Friedrich Christian Delius, FCD

Jürgen P. Wallmann: Rostock – Syrakus und zurück (Rheinische Post)

Rostock – Syrakus und zurück

Erzählung von Christian Friedrich Delius über eine unwahrscheinliche Reise

Nachdem Friedrich Christian Delius 1991 sein Buch “Die Birnen von Ribbeck” veröffentlicht hatte – erzählt wird darin vom großspurigen Auftreten Westberliner Besucher im havelländischen Ort Ribbeck nach der Öffnung der Mauer -, musste er sich heftige Vorwürfe anhören: Die “neuen Bundesbürger” könnten für sich selbst sprechen, hieß es. Es sei eine Anmaßung, daß Delius, der Westdeutsche, eine solche Geschichte erzähle. Heinz Czechowski beschuldigte ihn der “Usurpation eines DDR-Themas”. Und der Kritiker Reinhard Baumgart sprach gar von einem “Akt der Kolonisierung”, schließlich gebe es “genügend Autoren, die auf die jüngsten Veränderungen nicht von der Zuschauertribüne aus reagieren müssen”.
Ein groteskes Argument: Demnach hätte aber über Nazideutschland nur schreiben dürfen, wer dort auch gelebt hatte (Anna Seghers und Bertolt Brecht jedenfalls nicht). Und auch Dantes “Göttliche Komödie” wäre danach nicht geschrieben worden, war der Autor doch niemals in der Hölle. Nein, erzählen kann jeder über jedes Thema – wenn er es kann.
Delius jedenfalls ist es in seinem jüngsten Buch “Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus” gelungen, dem Leser die Geschichte eines DDR-Bürgers so glaubhaft und spannend zu erzählen, daß niemand den Autor nach seinem Personalausweis fragen wird. In dem steht übrigens, dies zur Irritation literarischer Grenzwärter, Rom als Geburtsort.
Der Kellner Paul Gompitz aus Rostock lebt gut, verdient gut. “Alles kannst du aushalten, die leeren Geschäfte, die kaputten Dächer, die dreckigen Bahnen, den Gestank des Sozialismus, aber was du nicht aushalten kannst, daß sie dich einsperren für immer, daß du nie was sehen wirst von der Welt, unter dieser Last kannst du nicht leben.”
So sagt sich Paul Gompitz und beschließt, die DDR für eine Weile zu verlassen; legal, wenn es sich machen läßt, und sonst eben illegal. Seit seiner Jugendzeit, seit er Johann Gottfried Seumes “Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802” gelesen hat, möchte er einmal im Leben nach Sizilien. Doch der “abgestürzte Intellektuelle”, der als Wehrdienstverweigerer vom Studium ausgeschlossen wurde und seitdem von der Staatssicherheit beobachtet wird, erhält keine Reisegenehmigung. Alle seine Anträge werden abgelehnt.
So plant er denn sieben Jahre lang seinen Grenzübertritt, ohne irgend jemanden einzuweihen, nicht einmal seine Ehefrau, die er nicht in Konflikte bringen will. Schließlich möchte er sie ja nicht verlassen, sondern nur ein paar Monate verreisen. Da er mit dem Boot über die Ostsee nach Dänemark will, lernt er Segeln, kauft ein kleines Boot und schafft, da er auf seiner Reise nicht von Almosen leben will, seine ersparten Devisen nach und nach in den Westen.
Das alles jedoch ist, zumal er mit ständiger Bespitzelung rechnen muß, mit hunderterlei Schwierigkeiten verbunden, die ihn jahrelang in Atem halten. Außerdem plant er seinen illegalen Grenzübertritt so, daß er nicht wegen “schweren”, sondern nur wegen “einfachen Grenzdurchbruchs” belangt werden kann. Er will ja nach seiner Reise unbedingt wieder nach Rostock zurück.
So unwahrscheinlich es klingt: Der Plan gelingt, Gompitz segelt im Juni 1988 in den Westen, reist durch die Bundesrepublik nach Italien, nach Syrakus, und kommt im Oktober zurück. Er wird an der Grenze festgenommen, verhört und nach einigen Wochen Aufenthalt im Aufnahmelager Röntgental bei Berlin nach Rostock entlassen. Ein Strafverfahren wird nicht eingeleitet.
Diese Geschichte, so märchenhaft sie erscheint, ist keineswegs erfunden. Sie hat sich genau so abgespielt, wie Delius sie erzählt hat. Nur die Namen sind verändert, der real existierende Italienreisende heißt Klaus Müller, und seine Ehefrau ist Ärztin, nicht, wie bei Delius, Bibliothekarin. Doch nicht das ist für das Buch ausschlaggebend; über seinen Wert entscheidet nicht, ob darin die sogenannte “Realität” mit der Erzählung deckungsgleich ist. Wichtiger ist, daß der Erzähler hier eine Figur sei es nachgezeichnet, sei es erfunden hat, die ihre eigene Glaubwürdigkeit besitzt.
Dieser Gompitz, eine Ausnahmegestalt ohne Zweifel, macht gerade im Extrem vieles von dem deutlich, was die Menschen in der DDR bewegt hat und von dem man sich im Westen nur schwer eine Vorstellung machen kann. Delius hat genau recherchiert, er hat sich, ohne sie zu bevormunden, in seine Figur hineinversetzt, hat ihr seine Stimme gegeben. Und er hat eine spannende Geschichte geschrieben, die den Leser in Atem hält und die dazu noch gut ausgeht. Das darf doch auch einmal sein?

(Jürgen P. Wallmann, Rheinische Post, 28.10.1995)

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