Friedrich Christian Delius, FCD

Buch: Liebesgeschichtenerzählerin

Die Liebesgeschichtenerzählerincover_liebesgeschichten2

Roman
208 Seiten, gebunden
€ 18,95
ISBN 978-3-87134-823-5

Auch als E-Book erhältlich

rororo taschenbuch
208 Seiten
ISBN 978-3-499-27184-7
€ 10,99

Hörbuch:
4 CDs, gelesen von Doris Wolters
Argon Verlag, Berlin 2016, € 19,95
ISBN 978-3-8398-1472-7

rororo Taschenbuch Werkausgabe
208 Seiten
ISBN 978-3-499-01043-9
€ 13,00

Übersetzung:
Celle qui racontait des histoires d’amour. Übersetzt von Odile Demange. Fayard 2018

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Eine Frau, für ein paar Tage frei von Pflichten, Mann und Kindern, fährt im Januar 1969 von Den Haag über Amsterdam nach Frankfurt. Drei Liebesgeschichten aus den Zeiten der Kriege und Niederlagen gehen ihr durch den Kopf: ihre eigene, die ihrer Eltern, die einer Vorfahrin während der napoleonischen Kriege. Davon möchte sie erzählen, aber die Geschichten und Leben verflechten sich immer mehr: ein König, der die modernen Niederlande aufbaut; seine uneheliche Tochter, die in eine mecklenburgische Adelsfamilie gezwungen wird; ihr Urenkel, der als kaiserlicher U-Boot-Kapitän die roten Matrosen von Kiel überlistet, seiner schwarzen Seele entkommen möchte und zum Volksprediger wird; seine Tochter – die reisende Erzählerin selbst –, die ein gutes deutsches Mädel und  trotzdem gegen die Nazis sein wollte und nun im Schreiben Befreiung sucht neben einem Mann, lächelnder Gutsbesitzerssohn und Spätheimkehrer, der sich allmählich von ihr entfernt.
Dem neuen Roman von Friedrich Christian Delius liegt die bewegte Geschichte seiner  eigenen Familie zugrunde. Er erzählt die Reise einer Frau zwischen Scheveningen,  Heiligendamm und deutschem Rhein, eine Reise von fünf Tagen und durch ein ganzes Jahrhundert.

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Presse- und andere Stimmen:

„Ein eleganter Erzähler!“ RBB

„Man kann nur staunen, wie es dem gern als ,Chronisten der Bundesrepublik‘ gerühmten Autor erneut gelingt, Zeitkolorit und Familiengeschichte zu einer eindrucksvollen erzählerischen Synthese zu bringen.“  Der Tagesspiegel

„Liebe gerade in kriegswütigen, hassbereiten Zeiten – was könnte uns aktuell Besseres nahegebracht werden?“  Neue Westfälische

„Literarisch hochinteressant … in einem Erzählsound, der magisch ist, dem man sich gern anvertraut.“  NDR

“Da verknoten sich dicke Geschichts-Taue in einen festen Handlungsknoten. Delius aber zieht aus ihm feine Fäden, mit denen er die Leser stilistisch und sprachlich beeindruckend auf seine konzentrierte Imaginationstour mitnimmt.”  Darmstädter Echo

“Es ist das beste Buch darüber, warum gewisse Bücher nicht geschrieben werden können, eine großartige Studie über die Diskrepanz zwischen Anspruch/Wunsch und Wirklichkeit/Können. Ich mag es auch, dass der elegische, stark rhythmisierte Ton, den wir ja schon aus “Bildnis der Mutter” kennen, hier eine ironische Brechung erfährt, weil ja eben NICHT erzählt wird, was da jemand erzählen möchte, wenn sie nur könnte. Die Lippen werden nur gespitzt, aber es wird nicht gepfiffen. Die Vagheit, die man dem Buch womöglich vorwerfen könnte, ist aber gerade die Stärke, eine produktive Unschärfe sozusagen!”  Klaus Modick

“Ich finde vor allem das Wagnis der Form beachtlich. Da ist erst mal jeder Satz ein Abschnitt oder jeder Abschnitt ein Satz, das mag man kennen, aber hier bildet es den epischen Fluss ab, Welle auf Welle, die sich wieder und wieder aufwirft, wieder und wieder weiter hebt und wieder und wieder verebbt. Zwar entwickelt dies eher wenig Sog, man kann auch einwenden, es sei auf Dauer monoton, aber die Monotonie der Wellen ist eine ganz andere als die Monotonie einer Maschine zum Beispiel oder eines Schlagzeugs. In diesem Immerwiederansetzen, Sich-in-die-Höhe-schrauben und Hinabsinken spiegelt sich die Haltung der Marie, ihr Wille zu erzählen, der sich erst tastend, dann immer entschlossener zu einem indirekten Erzählen vorarbeitet und sich Seite für Seite dem wirklichen Erzählen nähert, ohne dort ganz anzukommen, und dennoch das, was Marie beschäftigt und ihr Leben mit prägt, letztlich weitergibt. Das ist weniger intensiv als ein direktes, gar US-amerikanisch pralles Erzählen, und so manche Hin- und Her-Überlegung von Marie mag eher vordergründig sein. Aber es ist zugleich so etwas wie ein höheres Stottern (im Sinne von Thomas Manns höherem Klauen bzw. Diebstahl, also durch literarische Könnerschaft geadelt), das auf seine Weise über das Auf und Ab (wieder die Wellen!) der Geschichten hinweg zu einem Ende kommt – ein mehr als formales, nämlich die Struktur des Romans prägendes Element, das in der Rezeption gebührend hervorzuheben wäre.”  Jürgen Theobaldy
“At the Literary Colloquium in Wannsee, the writer F. C. Delius is launching his latest novel which translates as The Teller of Love Stories. It’s a quintessential evening of culture in Berlin, held at a 19th-century villa, the audience arrayed in dramatic silk scarves and thick rimmed eyeglasses. More than 200 people have come, big-boned and silver-haired, in leather boots or black wool blazers, to celebrate the life of the mind. By the end of the evening almost every book on the sale table has been sold.
(…)
Tonight on the dais, Delius reads several excerpts from his new novel, based on his own family. In one passage, set in 1969, Marie, a housewife-turned-writer, sits on a bench in Holland thinking about her father, a former U-boat captain and her earlier ancestors as she justifies to herself her desire to write the love stories of three generations in the family.

“The  world needs love stories, especially after the times of hate, precisely in a world where so much is hated … where the Americans slaughter, poison and hate the Vietnamese, which turns them more and more into hateful Communists; in a world in which the Russians oppress and shoot the Czechs, in which old Germans hate young Germans and young Germans hate the old, and the Dutch perhaps no longer hate the Germans but don’t really like them either …
… rebellious youth, our children, ought to write love stories too, so they will understand without a moral finger pointing, just through the subtle power of literature, how good they have it in these times, without war, without hunger, without dictatorship … without fear of unwanted pregnancy, without being forbidden certain books, films, music, without repression of thought, words, belief, how good and so much better they have it than their parents and grandparents had it.” (auf Deutsch Seite 87)

Substitute “Islamists” for “Communists” and “Ukrainians” for “Czechs,” and the narrator’s sentiments could easily apply to the present. The themes are universal and yet Berlinisch; that a family’s history cannot be separated from a nation’s, that the personal is political, that love will thrive even amid hate. Delius portrays Germans still coming to grips with their wartime and postwar pasts, with their many pasts, just as Grass had done in his writing, just as it would be almost impossible for a writer living in Berlin not to do.”

Nomi S. Morris (Los Angeles Review of Books, 21. 7. 2016)

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Die verdrängte Scham einer Flüchtlingsfrau

Hermetisch: F. C. Delius verpackt drei Liebesgeschichten in einer. Die Hauptperson begibt sich auf die Suche nach verlorenen Ahnen.

Bescheidenheit. Pflicht. Selbstdisziplin. Demut bis an den Rand der Unterwerfung. Familie. Abstammung.Tradition. Das ist nicht etwa die Lage einer muslimischen Kopftuchträgerin oder einer chassidischen Mutter. In „Die Liebesgeschichtenerzählerin“ verfolgt F. C. Delius in einem rauschhaft konstruierten Bewusstseinsstrom den Entschluss einer pommerischen Adeligen, eine Liebesaffäre zu rekonstruieren, die Teil ihrer Familiengeschichte ist. Mit dem daraus resultierenden Roman soll sich ihr Jugendtraum – einst aufgeschoben durch die eigene Liebesgeschichte, die Ehe, das Schicksal – endlich erfüllen.

Die zur napoleonischen Zeit sich ereignende Liaison allerdings ist nicht bescheiden. Sie ist pikant. Die Spur führt von Berlin nach Den Haag, mitten in den Stammbaum des niederländischen Königshauses. Ein Oranier zeugte mit einer Berliner Tänzerin einst eine Tochter, die heimlich in den Adelsstand erhoben, ausgestattet und mit einem standesgemäßen Ehemann verheiratet wurde. Auf der Suche nach der verlorenen Ahnin begegnet Marie allerdings weit Pikanterem: ihren unterdrückten Gefühlen, ihrer eigenen Liebesgeschichte und der ihrer Eltern. Pikant auch, weil sie weder mit den Reaktionen der Holländer auf sie als Deutsche noch mit ihrer eigenen Reaktion auf die Holländer gerechnet hat. Im Gegenüber entfalten sich Unsicherheit, verdrängte Scham und das Standesbewusstsein einer adeligen Flüchtlingsfrau, das sich zu Ignoranz hat plattdrücken lassen. Sie findet sich außerhalb der Familie in der Gegenwart nur schwer zurecht, taumelt zurück vor allem Unbekannten, dem sie sofort den Ruch des Ungehörigen andichtet.

Die drei Liebesgeschichten mit ihren gesellschaftspolitischen Implikationen sind eher Anlass der inneren wie äußeren Reise Maries. Das sich aus dem Untergrund lösende Hauptthema des Romans sind die sich reibenden Gepflogenheiten unterschiedlicher Orte und Zeiten. Die Reiseeindrücke überfallen Marie und lassen sie gelähmt zurück. Alles, was außerhalb ihres Radius liegt, ist verdächtig: die holländische Pensionsbesitzerin, die Archivarin, der Konsumtempel Bijenkorf und am Ende sogar eine außergewöhnliche Unternehmung ihres Ehemannes, ein Kinogang, allein! Statt die Gegenwart neugierig in sich aufzunehmen, verkrallt Marie sich in die Vergangenheit.

Das Faszinierende des kleinen Romans ist sein Aufbau. Schon im „Bildnis der Mutter als junge Frau“ hat sich F. C. Delius auch technisch als Meister der Darstellung eines rauschhaften Bewusstseinsstroms erwiesen. In der neuen Imagination gelingt es ihm ein zweites Mal auf verblüffende Weise, zum einen die Begrenzung seiner Protagonistin, die auch Engstirnigkeit ist, aufzuführen, zum anderen ihr fast zärtlich beizustehen. Mitunter lässt er sie zweifeln, lässt sie hinauslugen aus dem „geschlossenen System, wo keine Gefahr und keine Irritation droht“. Sie wirkt ein wenig rührend. Aber Delius verrät seine Hauptfigur nie, auch wenn ihre zweifelnden Blicke folgenlos bleiben.

Dem schmalen Roman gelingt es, eine Person in einer uns fernen Zeit in einer uns noch ferneren, geradezu befremdlichen Gestimmtheit durch sich selbst zu porträtieren. In ihrer fast hermetischen Perspektive, die sich sichtlich vor dem anderen, dem Neuen, dem Fremden fürchtet, schimmert eine seltsame Anmut auf. Sie führt den Leser zurück zu etwas fast Vergessenem: einer Form von Hilflosigkeit, Rückständigkeit und Unoffenheit, die aus Selbstbeschränkung und Schamhaftigkeit resultiert. Hier fehlen Erfahrung, Individualität, Selbsterkenntnis. Das alles wurde nicht gelehrt, nicht gelernt. Nicht einmal durch das große eigene Leid.

Fast unvorstellbar, dass es das auch einmal in dem heute so ruchlosen Westen gegeben haben soll. So führt Maries Bewusstseinsstrom, der sie eingebunden in ihrer Konvention verharren lässt, weit über sie hinaus und den Leser zu etwas hin, was Beachtung verdient.

Barbara Bongartz (Die Presse, 10.06.2016)

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“Wir alle sind Überlebende, aber keine Verlierer”

Wie war das in Deutschland nach dem Krieg? Bloß beengt? Nur klein? Das neue Buch von Büchnerpreisträger F. C. Delius ist eine dezente Liebeserklärung an die Heimat. Eine kleine Deutschland-Rhapsodie.

Nanu? Diese Liebesgeschichtenerzählerin erzählt ja gar keine Liebesgeschichten. Jedenfalls nicht so, wie man sich das bei dem nach Lore-Roman klingenden Titel vorstellt. Aber keine Sorge: Das höchste der Gefühle kommt in diesem Buch durchaus vor. Nur wird es eben eingebunden in eine prismatisch funkelnde kleine Deutschland-Rhapsodie.

Doch der Reihe nach: Drei Liebesgeschichten sind es tatsächlich, die der Heldin, die so gern Schriftstellerin wäre, durch den Kopf gehen. Schwirren, besser gesagt. Denn sie schweift gern ab, führt ihre Gedanken frei spazieren. Ist ja selbst auf großer Fahrt, fünf Tage weg von zu Haus, sogar im Ausland, Holland; das ist schon was im Jahre 1969, zumindest für eine knapp Fünfzigjährige, deren Kinder noch nicht aus dem Haus sind, wohin ihr Mann nicht viel Geld am Monatsende bringt.

Kleine Verhältnisse

Kleine Verhältnisse, Nachkriegsverhältnisse, aber doch solche, die sich erst aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts ergeben haben. Denn Marie von Mollnitz hat als geborene von Schabow bessere Tage gesehen, ist auf mecklenburgischen Gütern groß geworden, Herkunftsbewusstsein spielt eine Rolle für sie, und auch wenn die Lebensumstände immer schon etwas spartanisch waren, gab es diese Aufschwünge in die Welt des Geistes, wie Marie von Mollnitz in übermütigen Momenten sagen würde. Im etwas dürren Diskurs der Sechzigerjahre wäre wohl von “kreativen Schüben” die Rede.

Jetzt schwingt sie sich also auf. Gönnt sich eine kleine Recherchereise. Es gibt da diese Ahnfrau, die eine illegitime Tochter jenes Willems I. war, der von Napoleon ins Exil gezwungen, sich in Berlin mit einer Tänzerin vergnügte und deren “Leibesfrucht”, als er dann 1813 endlich König der Niederlande werden durfte, immer gut versorgt hat: Maries Urururgroßmutter.

Historisch gespiegelte Liebeserfahrung

Ergibt das nicht einen interessanten Roman? Doch je mehr Marie ins Sinnieren gerät, desto stärker schieben sich ihre eigene Liebeserfahrung sowie die ihres Vaters vor den doch reichlich abgehangenen historischen Stoff. Stehen nicht auch die Nachgeborenen mit ihren Lieben im Zeichen der Niederlagen und der Kriege? Waren sie nicht eher Überlebensmittel als Leidenschaft? Noch dazu in einer Zeit, die Gefühlsverhärtung einforderte statt das Ausleben der Gefühle?

Das alles geht Marie durch den Kopf, und Friedrich Christian Delius bringt viel Einfühlungsvermögen auf, um die produktive Verunsicherung seiner Heldin anschaulich zu machen.

Am Ende wissen wir nicht, ob auch sie auch nur einen der drei Stoffe gestalten wird. Aber den Assoziationsverlauf von Marie erlebt der Leser, auch ihr kleines Glück, auf der Rückfahrt den Rhein entlang eines immer stärker zu genießen, dieses Gefühl:

“Wir alle sind Überlebende, aber keine Verlierer.” Und unter der Hand haben wir viel darüber erfahren, wie deutsches Bürgertum das 20. Jahrhundert erlebte, einschließlich jener Liebe zum eigenen Land, das sich in jener Eichendorff-Zeile ausspricht, auf die diese dezente Liebeserklärung hingeschrieben ist: “Grüß Dich, Deutschland, aus Herzensgrund”. Die bewegt uns als Fazit dieses leisen Buches mehr, als jeder Historienroman es könnte.

Tilman Krause (Literarische Welt, 23.07.2016)

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Am Strand von Scheveningen

Friedrich Christian Delius setzt die Reihe seiner Familienstoffe in Romanform mit “Die Liebesgeschichtenerzählerin” fort.

Im Zentrum steht der Entschluss einer fast 50-jährigen Frau, endlich der eigenen Stimme zu folgen und den Lebenstraum vom Schreiben zu verwirklichen. Sie fasst ihn im Januar 1969, in einem epiphanischen Moment am Strand von Scheveningen. Drei Tage lang, bis zu ihrer Rückkehr zu ihrer Familie in Frankfurt, sieht sich Marie als die „Liebesgeschichtenerzählerin“, die sie immer hatte werden wollen – und die dem neuen Roman von Friedrich Christian Delius auch seinen Titel gegeben hat.

Eine Talentprobe hat Marie immerhin schon abgelegt: eine Biografie über die als Widerständlerin von den Nazis hingerichtete Pädagogin Elisabeth von Thadden. Zeile für Zeile hat sie ihr „Gesellenstück“ ihren Pflichten als Ehefrau und Mutter von vier Kindern abgerungen, nun sollen Romane folgen. Auf einer Zugfahrt entlang des Rheins wechseln sich die Euphorie des Neuanfangs, Selbstzweifel und Selbstbestätigung, „Erinnerungsflüge und Fantasien“ ab. Nicht nur die familiären Rahmenbedingungen scheinen günstig. Marie hat auch einen Stoff, der sie ruft, eine Geschichte, die von ihr erzählt werden will.

Eine Geschichte? Tatsächlich sind es, wie ihr nun bewusst wird, sogar drei, genug für eine ganze Romantrilogie. Drei große Liebesgeschichten, alle wahr, alle „hingen auf vertrackte Weise zusammen, alles wurzelte in Niederlagen und Katastrophen.“ Doch welche davon soll sie zuerst erzählen? Die erste, älteste, hat sie nach Holland geführt, zu Recherchezwecken ins königliche Archiv in Den Haag: die Liaison des Prinzen von Oranien und späteren Königs der Niederlande mit einer Berliner Tänzerin. Ihre 1812 geborene illegitime Tochter Wilhelmine war Maries Ururgroßmutter.

Dann gibt es noch die Geschichte von Maries eigener Liebe zu dem Gutsbesitzersohn Reinhard, die in den Jahren des Zweiten Weltkriegs begann – eine Geschichte von Entsagung, Flucht aus der mecklenburgischen Heimat und jahrelangem Warten auf die Rückkehr ihres Mannes aus russischer Kriegsgefangenschaft. Und die ihrer Eltern, die Liebe zwischen dem U-Boot-Kapitän Hans und der Generalmajorstochter Hildegard, die mitten im Ersten Weltkrieg begann.

Wie sich zeigt, sind es aber weniger die klassentypischen „Rituale der Annäherung“ zwischen ihren Eltern, die Marie beschäftigen, als vielmehr ihr Vater selbst, der „allgegenwärtige Alte“: War er wirklich der „Gefühlsverweigerer“, als den sie ihn als Kind erlebte, der jedes Weinen mit einem „Schluck’s runter“ erstickte? Wie ging er mit dem Anblick der von ihm versenkten Schiffe, darunter mindestens zwei Truppentransportern, um? Wieso war ihm noch im November 1918 die Ehre des Kaisers so wichtig, dass er wegen einer Flagge sein Leben riskierte? Warum war er nach dem Krieg vorübergehend gelähmt? Wie gelang ihm so leicht der Wechsel „vom Kaisergehorsam zum Gottesgehorsam“? Als „trotziger Christenmensch“ ließ sich der Nationalist und Hindenburg-Anhänger in der NS-Zeit sogar von der Gestapo nicht einschüchtern.

Vieles an diesen Familiengeschichten dürfte Delius-Lesern bekannt vorkommen. Über den holländischen Prinzen und die Tänzerin hat der Büchnerpreisträger selbst geschrieben: In dem Roman „Der Königsmacher“ (2001) schob er die Abstammung seiner Familie von Willem I. noch ironisch gebrochen einer nach Aufmerksamkeit gierenden Schriftstellerkarikatur namens Roche zu. Und über die Herkunft seiner Mutter aus dem mecklenburgischen Landadel, als Tochter eines Volksmissionars, war bereits 2006 in Delius’ „Bildnis der Mutter als junge Frau“ zu lesen: ein berührendes Zeitbild, das die Mutter mit 21 Jahren und schwanger in Rom zeigt, hin und hergerissen zwischen Führer- und Gottesglauben.

Weil auch Marie über ihre BDM-Vergangenheit nachdenkt, ihre Konflikte zwischen „Kreuz und Hakenkreuz“, liegt es nahe, in ihr ein weiteres Porträt von Delius’ Mutter zu vermuten, diesmal eben als reife Frau in der Nachkriegszeit auf dem Weg zur späten Selbstverwirklichung. Auch formal-ästhetische Ähnlichkeiten sprechen dafür: Besteht „Bildnis der Mutter als junge Frau“ aus einem einzigen, allein durch Kommata und Leerzeilen gegliederten Satz, so „Die Liebesgeschichtenerzählerin“ allein aus absatzlangen Sätzen, die jeder für sich, statt mit einem Punkt zu enden, von einem Gedankenstrich gleichsam ins Freie entlassen werden – bevor nach einer Leerzeile der nächste Absatz-Satz beginnt. Es ist beeindruckend, wie es Delius so gelingt, den Lesefluss immer wieder anzuhalten und die Räume für Fantasie und Empathie beständig neu zu öffnen.

Dennoch ist nicht Delius’ Mutter das Vorbild für Marie. Wem hier ein berührendes Denkmal gesetzt wird, ist offenkundig deren zwei Jahre ältere Schwester Irmgard von der Lühe (1919-1998), die wie Marie 1942 in Rostock ein geisteswissenschaftliches Studium wegen Heirat abbrechen musste, um dann 1966 eine Elisabeth-von-Thadden-Biografie vorzulegen. Später folgten noch Gedichtbände und weitere Publikationen zum Thema Widerstand in der NS-Zeit – allerdings keine Romane. Wie ungewiss es ist, ob Marie ihren Traum verwirklichen wird können, darauf deutet auch das offene Ende von Delius’ Roman hin.

Man kann nur staunen, wie es dem gern als „Chronisten der Bundesrepublik“ gerühmten Autor erneut gelingt, Zeitkolorit und Familiengeschichte zu einer eindrucksvollen erzählerischen Synthese zu bringen. Mit einer versteckten autobiografisch-ironischen Pointe: Denn es ist nicht zuletzt der Anblick der in Amsterdam ungeniert zungenküssenden „Krawallstudenten“, der Marie darin bestärkt, ihre Romantrilogie zu schreiben: Auf dass die „freundlichen Nichtstuer“ und „Gammler“ sehen, wie gut sie es in Friedenszeiten haben und sie ihre Talente nicht vergeuden. Was wohl der junge F. C. Delius, der, siehe „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“ (1997), seine lustfeindliche Erziehung im Berlin der Studentenrevolte ablegte, dazu gesagt hätte?

Oliver Pfohlmann (Der Tagesspiegel 23.03.2016)

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