Klaus Siebenhaar: Totentanz oder Letzte Ausfahrt Wiesbaden (Tagesspiegel)
Totentanz oder Letzte Ausfahrt Wiesbaden
Feinde auf Leben und Tod: Friedrich Christian Delius‘ Roman „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“
Es herrscht Bombenstimmung in der noblen Kurstadt. Wiesbaden rüstet sich zu einem Schauspiel der besonderen Art: Staatsbegräbnis für drei Staatsfeinde – Anlaß zu einer Demonstration der Macht und zu einer „großen Geste der Milde“. Der Ort des spektatorischen Ereignisses weiß um seine Verantwortung: „Die Entscheidung fiel logischerweise für die Stadt, die diesen Toten beschäftigungspolitisch am meisten zu verdanken hat…“ Die Republik holt ihre verbrecherischen Rebellen heim, das Imperium schlägt in einem grotesken Gnadenakt zurück und schafft Klarheit.
Es war einmal ein Deutschland, im Herbst, eine freiheitliche Teilrepublik in ihrer heimlichen Wendezeit. Das Jahr 1977 markiert den Höhepunkt des Terrorismus und der staatlichen Gegengewalt zugleich. Zwischen Verunsicherung und markiger Entschlossenheit schwankt die Gemütslage der Nation: Tanz auf dem Vulkan in einem satten Wirtschaftswunderdeutschland. Zum dritten Mal und nun abschließend stellt sich F.C. Delius diesem Jahr und Thema. Wieder hat nach „Ein Held der inneren Sicherheit“ (1981) und „Mogadischu Fensterplatz“ (1987) die Perspektive gewechselt, geblieben ist die Frage nach der prinzipiellen Rekonstruierbarkeit eines gesellschaftlichen Bewußtseins im Kontext von Geschichte und Wahrheit.
War es im ersten Teil dieser Deutschland-Trilogie ein Mitläufer der Macht, aus dessen Sicht das Geschehen vermittelt wurde, reflektierte ein Opfer die Entführung der Lufthansa-Maschine nach Mogadischu, so dringt nun Delius in „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“ in den Kernbereich des „RAF“-Terrorismus und in die Schaltzentrale des Bundeskriminalamtes vor. Die Feinde auf Leben und Tod verbindet eine tiefe Liebe, sind sie doch in ihrer jeweiligen Existenz untrennbar miteinander verkettet. Personifiziert in dem „RAF“-Terroristen Sigurd Nagel (alias Andreas Baader) und dem BKA-Chef Bernhard Schäfer (alias Horst Herold), wird dies als Duell zweier ungleicher Brüder im Geiste ausgetragen; sie brauchen einander, so wie das Horst Herold über Andreas Baader im „richtigen Leben“ zum Ausdruck gebracht hat und wie es von Delius als Motto vorangestellt wird: „Ich habe ihn geliebt.“
Wie immer sucht der promovierte Germanist Delius nach dem angemessenen formalen Zugriff. Das Ergebnis wirkt vertraut: Montagetechnik, Faktenmosaik, multiperspektivisches Kameraauge, Assoziationsketten, verschiedene Erzählebenen, hochdifferenzierter Sprachduktus. Der besondere Dreh diesmal: Der gerade „durch einen Schuß von (wahrscheinlich) eigener Hand“ umgekommene Terrorist Sigurd Nagel erlebt sein eigenes Begräbnis und rollt dabei in einer fast schon klassischen Recherche und Confessio noch einmal seine eigene Geschichte auf. Kontrastierend dazu führt uns Delius in die hermetische und voll mediatisierte Welt seines Gegenspielers Bernhard Schäfer. Zwei weitere Erzählstränge kontuieren und ergänzen den „Lebensfilm“. Isoliert in ihrem Versteck, protokolliert eine der meistgesuchtesten Terroristinnen in typischer „RAF“-Diktion ihre Niederlage und ihr Versagen, während ein italienischer Professor den Selbstmord eines anderen Gefangenen untersucht und dabei in den Strudel der Ereignisse gerät.
Die Konstellation ist noch vertraut und ungebrochen aktuell: Ein technisch hochgerüsteter Polizeiapparat jagt eine der kleinsten Armeen der Welt, die sich heillos ins Bomben und Morden verrannt hat. Eine solche Geschichte ist für Delius einzig noch als zynische Groteske vermittelbar, ein „danse macabre“ barocken Ausmaßes. „Ich gegen alle und alle gegen mich“, konstatiert der Held zu Beginn und zitiert leitmotivisch eines der grausamsten Märchen aus der Sammlung der Brüder Gimm: „Von dem Manchandelboom“. „Mein‘ Mutter, der mich schlacht, / mein Vater, der mich aß, / mein Schwester, der Marlenichen, / sucht alle meine Benichen, / bindt sie in ein seiden Tuch, / legts unter den Manchandelboom, / Kiwitt, kiwitt, was für ein schöner Vogel ich bin!“ Der im Märchen heimtückisch von der bösen Stiefmutter Gemordete und fortan als Vogel klagend Umherfliegende rächt sich am Ende und kehrt gleichsam wiedergeboren in den Kreis der Familie zurück. Sigurd Nagel ist diese Wiederauferstehung versagt.
Dazwischen entfaltet Delius aus lauter Momentaufnahmen und Partikeln ein Panorama dieser Zeit, eine krude Mischung aus quälender Selbstbefragung, Werbesprüchen, Rock-Song-Zitaten und literarischen Texten, die zerrspiegelartig die Bewußtseinslage einer angekratzten Collagen-Gesellschaft dokumentieren. Dabei vermag Delius nicht der Verführung zu entgehen, den Zeitgeist der späten achtziger Jahre in die allgemeine Verunsicherung des Jahres 1977 hineinzuprojizieren. Das ändert aber nichts an der beklemmenden Intensität des Romans.
Souverän führt der Artist Delius über eine ausgeklügelte, facettenreiche Sprachgestaltung Regie, dringt mikroskopisch genau in die Ritzen des Alltagsbewußtseins ein und fügt schließlich die verschiedenen Bewußtseinsstränge zu einem Mosaik gesellschaftlicher Befindlichkeit, das die Abgründe und Hohlräume hinter den Fassaden der bürgerlichen Ordnung wie der terroristischen Selbstgerechtigkeit aufdeckt. Während stellenweise die Schilderungen des zirzensisch aufgebauschten Begräbnisrituals zu ermüden beginnen und auch die Erkundungen Sigurd Nagels in eigener Sache nicht ohne Längen sind, gelingt Delius ein schaurig-schönes Portrait des Jägers.
BKA-Chef Schäfer ist ein Liebhaber. Mit unerbittlicher Ausdauer verfolgt er die Subjekte seiner Begierde. Umgeben von Monitoren, Fahndungsplakaten und permanent abrufbereiten Datenbanken, gibt er sich in seiner künstlichen und isolierten Welt hemmungslos der Lust des Beobachtens, Ausspähens und Kontrollierens hin. Er ist ein leidenschaftlicher Sammler, er braucht seine Opfer lebend. Der Tod der Gejagten stimmt ihn traurig, in den Särgen entschwinden sie seinem beobachtenden Auge, sein Monitorblick lebt von Gesichtern – auf dem Bildschirm oder wenigstens auf den Fahndungsplakaten in seinem total gesicherten Arbeitszimmer. Er beneidet einen Kollegen, der die unmittelbare Nähe zu seinem Gegner spürt.
Schäfer kennt die absurde Logik und die vertrackte Moral seines Kampfes: Die wahren Stützen der Gesellschaft sind ihre verbrecherischen Rebellen, dienen die doch unbewußt ungewollt der Verbreitung der Moral. Und nur so kann Strafvollzug zur „Facharbeit am Menschen“ avancieren. Gefangene sind sie beide, der Held und sein Jäger. Weil nur die Kolportage der Wirklichkeit nahe kommt, darf der Showdown ganz am Schluß nicht fehlen: „der leibhaftige Nagel steigt von einer in Silberfolie verfaßten Himmelsleiter hinab (…), in roten Schuhen, im weißen Anzug wie ein Showmaster, mit breitestem Lächeln im Glitzerlicht die Stufen hinab“ und schaut nach dem von Alpträumen und romantischen Sehnsüchten geplagten einsamen Schäfer. Keine Infrarotkamera und -schranken können dieses Gespenst des Medienzeitalters zurückhalten, Schäfer verspürt Respekt für diesen „hochintelligenten und hochmoralischen jungen Menschen“, unwiderstehlich fühlt er sich von ihm angezogen, aber Nagel entgleitet ihm, und seinen Liebesschwur verweht der Wind…
Delius kennt den Stoff, aus dem die Träume sind. Er breitet kontrastreich sein Material aus: Fakten, Mutmaßungen, Syndrome, Pathologisches, Fiktionen. Die Wahrheit liegt immer dazwischen – das Leben ein Spiel. Das große Welttheater des F.C. Delius präsentiert sich über viele Stationen leicht, das fördert kraft einer schönen Dialektik den Tiefgang. Nur mit kombinatorischer Einbildungskraft ist diese innere Schaubühne zu erfassen – also: Take the walk on the wild side: Und die Moral von der Geschicht‘? Wehe der Gesellschaft, die nicht solche „Gegner“ hat!
(Klaus Siebenhaar, Der Tagesspiegel, 29.09.1992)