Friedrich Christian Delius, FCD

Klaus Modick: Die öffentliche Beerdigung (FR)

Die öffentliche Beerdigung

Friedrich Christian Delius’ Romangroteske “Himmelfahrt eines Staatsfeindes”

Mit dem Terrorismus der RAF hat sich Friedrich Christian Delius bereits zweimal in Romanform auseinandergesetzt: 1981 verarbeitete er Motive der Schleyer-Entführung zur satirisch-realistischen Studie Ein Held der inneren Sicherheit, und 1987 schilderte er in Mogadischu Fensterplatz jene spektakuläre Flugzeugentführung, mit der die in Stammheim Einsitzenden freigepreßt werden sollten. Aus der Sicht einer der als Geiseln genommenen Passagiere streng subjektiv erzählt, endet der Roman damit, daß in der Wahrnehmung dieser Geisel Entführer und Befreier sukzessive identisch werden und die endlich Befreite “direkt in eine Tagesschauszene hineinläuft”.
Beide Motive, nämlich die bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander verbissenen Identitäten von Tätern und Opfern, von Fahndern und Verfolgten, von RAF und BKA einerseits, die Inszenierung der Terroristenjagd andererseits, nimmt Delius jetzt in seinem neuen Roman Himmelfahrt eines Staatsfeindes wieder auf und verschärft zugleich seine bewährte, satirische Gesellschaftskritik zu einer makaber-komischen Groteske. Man kann die drei Romane als eine eng ineinander verzahnte “Trilogie des Terrorismus” lesen, denn Delius greift auch auf Ein Held der inneren Sicherheit zurück. Der dort entführte Chef des Industriellen-Verbandes, Alfred Büttinger, spielt in Himmelfahrt eines Staatsfeindes wieder eine wichtige Rolle: Einer an der Entführung Beteiligten hat in einem Versteck Tonbänder besprochen, aus denen hervorgeht, wie menschlich nah sich Büttinger und seine Entführer kamen und daß seine Ermordung strategisch völlig sinnlos war.
Diese Tonbänder bilden allerdings nur eine der insgesamt vier Erzählperspektiven, aus denen Delius Himmelfahrt eines Staatsfeindes mit dramaturgischer Meisterschaft komponiert hat. Indem der neue Roman auf den gewaltsamen, bis heute nicht zweifelsfrei geklärten Tod der Gefangenen von Stammheim fokussiert ist, wird nun der Finger auf die wundeste aller Stellen gelegt, die der Komplex RAF-Stammheim hervorgebracht hat. “Der Schuß: aufwärts ins Land des Schweigens mit der besten Droge, die mich je beflügelt: minutenlang der süße Hirntod und der Lebensfilm vierdimensional verlängert verschönt – Aber da unten rufen ganze Chöre von Interviewgeiern, Wahrheitsheuchlern und Säusellerchen mir zu: Wie? und Warum? und Selbst? oder Mord?”
Wer spricht da? Ein Toter, genauer gesagt: Die Seele eines Toten namens Sigurd Nagel. Und? Ist Sigurd Nagel identisch mit Andreas Baader? “Personen und Situationen dieses Romans sind Erfindungen des Autors”, läßt Delius uns wissen. “Wo Partikel der einen oder anderen Wirklichkeit zu erkennen sind, dienen sie nicht als Abbilder, sondern als Material der poetischen Phantasie.” Zweifellos weisen Partikel der einen oder anderen Wirklichkeit darauf hin, daß hier nur Andreas Baader gemeint sein kann, und daß für seinen Gegenspieler, den Oberfahnder Schäfer, Horst Herold Modell gestanden hat. Aber Delius ist weit entfernt von Verismus, Dokumentation oder romanhafter Analyse des historischen Geschehens. Nagel ist vielmehr “der ewige Staatsfeind”, die Inkarnation einer ebenso notwendigen wie zeitlosen (und erwünschten) Bedrohung, und Schäfer ist “der ewige Frieden”, ein in seiner wahnhaften Verfolgungslust genauso ausweglos Gefangener wie die Terroristen in ihren Zellen.
Nagel also hat Selbstmord begangen, absichtsvoll so durchtrieben arrangiert, daß Zweifel immer bestehen bleiben müssen; und nun schwebt Nagel, von seinem Körper befreit, über den Dingen. Die Dinge aber sind: seine eigene Beerdigung. Kein eiliges Verscharren an irgendeiner Friedhofsmauer, sondern – ein Staatsbegräbnis. “Die Entscheidung fiel logischerweise für die Stadt, die diesem Toten beschäftigungspolitisch am meisten zu verdanken hat, also die mit dem größten Kriminalamt. Weitere Pluspunkte waren die ideale Verkehrsanbindung, der hohe Freizeitwert, die ausgezeichnete Hotelkapazität, überdies der gute Ruf einer weltberühmten Kurstadt. Nichts lag also näher als Wiesbaden, die vielfach bewährte Stadt der Feste und des Feierns, die nun das Privileg erhalten hat, für die ewige Ruhe der von der späten, aber nicht zu späten Liebe des Volkes erfaßten Toten sorgen zu dürfen.”
Horst Herold sagte über Andreas Baader: “Ich habe ihn geliebt.” Das Zitat steht dem Roman als Motto voran, und dieser eine Satz reißt die ganze Absurdität der Wirklichkeit auf, die Delius konsequent und mit romantechnisch äußerst delikater Choreographie in die Wirklichkeit seiner poetischen Phantasie überführt. Die Tragödie des Geschehens wird zur Groteske, die Wirklichkeit zu einem veitstänzerischen Medienspektakel, zu einem Narrenzug der gesamten Bundesrepublik.
In gewisser Hinsicht ist der Terrorismus nicht einmal mehr der Gegenstand dieses vieles wagenden und als Roman alles gewinnenden Buchs, sondern nur noch seine Kulisse – Gegenstand ist das akute Problem, inwieweit Wirklichkeit zu medialen Inszenierungen verkommt und wie historische “Wahrheit” in diesem Spektakel aufgelöst wird. Schon in seinem Roman Adenauerplatz von 1984 hatte Delius ironisch die Kamera als letzten Versuch gedeutet, “die Welt zusammenzuhalten”, eine undurchschaubare Wirklichkeit sinnvoll und das heißt, mit einem etwas obsoleten Wort: manipulativ, zu ordnen. Delius hat sich für die Durchführung der Idee, einen juristischen Skandal als multimediale Karnevalsveranstaltung bis zur Kenntlichkeit zu entstellen, auf ein Modell gestützt, nämlich Robert Coovers Roman Die öffentliche Verbrennung, in dem der amerikanische Autor 1976 die Hinrichtung der angeblichen Atomspione Ethel und Julius Rosenberg verarbeitete. Coover wie Delius treiben das Entsetzen in ihr ästhetisches Spiel, und das Grauen steigert die Komik und die Komik des Grauens.
Eine der dichtesten Szenen des Buchs zeigt den einsamen Fahnder Schäfer vor den Monitoren seiner Computer, von denen er hofft, sie mögen “alle Spuren des Subjektiven” tilgen und “auf dem Wege der Programmierkunst des Janeinjaneinjanein direkt in Beweise und Befehle” münden. Computerfahndung ist hier zu einem sich selbst generierenden, gigantischen Computerspiel geworden, das mit dem Subjektiven auch alle Grenzen zwischen Moral und Unmoral, Schuld und Unschuld, verwischt. Die Obszönität der “Liebe” zwischen Fahnder und Terroristen reizt Delius mit geradezu gnadenloser Konsequenz aus, und treibt seinen Roman, dessen absurder Realismus etwas Visionäres hat, bis in unsere allerneueste Vergangenheit, wenn die Seele des ewigen Staatsfeindes schwadroniert: “…und ich rufe allen meinen Feinden und Richtern zu: ich liebe euch doch alle!”

(Klaus Modick, Frankfurter Rundschau vom 30.09.1992)

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