Friedrich Christian Delius, FCD

Michael Naumann: Handlanger in Roben (Zeit)

Handlanger in Roben

F. C. Delius’ spannende und historisch genaue Schilderung des bundesdeutschen Justizmilieus der sechziger Jahre

Ein paar Worte zur 68er-Generation. Es ist Sonntag. Da sitzen wir, die 60-jährigen Söhne mehr oder weniger verstrickter Kriegsväter, in der Toskana, kurz nach der Olivenernte, vor uns die reifen Früchte dieser paradiesischen Region Italiens auf dem Bauerntisch, an der Bruchsteinmauer unseres 500 Jahre alten Bauernhofs hängen die schweren Weintrauben, das angestellte Personal fährt in seinen Topolinos über die Feldwege, am Horizont ragen die Wehrtürme von San Gimignano in den Himmel. Am Montag ziehen wir unsere Armani-Anzüge an und fliegen über München zurück in die Redaktionen, Parteibüros und, wie anders, in die Aufsichtsräte der deutschen Bewusstseinsindustrie.

Und was machen wir in Italien? Wir erinnern uns an die heftigen Demonstrationen in Münchens Barerstraße oder vor dem Landgericht in Tegel, als die Steine flogen und jeder von uns eine Freundin oder einen Freund hatte, der eine Freundin oder einen Freund hatte, der Andreas Baader die Pistolen geliefert hatte. Im Übrigen hat jeder mit jedem geschlafen. Die Pille. Bloch. Marcuse. Rudi. Die Schützengräben. Ach ja, den Vietnamkrieg habe ich fast vergessen.

Gibt es etwas Dümmeres für eine Alterskohorte, als unter den Klischees derselben Presse begraben zu werden, die seinerzeit allen Ernstes dafür plädierte, diese Gestalten “aus den Universitäten auszumerzen” (Bild)?

Ach, Dümmeres gibt es jeden Tag. Das Dümmste aber wäre es, zu vergessen, wie es wirklich war in jenen zwei, drei Jahren, da eine akademische Generation verblüfft feststellte, dass in den Fakultätssitzungen ihrer Universitäten noch all jene Germanisten, Historiker, Staatsrechtler, Osteuropa-Forscher, Anthropologen und Philosophen saßen, die dem Nationalsozialismus Tür und Tor geöffnet hatten. Von den Richtern im Lande ganz zu schweigen. Merkwürdig, gegen dieses Vergessen schreiben alles in allem herzlich wenige deutsche Schriftsteller an. Zu den wenigen zählt Friedrich Christian Delius. Er weiß, wovon er spricht, von seinem eigenen Leben; von dem einer Generation, deren kulturelle Prägung zwischen der Weltmeisterschaft von 1954 (Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde) und der Wiedervereinigung (Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus), vor allem aber in jenen berühmt-berüchtigten sechziger Jahren stattfand.

Sein neuer Roman Mein Jahr als Mörder erzählt die Geschichte eines jungen Studenten, der die Witwe von Georg Großcurth in Berlin kennen lernt, einem Widerstandskämpfer gegen das “Dritte Reich”, einem Freund Robert Havemanns, der anders als dieser kurz vor Kriegsende hingerichtet wurde. Einer seiner Richter, Freislers Beisitzer Rehse, praktizierte unbehelligt als Anwalt in der Bundesrepublik, während Großcurths Witwe als Opfer von allerlei Berliner Justizskandalen an den Rand der Gesellschaft gemobbt wurde. Der Romanheld beschließt, Rehse in einem nachgeholten Akt des Widerstands zu erschießen.

Delius’ Roman, eine historisch genaue, akten- und faktensichere Schilderung des bundesdeutschen Justizmilieus, in dem bis auf einen einzigen NS-Richter, der dann aus Altersgründen vor Haftstrafen verschont wurde, kein Einziger der robentragenden Handlanger des “Dritten Reichs” verurteilt wurde, öffnet ein Fenster in die emotionale Grundstimmung jener Jahre. Es hatte sich herausgestellt, dass die Gesellschaft ja keineswegs “vaterlos” war, sondern, ganz im Gegenteil, mit den überlebenden Funktionsträgern des Naziregimes lebte. Es lag etwas schier Unwirkliches über dem Land – führende Industrie- und Finanzkapitäne hatten sich, zu kurzen Haftstrafen in Landsberg verurteilt, wieder fest etabliert, die alten Netzwerke neu geknüpft. Flick wurde wieder zum Milliardär, Krupp blühte auf, Hitlers Finanzminister saß als Lobbyist und Haushaltsexperte der deutschen Wirtschaft in Bonn.

Gewaltverzicht ist eine edle Einsicht, Rache ein Traum

Delius zeichnet dieses moralisch verschattete Tableau jener Jahre nach – ohne den selbstgerechten Ton der Nachgeborenen. Die Mordgelüste seines Helden weichen peu à peu der Einsicht, dass derlei Selbstjustiz selbst nur Frucht der gleichen Ruchlosigkeit wäre, die er bekämpfen wollte. Es bleibt ein Traum von Rache.

Über die Jahre hinweg hat Delius seinen eigenen literarischen Ton entwickelt – er lebt auch aus der Kraft seiner intellektuellen Skepsis angesichts seiner früher zweifellos radikaleren Überzeugungen. Wenn es denn einen ideologiekritischen und ästhetischen Nenner seiner Bücher gibt, der auch diesen spannenden Roman durchdringt, so ist es seine Abneigung gegen Gewalt, gegen die Vorstellung, Recht oder gar Gerechtigkeit ließen sich mit einem Faustschlag auf den Tisch oder gar mit Terror durchsetzen. Was heute so selbstverständlich klingt, war es damals nicht.

Es stimmt ja, dieser wunderbare, sensible Sprecher seiner Generation lebt nun in der Tat hauptsächlich in Italien. Allerdings nicht in der Toskana, auch nicht als Olivenbauer, sondern ganz bescheiden in einer kleinen Wohnung mitten in Rom. Aber mit Deutschland hat er noch längst nicht abgeschlossen.

(Michael Naumann, Die Zeit, 11.11.2004, Nr.47)

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