Friedrich Christian Delius, FCD

radl.: Im Hinterhof herrscht kreatives Chaos (Nürnberger Nachrichten)

Im Hinterhof herrscht kreatives Chaos

Die Legende lebt: Ein neues Album von und ein neues Buch über Paul McCartney

Die Plattenindustrie steckt in der Krise, aber ungeachtet dessen fühlen sich manche Altmeister noch immer als unsterbliche Pop-Götter. Die Musikwelt können sie allerdings nicht mehr neu erschaffen, auch wenn sie mal die Urknall-, mal die Chaostheorie bemühen. Jedenfalls kommt es dieser Tage zum Kräftemessen zwischen den Rolling Stones und einem Ex-Beatle – fast wie in den Sixties. Während Jagger & Co ihre neueste Schöpfung großmäulig als “A Bigger Bang” annoncieren, herrscht im Hinterhof kreatives Chaos: Paul McCartney hat sein neues Solo-Album “Chaos And Creation In The Backyard” genannt. Überraschend Neues sucht man vergeblich, doch das Ergebnis kann sich hören lassen.
Das ist wohl vor allem ein Verdienst des jungen Produzenten Nigel Godrich, der unter anderem den Sound für Radiohead, Travis oder Beck mitentworfen hat. McCartney (63) wollte ursprünglich den inzwischen 79-jährigen Beatles-Produzenten George Martin gewinnen. Im nachhinein erweist sich der Ersatzmann als Glücksfall: Die 13 neuen Songs klingen vertraut und frisch zugleich, jedenfalls nicht wie der x-te Aufguss alter Ideen. McCartney spielt (wie auf seinem erstem Solo-Album vor 35 Jahren) fast alle Instrumente selbst, neben Gitarre auch Bass, Klavier, Schlagzeug, Flügelhorn und Flöte.
Neben der unverwechselbaren Stimme hat McCartney nach wie vor ein untrügliches Gespür für einfache, aber wirkungsvolle Melodien. Der Sänger serviert wie immer charmant und lässig Lebensweisheiten (“Fine Line”) und Liebeslieder (“This Never Happend Before”), wechselt zwischen energiegeladenen Rocknummern (“Promise to You Girl”) und herzzereißenden Balladen (“Too Much Rain”). Auf den guten, alten Paul ist halt immer noch Verlass. Und so langsam setzt sich bei manchen die Erkenntnis durch, dass man ihn als Solokünstler vielleicht doch ziemlich unterschätzt hat. “Chaos And Creation In The Backyard” jedenfalls zählt zu den gelungensten Werken des junggebliebenen Altmeisters. Wie nicht anders zu erwarten, endet das Ganze nicht im Chaos, sondern in schönster Harmonie.
In diesem Zusammenhang sei Fans das neue Buch von Friedrich Christian Delius empfohlen: “Die Minute mit Paul McCartney”. Der Berliner Schriftsteller bezieht sich auf eine kuriose Zeitungsmeldung aus dem Jahr 1967, die er dann in allen möglichen Perspektiven und Varianten umdichtet. Angeblich hat damals MacCartneys Hund in einem Londoner Park zwei junge Männer gebissen. Die heiteren Memo-Arien enden mit einer unfreiwillig-komischen Gegendarstellung von Paul McCartney.
Die 66 kurzen Texte sind ein literarischer Spaß für McCartney-Fans. Etwaigen Kritikern nimmt er selbstironisch den Wind aus den Segeln: “Wieder einmal scheitert Delius. Auch in seinem neuen Buch kann er sich nicht entscheiden zwischen Roman und Dokument, zwischen lyrischer Kurzform und epischer Breite, zwischen Realismus, Autobiografie und literarischem Spiel.” Witzig!

(radl., Nürnberger Nachrichten, 13.09.2005)

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