Michael Bauer: Zerstörte Klischees (NZZ)
Zerstörte Klischees
Friedrich Christian Delius: „Mogadischu Fensterplatz“
Dutzende schlechter amerikanischer Spielfilme haben unsere Vorstellung von Flugzeugkatastrophen und Luftpiraterie geprägt: nervöse Anweisungen smarter Piloten, Drohungen meist dunkelhäutiger Gewalttäter, verzerrte Kommandos eines fachkundigen Krisenstabes im Tower. Ergänzend dienen einsetzende Wehen oder das Fehlen eines lebensrettenden Medikamentes der Dramaturgie des Grauens ebenso wie kurze Zwischenschnitte: die brennende Tragfläche, die Tankanzeige, der Zeitzünder oder die Handgranate des Luftpiraten. Meist enden derartige Filme nach Heldentaten einzelner Nervenstarker auf dem weissen Schaumteppich einer Landepiste in Umarmungen weinender Wartender und ihrer erschöpften Angehörigen.
Pressebereichte über reale Ereignisse dieser Art greifen die Klischees amerikanischer Spielfilme auf: Phantombilder oder Fahndungsphotos kaltblütig wirkender Gewaltverbrecher einerseits, tränenüberströmte Kindergesichter und Amateurphotos der Opfer andererseits. Die Form der Berichterstattung entspricht dabei dem jeweiligen Medium, seinem Zuschauer- oder Leserkreis.
Zehn Jahre nach der spektakulären Entführung einer westdeutschen Passagiermaschine veröffentlichte Friedrich Christian Delius bei Rowohlt seinen Roman „Mogadischu Fensterplatz“. Das Buch ist weder Tatsachenbericht eines Gewaltverbrechens noch emotionsgeladener Augenzeugenbericht. Delius demonstriert in „Mogadischu“ Möglichkeiten des Romanciers, die weder dem Reporter noch dem Historiker zur Verfügung stehen. Sein dritter Roman bedient sich literarischer Mittel des „Psychothrillers, der Dokumentarliteratur und des historischen Romans; er ist die exakt recherchierte, erzählerisch gekonnt konstruierte und sprachlich brillante Schilderung von Ereignissen, die im Bewusstsein der Öffentlichkeit längst zu Historie erstarrt sind.
Am 17. Oktober 1977 entführten vier Palästinenser eine Lufthanse-Maschine auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt. Am fünften Tag der Geiselnahme erschossen sie auf der letzten der fünf Stationen dieser Flugzeugentführung den Piloten. Eine deutsche Elitetruppe stürmte die Maschine in Afrika und tötete drei Palästinenser.
In ihrer nächsten Ausgabe zeigten die Illustrierten daraufhin in nahezu identischen „Exklusivberichten“ die Gewalttäter, ihr Todesopfer sowie halbnackte Mädchen auf der Tanzfläche einer Diskothek. Die Bildunterschriften nannten die Namen der drei braungebrannten Touristinnen, die im Diskofieber beinahe den Rückflug nach Frankfurt verpasst hatten und so der Flugzeugentführung entgangen wären. Analog die Sensationsphotos der Illustrierten: das Geschütz eines Wüstenpanzers neben dem Bikinihöschen einer Diskobesucherin.
Ganz anders führt Delius seine Leser an die Ereignisse vom Oktober 1977 heran. „Mogadischu Fensterplatz“ ist der fiktive Bericht einer Andrea Boländer, die vier Wochen nach ihrer Befreiung aus der Hand der Geiselnehmer beim Ausfüllen eines amtlichen Fragebogens an ihre Entführung zurückdenkt und von ihren Ängsten, ihrer Wut und ihren Fluchtversuchen in Träume und Phantasien berichtet. Auch sie erinnert sich dabei eines jener Diskomädchen. Im Gegensatz zu Spielfilmregisseuren und Boulevardreportern schildert Delius dieses Entführungsopfer jedoch aus der Perspektive seiner Ich-Erzählerin als ein junges Mädchen, das den Ernst der Lage kaum wahrnimmt. Vielmehr beschäftigt sie die Beziehung zu ihrem Freund, der zu Hause auf sie wartet.
Im Buch wird das aus einstigen Presseberichten aufgebaute Klischee von der sinnenfrohen „Disco Queen“ zerstört. Als Romanfigur ist jene Petra ein nettes, naives Mädchen, das so sehr in seine kleine privaten Probleme vertieft ist, dass es die eigentliche Gefahr, die ihm an Bord des entführten Flugzeugs droht, kaum wahrnimmt. Sie gewinnt im Roman eine menschliche Dimension, die in der Boulevardpresse verkaufsfördernd verzerrt wurde und in zeitgeschichtlichen Darstellungen als ein Einzelschicksal ohne Belang sein wird.
Ob rein fiktiv oder auf der Grundlage dokumentarischen Materials – die von Delius niemals totgesagte schöne Literatur ist imstande, in der Darstellung bereits historischer Tagesthemen Formen trivialer Darstellung aufzubrechen. So stirbt in „Mogadischu“ auch der Flugkapitän nicht etwa den Heldentod: Er kam als routinierter Luftwaffenoffizier zur Zivilluftfahrt und versucht nun, die eigene Angst niederzuringen und das zu tun, was im Fall einer Flugzeugentführung Vorschrift ist: Der Versuch scheitert. „Captain Mahmud“, im Roman „Jassid“ genannt, richtet den als „Verräter“ beschimpften Flugkapitän vor den Augen der gekidnappten Passagiere hin. Delius schildert diesen ersten Höhepunkt an Gewalt und Brutalität aus der Perspektive seiner Erzählerin Andrea Boländer, die das schlecht inszenierte Standgericht und die folgende Erschiessung am Ende des Ganges anfangs nicht begreift. Zu sehr ist sie mit ihren physischen und psychischen Nöten beschäftigt, zu sehr schon an das pathetische Gehabe der Entführer gewöhnt.
Was am Frühstückstisch des Zeitungslesers schockiert, verliert nach viereinhalb Tagen ständiger Bedrohung durch fanatisierte Gewalttäter an Schrecken. Delius zeigt in seinem neuesten Roman vor allem den Alltag der Angst, die Abstumpfung und das Sichgewöhnen an offene Gewalt. Die Befreiung wird von vielen der Geiseln kaum mehr bewusst wahrgenommen. Sie findet nach mehrfacher Verlängerung des Ultimatums zu einem Zeitpunkt statt, als sich die Opfer bereits mit ihrer Rolle abgefunden haben und den Tod jeden Moment erwarten. Beinahe ist der Hass Andrea Boländers gegen ihre Entführer intim geworden. Die Mimik der Befreier, ihr Umgang mit dem Tod, der ihre Züge geprägt hat, unterscheidet sich für die Befreite in nichts von dem hasserfüllten Antlitz er Entführer. In beiden Fällen sind es Gesichter von Menschen, die es gelernt haben, für eine Idee oder im Auftrag anderer Menschen zu töten. Die Befreiung des erzählenden Opfers wird zur Flucht vor den Kameraobjektiven der Reporter, denen sie in Mogadischu entgegentaumelt.
Andrea Boländers subjektiver Bericht von der Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ ist eine künstlerische Gegendarstellung zu amtlichen Stellungnahmen und sensationslüsternen Presseberichten. Delius‘ Roman setzt dort ein, wo die Nachrichten einst endeten. Die Phantasie und die Sprachkraft seiner Ich-Erzählerin heben die authentisch wiedergegebenen Fakten auf eine neue, die literarische Ebene. Spannend erzählt, ist „Mogadischu Fensterplatz“ mehr als ein Thriller. Auch begnügt sich Delius nicht mit Formen klassischer Dokumentarliteratur. Über Tonbandprotokolle, Statistiken und Dokumente hinaus ist Mogadischu nicht nur historischer Schauplatz, geschildert werden Tage im Leben der fiktiven Romanfigur Andrea Boländer, deren erfundene Biographie von Bad Nauheim und Tübingen ebenso bestimmt ist wie von Rainer und Stefan, von denen sie auf Mallorca Abstand gesucht hat, oder von Petra und Ingeborg, neben denen sie die Tage an Bord des entführten Flugzeugs verbringt. Sprachlich souverän erzählt F.C. Delius in Rückblenden das Leben seiner Romanfigur und lässt sie in Träumen, mit denen sie der Todesangst zu begegnen sucht, ihr weiteres Leben entwerfen.
Die Leser dieses Romans werden künftig amerikanische Spielfilme über smarte Piloten und dunkelhäutige Gewalttäter wenn überhaupt, mit anderen Augen sehen.
(Michael Bauer, Neue Zürcher Zeitung, 06.02.1988)