Friedrich Christian Delius, FCD

Werner Wunderlich: Von der Lust zu reisen (Rhein-Neckar-Zeitung)

Von der Lust zu reisen

F.C. Delius über die Sehnsüchte eines DDR-Bürgers

„Ich schnallte in Grimma meinen Tornister, und wir gingen.“ Lapidarer Beginn eines berühmten Reiseberichts. Johann Gottfried Seume war 1802 wagemutig von Sachsen nach Sizilien gewandert. Seine Erlebnisse und Empfindungen hatte er aufgezeichnet und 1803 unter einem Titel veröffentlicht, der Gefahren und Beschwerlichkeiten der Reise ironisch beschönigte: „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“. Bemerkenswert an diesem Buch und einmalig unter den so zahlreichen Berichten von Bildungsreisen nach Italien ist seine Zeitkritik. In Form fiktiver Briefe schildert Seume gesellschaftliche Übelstände und beklagt Napoleons Verrat an der Französischen Revolution. Warum diese literaturhistorische Exkursion? Weil Delius mit seiner neuen Erzählung „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“ an Seume anknüpft.
Wenn es in der DDR eine Verordnung gab, die für diesen Staat symptomatisch und für seine Bewohner besonders unerträglich war, dann das Reiseverbot, mit dem das Regime seine Bürger an die Kandare nahm. Delius erzählt vom Kellner Paul Gompitz aus Rostock, dessen unstillbare Sehnsucht nach einer Reise umso größer wird, je mehr Schikanen er bewältigen muß. Dabei will er gar nicht wegbleiben, sondern wieder zurückkehren. Das System freilich zeigt kein Verständnis für seine Reisepläne. Eine ganz bestimmte Reise ist es, die er längst im Kopf hat: Auf Seumes Spuren will er nach Syrakus und zurück. Hartnäckig und listig trifft Paul über Jahre hinweg seine Reisevorbereitungen: Er lernt segeln, organisiert eine Jolle, schafft Westgeld auf die Seite, wechselt die Jobs für seinen Vorsatz, tarnt seine Absicht vor seiner Frau, trickst die Staatssicherheit aus… Und kurz vor der Wende segelt er tatsächlich nach Dänemark davon, um per Bahn nach Syrakus zu fahren. Wahrlich, kein Spaziergang dorthin – und zurück; denn Pauls „Bildungs- und Pilgerreise“ endet tatsächlich wieder in Rostock.
Delius‘ fast karge Prosa dokumentiert in dieser novellistischen Erzählung nüchtern die tragikomische Geschichte seines Helden, der reisen wollte, um bleiben zu können. Und der damit unfreiwillig zu einer Art Schwejk avancierte, der auf seine Weise mit dazu beitrug, daß sich das Volk bald darauf seines Staates entledigte, der ihm die Welt vorenthielt. Aber was hat Pauls Spaziergang mit jenem von Seume zu tun? Nun, Pauls freier Entschluß zu diesem Gang ähnelt Seumes Wanderung, die dieser auch als Selbstbefriedigung erlebt, und der Spaziergang nach Syrakus ist für Paul gleichsam ein Symbol dafür. Die Kraft einer literarischen Idee setzt Phantasie und Energie frei, die Pauls Hindernislauf vor seiner Fahrt und der eigentlichen Reise erst zum Erfolg verhelfen.
Wieder übt sich Delius in der „Kunst, in anderer Leute Köpfe zu denken“, wenn er Pauls Ängste und Träume, Wünsche und Sehnsüchte, Erlebnisse und Beobachtungen in dessen naiver Unerschütterlichkeit, lebenspraktischer Tüchtigkeit und mit dessen durchaus kritischem Sinn für Realitäten glaubhaft macht. Paul wird wie sein „Vorgänger“ Seume zum – allerdings eher unfreiwilligen – Kommentator der Lebensverhältnisse hüben und an der Lebensbedingungen drüben. Und auf beiden Seiten führt der Spaziergang durch Bereiche der Wirklichkeit, die als Satire oder Groteske Bestandteil einer kritikwürdigen Realität sind, die eine Natur wie Paul gewieft bewältigen und damit gelassen ertragen kann.
Man könnte gegen das Buch einwenden, es erscheine mit reichlicher Verspätung; denn was solle jener Blick zurück auf die Komik und Tragik der Reiseunfreiheit in der ehemaligen DDR? Aktualität erschließe er nicht. Aber darauf kommt es Delius vermutlich auch gar nicht an, wie sein anspielungsreicher Titel wohl signalisieren will. Es geht vielmehr um den – auch skurrilen – Behauptungswillen von Sehnsüchten gegen alle gesellschaftliche und staatliche Bevormundung. Und so ein literarisches Thema kann schlechterdings nicht Verspätung haben. Würden wir sonst heute noch Eulenspiegel, den Eisernen Gustav, Schwejk oder dem Hauptmann von Köpenick begegnen wollen?

(Werner Wunderlich, Rhein-Neckar-Zeitung, 6.12.1995)

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