Wolfgang Schneider: Ein tragischer Lebensstoff (NZZ)
Ein tragischer Lebensstoff
Friedrich Christian Delius’ Roman “Mein Jahr als Mörder”
Georg Groscurth, ein junger, hoch talentierter Mediziner am Berliner Robert-Koch-Krankenhaus, war der Leibarzt des Hitler-Stellvertreters Rudolf Hess. Eine bessere Tarnung konnte es nicht geben. Mit einigen Freunden baute der humanistische Nazigegner die Widerstandsorganisation “Europäische Union” auf. Man half politisch Verfolgten und Juden mit falschen Ausweispapieren, Kennkarten und Lebensmitteln. Zur Gruppe gehörte auch der Chemiker Robert Havemann, der Jahrzehnte später zum prominentesten Dissidenten der DDR werden sollte. Havemanns Leichtsinn machte einen Agenten der Gestapo auf die Gruppe aufmerksam.
Verbürgte Vorgeschichte
Georg Groscurth wurde Ende 1943 zum Tode verurteilt und im Mai 1944 enthauptet. Der Richter, der dieses und weitere 230 Todesurteile zu verantworten hatte, hiess Hans-Joachim Rehse. Im Dezember 1968 wurde er vom Vorwurf des Mordes nachträglich freigesprochen, als wäre Roland Freislers Volksgerichtshof ein ordentliches Gericht und keine kriminelle Vereinigung zur Vernichtung politischer Gegner gewesen. Eine Juristenkrähe hackt der anderen kein Auge aus – alle Klischees über die nazistische Erblast in der Bundesrepublik schienen sich zu bestätigen.
Es ist dieser Freispruch, der in Friedrich Christian Delius’ spannendem Dokumentarroman über den Fall Groscurth einen braven Studenten so aufwühlt, dass er beschliesst, den furchtbaren Richter Rehse – inzwischen ein furchtsamer Pensionär – zu ermorden, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Das ist nicht nur eine dem politischen Klima des Jahres 1968 geschuldete Idee, sondern hat eine lange und offensichtlich verbürgte Vorgeschichte. Der beste Kindheits- und Jugendgefährte des jungen Mannes war nämlich der Sohn des hingerichteten Arztes. Der geplante Mord ist nicht zuletzt ein merkwürdiger Freundschaftsdienst für den einst so bewunderten Axel Groscurth.
“Es war an einem Nikolausabend, in der Dämmerstunde, als ich den Auftrag erhielt, ein Mörder zu werden.” In diesem ersten Satz des Buches werden Widersprüche zusammengezwängt. Kann man sich einen Studenten, der den Nikolausabend noch als wichtiges Datum empfindet, als Mörder vorstellen? Über Weihnachten (für jeden echten Achtundsechziger der Gipfel bürgerlicher Verlogenheit) fährt dieser Raskolnikow nach Hause zur Mutter in die hessische Provinz, brummt die alten Lieder mit, spielt mit Schulfreunden Monopoly. Es reizt ihn, ein Buch über den Fall Groscurth zu schreiben, was ebenfalls schon eine gewisse Handlungshemmung andeutet. Bald erscheint der Mord als eine Art begleitende Marketingaktion: “Der Mord hätte dann zu geschehen, wenn das Buch frisch auf dem Markt ist. . . . Wort und Tat wären eins, endlich einmal.” Sehr ernst kann man solche Absichten von Anfang an nicht nehmen.
Hartnäckigkeit als Waffe
Es steckt jedoch in diesem Buch, das die Leidensgeschichte Georg Groscurths und seiner Frau akribisch rekonstruiert, so viel tragischer Lebensstoff, dass die Dünnwandigkeit und der manchmal spröde Ton der Rahmenkonstruktion nicht stören. Ein hintergründig ausgemaltes Geschehen hätte nur vom Eigentlichen abgelenkt – von den Dokumenten, aus denen hier bewegende Geschichte wird. Etwa wenn Delius schildert, wie die Todeskandidaten in ihren Zellen geradezu besessen “kriegswichtige” Forschungsarbeiten vorantreiben, um vielleicht doch noch dem Henker zu entgehen (was nur Havemann gelingt). Oder wie sie, bevor die Schergen sie unters Fallbeil schnallen, noch ihre Unterhosen ausziehen und gefaltet auf einen Stapel legen müssen – kriegswichtiges Material.
Der dritte Strang des Romans beschäftigt sich mit dem Schicksal der Witwe Anneliese Groscurth. Was “Kalter Krieg” in der Frontstadt Berlin lebenspraktisch bedeuten konnte, ist selten so anschaulich geworden wie in der lakonischen, aber doch vor Mitgefühl vibrierenden Darstellung ihres Passionsweges durch die Ämter, Behörden und Gerichte. Delius lässt den Leser an einer verschütteten Emotion teilhaben – der Wut über den selbstgefälligen Antikommunismus des Westens, die zu den Basisaffekten eines jeden Achtundsechziger gehörte.
“Nie wieder Nazis, nie wieder Krieg!” – das ist Anneliese Groscurths aus leidvollster Erfahrung gewachsene Devise. Im Westberlin von 1951 klingt das bereits nach reinstem Kommunismus. Als sie in ihrer Wohnung die Presseveranstaltung zu einer “Volksbefragung” über die Wiederbewaffnung stattfinden lässt, stellt sie der “Tagesspiegel” an den Pranger. Ihre Adresse sei eine “Kommunistenfiliale in Westberlin”, heisst es in einem denunziatorischen Artikel. Während ab 1951 ehemalige Nazibeamte wieder eingestellt werden, verliert Anneliese Groscurth ihre Rente als Verfolgte des Naziregimes und zugleich ihre Arbeit als Bezirksärztin. Um überhaupt noch Geld für sich und ihre beiden Kinder zu verdienen, ist sie gezwungen, eine kleine Stelle beim Ostberliner Rundfunk anzunehmen.
Ihre einzige Waffe ist die Hartnäckigkeit. Immer von neuem strengt sie Prozesse an, um ihr gutes Recht, das sie nie ganz verloren glaubt, doch noch zu erstreiten. Unweigerlich lässt Delius’ lakonische, aber doch vor Mitgefühl vibrierende Beschreibung des Passionsweges durch die Ämter, Behörden und Gerichte an Michael Kohlhaas denken. Mit dem Unterschied, dass Frau Groscurth ihre Demütigungen mit biblischer Geduld einsteckt.
Reaktion und spätes Echo
Geschichte und Geschichten der dreissiger, vierziger, fünfziger und sechziger Jahre verbindet Delius zu einer kunstvoll verschachtelten, aber nie unübersichtlichen Romankonstruktion. Das Ganze perspektiviert durch einen heutigen und distanzierten Blick auf die Zeit der Revolte. Die “Plattitüden der endsechziger Jahre” gehören “zum Glück nicht in mein Geständnis”, heisst es voller Überdruss an einer Stelle. “Wir führten die üblichen politischen und ästhetischen Debatten” – offenbar fehlt die Lust, auch nur ein Wort mehr darüber zu verlieren. Aber auch wenn sich der Roman der Rhetorik von 1968 ganz enthält, beschäftigt er sich doch unausgesetzt mit dem entscheidenden Motiv der Bewegung. Denn das Jahr 1968 war das Jahr des verletzten Gerechtigkeitssinnes: Napalm in Vietnam und Panzer in Prag; Martin Luther King und Robert Kennedy ermordet, Dutschke vom Fahrrad geschossen.
Wie Groscurth über seine Zeit hinausragt, so nimmt es – in bescheidenerem Massstab – auch der Erzähler für sich in Anspruch. Wenn auf einer Demonstration nach “Volksgerichten” gerufen wird, dann spukt in solchen radikalen Parolen eben auch der “Volksgerichtshof”. Wer über Groscurth schreibt, kann da nicht mitbrüllen. 1968 ist eine Reaktion auf die Nazizeit, aber in manchem auch ein spätes Echo. Dass die Studentenbewegung ins Gewalttätige abdriftet, ist für den Studenten jedenfalls ein Grund, den eigenen Mordplan aufzugeben: Man würde seine Tat eben nicht als seine Tat verstehen, sondern als Fortsetzung der Kaufhausbrandstiftung, als Rache für Dutschke, als “drei Schüsse im Fahrwasser des neuesten Trends, zur Waffe zu greifen”.
Der Freund, Axel Groscurth, weist in einem Gespräch bedauernd darauf hin, dass sich für ein Buch über seinen Vater wohl nicht mehr als zweitausend Interessenten fänden. Das erklärt nebenbei natürlich auch, weshalb Delius den Stoff in einen Roman mit dem augenzwinkernd sensationellen Titel “Mein Jahr als Mörder” verpackt. Ein bisschen episches Theater darf sein, um wünschenswert viele Leser dafür zu interessieren.
(Wolfgang Schneider, Neue Zürcher Zeitung, 11.01.2005)