeiten. Bei Nagel habe ich das nicht so sehr gedacht, aber in dem Roman „Ein Held der inneren Sicherheit“, in dem es um einen Jungmanager-Typ von einer eher unangenehmen Sorte geht, habe ich immer gedacht: beschreib ihn so, als könntest du das ein! Alles mischt sich in jedem von uns.

BT: Was erklärt das Buch „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“?

Delius: Mir haben Leute aus der früheren DDR gesagt, das sei ein Buch, an dem sie die Bundesrepublik verstehen gelernt hätten. Andere Leser haben mir gesagt, es sei sehr gut, daß man jetzt nochmals diese Ereignisse zusammen und anders gesehen habe. Dadurch würde klarer, was sich wirklich abgespielt habe. Jüngere Leser, die diese Ereignisse gar nicht mehr kennen, halten es zwar für ein hartes und schwieriges Buch, aber auch für schön, für „richtig schrille Literatur“. An all das habe ich natürlich nicht eigentlich gedacht, sondern ich wollte dieses Bild des deutschen Herbstes 1977 so differenziert wie möglich geben, weil über die RAF und das Umfeld so viel gelogen worden ist. Die RAF hat sich ständig selbst belogen, Polizei, Staat und Medien haben aber auch vieles schief dargestellt.

BT: Weil Sie von der falschen Darstellung reden: Zweifeln Sie daran, daß die Terroristen in Stammheim Selbstmord begangen haben?

Delius: Ich habe da keine eindeutige Meinung; ich denke nur, was man mittlerweile weiß, deutet wohl darauf hin, daß es schon ein Selbstmord war, aber ein geduldeter und begünstigter Selbstmord. Das wird im Schlußkapitel angedeutet.

BT: Der Terrorismus hat Sie jetzt also mehr als zehn Jahre beschäftigt. Wie ist er Ihr Thema geworden, wieso hat er Sie so lange beschäftigt und sind Sie zufrieden mit dem Ergebnis?

Delius: Ich habe 1978 angefangen mit dem ersten Roman, weil ich mir selbst einige Fragen beantworten wollte, weil ich wissen wollte, was in diesen Monaten 1977 eigentlich geschehen war. Warum wirkte alles so gelähmt, warum hat es uns so fasziniert? Aus diesen Fragen ist der erste Roman entstanden. Und dann hatte ich damals schon so eine Idee, daß man eigentlich noch zwei andere schreiben müßte. Ich hatte gerade meinen ersten Roman fertiggestellt und wollte mir andererseits nicht so etwas Größenwahnsinniges wie eine Trilogie vornehmen. Also habe ich es zunächst gelassen. Erst nach ein paar Jahren bin ich wieder an den Mogadischu-Stoff geraten und habe dann durch eine andere Entführung mitbekommen, daß dies eigentlich nicht nur die Geschichte des deutschen Herbstes ist, sondern daß da noch etwas ganz anderes Existenzielles mit drinsteckt. In dem Moment konnte ich es schreiben. Als ich das angefangen hatte, war mir klar, daß ich auch noch in das Herz der Sache vorstoßen mußte. Und das ist mit diesem letzten Buch geschehen. Ich habe diese drei Bücher in sehr verschiedenen Stilen geschrieben, die auch meine Entwicklung wiedergeben, und ich sehe da einen qualitativen Fortschritt.

BT: Hatten Sie je Kontakt zu den RAF-Terroristen?

Delius: Nein. Ich habe Gudrun Ensslin in meiner Studentenzeit vorn ferne gekannt. Aber die anderen habe ich nie gesehen.

BT: Das Gros der Autoren bei uns heute arbeitet nicht wie Sie, sondern privater. Sie haben dokumentarisch geschrieben, und Ihre Arbeit hat davon bis heute Anteile. Wieso?

Delius: In anderen Literaturen, in der latein- oder nordamerikanischen, in der spanischen zum Beispiel, ist das nicht ungewöhnlich, was ich mache. Beeinflußt hat mich die Auffassung des großen lateinamerikanischen Romanciers Alejo Carpentier, daß es wichtig sei, private Geschichten auch mit einem äußeren politischen Ereignis zu verbinden. Ich erzähle Geschichten von Menschen vor einem politischen Hintergrund. Und mich interessiert, was in diesen historischen Augenblicken eigentlich mit dem einzelnen passiert. Das ist meine ganz schlichte Frage. Ich habe gar kein großes politisches Programm.

(Gespräch mit Kirsten Voigt im Badischen Tagblatt, 31.10.1992)

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