Stephan Reinhardt: Die Kreisläufe der Gewalt (FR)
Die Kreisläufe der Gewalt
F.C. Delius‘ „Mogadischu“-Roman
Mit dem Ausfüllen eines „Antrages auf Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für die Opfer von Gewalttaten“ beginnt Friedrich Christian Delius‘ neuer Roman Mogadischu Fensterplatz. Ausgefüllt wird dieser Antrag von einer jungen Frau, der dreißigjährigen Zoologin Andrea Boländer, einer Passagierin der „Landshut“, jener Lufthansamaschine, die im Oktober 1977 während der Schleyer-Entführung gekidnappt wurde. Fünf Wochen danach füllt die Tübinger Tierforscherin ihren Entschädigungsbogen aus, und Delius läßt nun aus ihrer Erinnerung und Perspektive noch einmal die Flugzeugentführung Revue passieren.
Als Andrea Boländer am 13. Oktober 1977 gemeinsam mit 85 weiteren Passagieren in Palma de Mallorca die „Landshut“ besteigt, um nach Frankfurt zurückzufliegen, beginnt sie sogleich einen Abschiedsbrief zu schreiben. Sie war zu ihrem Kurzurlaub nur deshalb nach Mallorca geflogen, um sich endlich darüber klar zu werden, welchem ihrer beiden Freunde in Tübingen sie den Laufpaß geben sollte. Als sie, auf ihrem Fensterplatz Reihe 10, dem Papier ihre Entscheidung anvertraut, geschieht es: „Hands up. Don’t move!“ Rufe, Schreie, Verwirrung – bis sich herausstellt, daß ein „Captain Jassid“ und drei weitere Personen mit Pistolen und Sprengstoff das Flugzeug in ihre Gewalt gebracht haben.
Was der jungen Wissenschaftlerin zunächst wie eine Filmszene erscheint, erweist sich in jeder Hinsicht als Wirklichkeit. Die vier Palästinenser, zwei Frauen und zwei Männer, die sich mit Zahlen anreden, versetzen die Fluggäste und Flugzeugbesatzung in Furcht und Schrecken: mit herrischen Kommandos, brutalen Schlägen und durch das Verweigern des Toilettenbesuchs. Am quälendsten jedoch empfindet Andrea Boländer die allgemeine Ungewißheit über ihr Schicksal. Nichts wird den Passagieren mitgeteilt, nichts verlautet über die Forderung der Entführer.
Delius, der sich auf veröffentlichte Zeugenberichte ehemaliger Geiseln stützt, beschreibt die Wahrnehmungen und Bewußtseinsinhalte der jungen Wissenschaftlerin, die in Tübingen „Ultraschallsinne schädlicher Insekten“ erforscht, fast mikroskopisch. Benennungs- und Unterscheidungsübungen – sie benennt und unterscheidet, was ihrem Gesichtskreis erschlossen ist – wechseln ab mit Tagträumen, „angenehmen Vergangenheiten“, in die sie sich aus ihrem Flugzeuggefängnis davonstiehlt. Und dann: Wie wäre es, wenn die Entführer das Flugzeug abstürzen ließen? Und sie wundert sich darüber, daß so viele Menschen sich gegen so wenige Peiniger nicht zur Wehr setzen.
Nach mehreren Starts und Landungen schwächen sich die schmerzhaft gewordene Erwartung, die atemlose Spannung vorübergehend wieder ab. „Captain“ Jassid gibt endlich die Bedingungen der vier palästinensischen Entführer bekannt: Die Flugzeuginsassen würden erst freigelassen, wenn die „imperialistische deutsche Regierung“ neun deutsche „Genossen aus den faschistischen deutschen Gefängnissen“ freiließe. Andernfalls werde die „Landshut“ in die Luft gesprengt.
Großen Wert legen die Entführer darauf, daß sie „Freiheitskämpfer und keine Terroristen“ sind. Eine Unterrichtsstunde erteilt Jassid den deutschen Urlaubern über die Geschichte des palästinensischen Volkes: die Briten hätten ihr Land „an die Zionisten verschachert“, „ganze Dörfer“ seien „niedergemetzelt“ worden, „eine Million Palästinenser zur Flucht getrieben“. Und: Der „Bonner Neo-Nazismus“ sei neben den USA der „wichtigste Verbündete“ des Zionismus. Seit dreißig Jahren „bettelten“ sie, die Palästinenser, vergeblich um ihre Rechte; vor den UN und selbst vor ihren arabischen Brüdern.
Jassids Verteidigung bleibt nicht ohne Wirkung auf Andrea Boländer. Wurden, denkt die politisch nicht sehr interessierte „Normalbürgerin“, die auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abitur nachgeholt und Biologie studiert hat, wurden die Palästinenser angesichts dieser Misere nicht dazu gezwungen, „zu immer gröberen Mitteln“ zu greifen?
Delius läßt sich nicht nur dokumentarisierend genau auf das äußere Geschehen in diesem Flugzeug ein, mit viel Sinn für feine Unterschiede zeichnet er Psychogramme von Opfern und Tätern.
Andrea Boländer fallen die ständigen Widersprüche im Verhalten Jassids auf: Einerseits droht er, eingeübt in die selbsttätigen Abläufe eines hijacking, mit der Erschießung des Flugkapitäns (die später auch erfolgt), andererseits läßt er mit Sekt den Geburtstag einer Stewardeß feiern. Er schlägt Frauen, die nichts als israelische Visen in ihren Pässen haben, und läßt dann plötzlich wieder von ihnen ab und verhält sich so, als wolle er einen Irrtum wiedergutmachen. Die „Kriegsreligion“, die Jassid innerlich ausstattet, vereinfacht alles zum Gut oder Böse, und die „Kriegslogik“, derer er sich dabei bedient, reduziert alles aufs Entweder-Oder. Im Kreislauf vererbter, sich stets neu zeugender Gewalt ist Jassid ein Teilchen, Teil eines Gewaltkreislaufs, der mit dem Genocid der Nazis begann. Aus diesem verhängnisvollen Kreislauf, so wird Andrea bewußt, gilt es auszubrechen, will man nicht immer nur alles verstehen und entschuldigen: „…wo keine Logik und kein Sinn und keine Humanität mehr zu finden sind, da landen wir bei den Vätern und Großvätern.“
Je länger diese Entführungstortur dauert, desto mehr wächst die Spannung in dem stinkenden, von der Körperwärme überhitzten Flugzeug. Diese Spannung fängt Delius ein. Körperliche Zustände werden immer bedrückender: das durch die lange Unbeweglichkeit ins Stocken geratene Blut, das Schmerzen der Glieder, die unerträglich werdende Schweißsekretion, die ins Unbeschreibliche sich ausweitenden sanitären Verhältnisse. Delius ist ein genauer Chronist dieser Einzelheiten. Spitzt sich das alles noch einmal zu, hat Andrea Boländer den Eindruck, sie erlebe alles nur wie auf einer Bühne. Und auch am Ende, als sich die Spannungszustände noch einmal gesteigert haben, halluziniert sie, daß Entführer und Befreier eins geworden sind. Tod oder Nichttod, das ist fast unwichtig geworden gegenüber der Tatsache, daß überhaupt etwas geschieht.
Delius beschreibt das Auf und Ab psychischer Vorgänge, die schließlich in Halluzinationen umschlagen, mit ebensoviel Feinsinn wie die erzwungenen Nachbarschaften Andrea Boländers: Petra, die sich in Diskotheken an Schönheitswettbewerben beteiligt, und Ingeborg, eine Kosmetikerin aus Heusenstamm. Delius kleidet die Rollenprosa seiner weiblichen Hauptfigur in eine gedrängte, manchmal gehetzt wirkende Sprache. Das entspricht gewiß dem Wahrnehmungsmuster der Situation, wirkt aber doch zuweilen zwanghaft (und sprachlich zu nüchtern).
Wen es stört, das Delius‘ Figur eine neutrale, unpolitische Beobachterin ist, der könnte das auch als listigen Schachzug des Autors auffassen: Das Geschehen wird dadurch authentischer und seine „Moral“ glaubhafter, die „Moral“, daß ohne Kenntnis der Motive der Gewalttäter sich Kreisläufe der Gewalt kaum durchbrechen lassen, zu durchbrechen aber gilt es sie, zumal wenn Schuldlose in diese tückischen mörderischen Kreisläufe geraten. In Mogadischu Fensterplatz hat Delius diesen Gewaltkreislauf spannend und subtil dargestellt: durch die Beschreibung der Vorgänge im Inneren des stickigen Flugzeugschlauchs während einer fünf Tage dauernden Odyssee zwischen Spanien, Arabien und Afrika.
(Stephan Reinhardt, Frankfurter Rundschau, 07.10.1987)