Friedrich Christian Delius, FCD

Lothar Baier: Wie Macht wirkt (Zeit)

Wie Macht wirkt

Friedrich Christian Delius‘ erster Roman: „Ein Held der inneren Sicherheit“

Wer das Gegenwärtige beschreiben will, heißt es in Dostojewskijs „Jüngling“, ist dazu verurteilt, zu raten und sich zu irren. Erst in einer späteren Epoche wird es möglich sein, schöne Formen für die Darstellung der Unordnung der heute laufenden Ereignisse zu finden. Die ästhetische Distanz, welche die literarische Darstellung vom Dargestellten trennt, ist in aller Regel von der zeitlichen Distanz abhängig. Wenn man sich die gegenwärtige Häufung von Autobiographien und Romanen ansieht, die Nazi-Deutschland oder die unmittelbare Nachkriegszeit zum Gegenstand haben, könnte man zu dem Schluß kommen, daß es einen guten Generationsabstand braucht, um ästhetische Distanz zu den Zeitereignissen zu gewinnen.

Im ersten (nach Gedichten, Satiren und Dokumentationen entstandenen) Roman von Friedrich Christian Delius „Ein Held der inneren Sicherheit“ wird überraschenderweise ein Gegenbeweis angetreten. Es ist zwar erst ein paar Jahre her, daß die Ereignisse, auf die sich der Roman bezieht, die Schlagzeilen beherrschten, aber einmal in die Romanwelt integriert, erscheinen sie merkwürdig ferngerückt, abgeschlossen und eingegrenzt. Was an zeitlichem Abstand fehlt, hat Delius durch perspektivische Distanz ersetzt, und zwar mit so sicheren Griffen, als hätte es nie die geringste Unsicherheit im Blick auf diese allerjüngste Vergangenheit gegeben.

Dieser „Deutsche Herbst“ 1977, so wie unsereins, und also auch Delius selbst, ihn erlebt hat, beherrscht von Sympathisantenjagd, Nachrichtensperre, Stammheim-Spekulation, ist in dem Roman „Ein Held der inneren Sicherheit“ nicht mehr wiederzuerkennen. Statt irgendeine Art von Betroffenheit zu rekonstruieren, hat sich der Erzähler Delius einen Beobachtungsposten aufgebaut, der ihm erlaubt, die Geschichte aus einem ganz unerwarteten Blickwinkel zu erzählen. Und auf einmal ist aus der Geschichte einer dramatischen innenpolitischen Krise die Geschichte einer vorübergehenden atmosphärischen Störung geworden.

Delius hat andersherum gefragt: nicht, wie die Bundesrepublik auf die Entführung Schleyers reagierte, sondern wie der Betrieb, dessen Chef gekidnappt worden war, mit dem Verlust fertiggeworden war, nein, fertiggeworden sein könnte; denn Delius‘ „Verband der Menschenführer“ ist nicht der Deckname für den Bundesverband der deutschen Arbeitgeberverbände, sondern eine Neukonstruktion aus der Werkstatt des Autors, ebenso wie der entführte Büttinger, zwar unverkennbar den Zügen Hanns Martin Schleyers nachgebildet, eine Modellfigur ist und kein literarischer Abklatsch. „Der Held der inneren Sicherheit“ ist kein Enthüllungsroman, der endlich einmal ausplaudert, was hinter den Glasfronten der BDI- und BDA-Zentrale ausgeheckt wird; das Geheimnis des „Verbandes der Menschenführer“ in Delius‘ Roman ist gerade seine Geheimnislosigkeit. Alles, was in ihm vorgeht, hat der Autor aus öffentlichen Materialien rekonstruiert, aus dem Sprachmaterial der Industrie-Pressechefs, der Werbeagenturen, der Wirtschaftsdienste; der Ort der Romanhandlung, die Zentrale der „Menschenführer“, ist ein Sprachgebäude, in dem nichts anderes produziert wird als Sprache. Der Held des Ganzen mit Namen Roland Diehl, „Chefdenker“ des Hauses und Ghostwriter des Chefs, versteht selbst nicht, was in der Volkswirtschaft vor sich geht, aber er versteht es, die bekannten Euphemismen der Wirtschaftseitenprosa mit aggressiveren Verben zu immer neuen Redeapparaten zusammenzumontieren, und das macht ihn unersetzlich.

Mit der Entführung seines Chefs kommt dem Chefdenker vorübergehend die Motivation abhanden: Reden entwerfen, die vielleicht nie gehalten werden, fällt dem zielstrebigen ehemaligen Bundeswehrleutnant und Rallye-Fahrer nicht leicht. Aber die Devise des Hauses heißt: the show must go on, und Diehl, der Chefdenker, denkt weiter ohne Chef. Er denkt zwar noch oft an ihn, aber die Zentrale findet sich nicht nur überraschend schnell mit Büttingers Abwesenheit ab, sondern integriert sie auch so lückenlos in ihr modifiziertes Konzept, daß ein zurückkehrender Büttinger nur noch ein Störfaktor wäre. „Nun mußte das Opfer gebracht werden in aller einverständigen Stille“, heißt es, „und jeder wurde suspekt, der sich mit diesem Menschen noch befaßte und sich nicht an die vorgeschriebenen Informationen und Emotionen hielt. Ehe Büttinger tot war, mußte er totgeschwiegen werden, das war das ungeschriebene Gesetz.“

Es ist bewundernswert mit welcher Gewandtheit Delius die Sprache der Chefetagen handzuhaben versteht, eine Sprache, die er im übrigen seit seiner 1966 erschienenen Collage „Wir Unternehmer“ erkundet hat wie kein anderer Schriftsteller.

Es bliebe aber beim Staunen über eine technische Fähigkeit, wenn es Delius nicht gelungen wäre, aus den Elementen dieser Sprache eine Figur mit eigenem Gewicht und eigenem Profil zu modellieren, die auf eine verquere Weise gegen die Logik ihrer eigenen Sprache rebelliert, ehe sie sich ihr beugt und ihr zu neuem Triumph verhilft.

Roland Diehl, der Ex-Journalist, von Büttinger zum Chefdenker des Verbandes herangezogen, weigert sich, Büttinger ebenso schmerzlos abzuschreiben, wie die Kollegen. Im Rahmen der persönlichen Geschichte, die sein Autor ihm zugesteht, darf er sich eine Art Trauerarbeit erlauben, die seinen Alltag in Mitleidenschaft zieht: Zwischen Erinnerungen an die väterlichen Seiten seines Chefs und Ängsten um die eigene Karriere hin- und hergerissen, in seinen Tagträumen bald als Büttingers Befreier, bald als PR-Chef seiner Entführer auftretend, tappt Diehl im Dunkel des Lochs, das sich mit Büttingers Verschwinden aufgetan hat. Wie der von Verlustangst geplagte Diehl unmerklich wieder Tritt faßt, wie sich in seinem Kopf das neue Realitätsprinzip des Verbandes Schritt für Schritt durchsetzt, von dieser Geschichte, und nicht von der Entführung, bezieht Delius‘ Roman seine unwiderstehliche Spannung. Daß der Ghostwriter als Belohnung für sein Einschwenken auf die allgemeine Linie mit dem Posten eines Abteilungsleiters betraut wird, ist für den Roman fast nur noch eine formale Angelegenheit.

Wenn Delius mit Zitaten, leicht entzifferbaren Anspielungen auf lebende Vorbilder und dem Jonglieren mit der Managersprache auch in die Nähe von Karikatur und Parodie gerät, so hat er die Grenze zur Satire doch nirgendwo überschritten. Ja, es gehört zu seinen Listen, im Gewand eines leicht lesbaren, sicher komponierten kleinen Romans einen Gegenstand zu behandeln, der gewichtigeren Instrumenten immer wieder entschlüpft. Es geht um Macht – nicht in ihrer Manifestation als Haupt- und Staatsaktion, sondern als gesellschaftlichem Aggregatzustand. Nicht in der Substanz, höchstens in der Wirkung läßt sie sich beschreiben: In der Geschichte des Roland Diehl erzählt Delius zugleich, wie Macht sich als ein Magnetfeld aufbaut, dessen Stärke sich an den machtgeladenen Wörtern ablesen läßt. Jene „innere Sicherheit“, von der keiner genau weiß, worin sie besteht, wäre vor dem Hintergrund dieser sprachlichen Zustandsbeschreibung als der Augenblick zu definieren, in dem die Menge der machtgeladenen Wörter zur kritischen Masse wird. Vorsicht also beim Umgang mit Delius‘ scheinbar leichten Gewichten: Es besteht Explosionsgefahr.

(Lothar Baier, Die Zeit, 24.04.1981)

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