Friedrich Christian Delius, FCD

Heinz Ludwig Arnold: Charakterstudie eines Karrieristen (NZZ)

Charakterstudie eines Karrieristen

Friedrich Christian Delius: „Ein Held der inneren Sicherheit“

Der Lyriker Friedrich Christian Delius hat, 15 Jahre nach seinem ersten Gedichtband, erstmals ein umfangreiches Prosastück geschrieben, das er Roman nennt. Den Stoff dafür hat er, äusserlich gesehen, aus Zeit und Klima um die Entführung des Arbeitgeber-Präsidenten Schleyer genommen, als der westdeutsche Terrorismus seinen Höhepunkt erreichte. Aber Delius‘ Thema greift weiter – denn nicht die Terroristen und ihr Opfer Schleyer (im Delius-Text Alfred Büttinger) stehen im Zentrum des Buches, sondern Büttingers alerter Redenschreiber und Vordenker Roland Diehl – oder besser: Diehls Gedanken und Karriereüberlegungen und bedrückende Träume während der Zeit, da sein Chef in der Hand der Terroristen und seine berufliche Zukunft ungewisser denn je ist.
Für einen bundesrepublikanischen Schriftsteller könnte das ein heikles Thema sein; man erinnert sich noch gut der Erregung, die damals, als der Romanstoff Realität war, alle Bereich der Oeffentlichkeit und auch des Privaten durchzog. Und Delius hat sich mit seiner Literatur – einer Siemens-Festschrift-Parodie und einem Gedicht, das den in die Schweiz abgewanderten „Kaufhauskönig“ Horten beim Namen nannte – schon einige Prozesse eingehandelt, mit denen er sich jahrelang herumschlagen musste.
Dieses neue Buch wird Delius keinen Prozess eintragen. Es geht, wie angedeutet, weit über seinen Anlass hinaus, ist im besten Sinne die subtile und psychologisch einfühlsame Charakterstudie eines Karrieristen, der sich fugenlos einpasst in den Karrierefluss einer durchorganisierten Leistungshierarchie. Die eigene Vergangenheit am Rand der Studentenbewegung und dann Redaktor in einem Funkhaus nützt Diehl als Erfahrung sprachlicher Verkleidungs- und Verführungsformeln. Sein privates Leben steht ganz unter diesem Gesetz: persönliche Bindungsunfähigkeit und die Bereitschaft zu rückhaltlosem beruflichem Einsatz bedingen einander, Erinnerungen an frühere Beziehungen zu anderen werden zwar reflektiert, vermögen Diehl aber nicht mehr zu berühren; sie werden abgelegt wie unnütz gewordene Akten. Seine fast geschäftsmässige Beziehung zu Tina, Hostess im Hause der „Menschenführer“ – so nennt Delius die Industrieführer, die Gewerkschaften nennt er „Partnerverein“ – , belegt, wie sehr bei Diehl das Vermögen verkümmert ist, menschliche Einsätze zu wagen.
Folgerichtig überkommt ihn in seinen Träumen die Angst, leiden zu müssen, getötet zu werden. Abgedrängt ins Unterbewusste, meldet sich die Furcht vor dem Risiko des eingeschlagenen Wegs mit präzisen Traumbildern, die demonstrieren, wie sehr sich Diehl der Wirklichkeit der Menschenwelt entfremdet hat.
Diesen Entfremdungsprozess zeichnet Delius in genauen psychologischen Verläufen und Bildern nach. Er beschreibt im Verlauf des Buchs den Prozess der Ablösung Diehls von seinem Chef Büttinger, von dem er sich anfangs einzig abhängig fühlte, und dieser Prozess vollzieht sich desto stärker, je mehr der entführte Büttinger aus dem erinnernden Blickfeld Diehls gerät. Mit der Entrückung Büttingers aber wächst Diehl über seine Zukunft. Ein Job ausserhalb des Hauses, als Pressesprecher, auf den er fest gebaut hatte, entgeht ihm – doch er fällt Schanz, einem Abteilungsleiter im Hause der „Menschenführer“, zu; und wie es sich so fügt, kann Diehl auf dessen Posten hochrücken.
Ein Happy-Ending wohl nur für den abgestumpften Diehl, erkauft mit der Aufgabe einer selbstbestimmten Persönlichkeit zugunsten dessen, worauf sein „Beruf“ und sein Denken zielten: die Macht einer Fassade. Mit wohltönender Sprache wird zugedeckt, was die „Wirklichkeit“ im Hause der „Menschenführer“ ist: ein profitables Geschäft ohne Rücksichten. Da ist Delius Meister: wie er die Sprache der Wirklichkeitslüge unterminiert und demaskiert.
Ob Delius‘ Buch ein Roman sei, ist unerheblich – was nennt sich heute nicht alles Roman. „Ein Held der inneren Sicherheit“ jedenfalls ist eines der sprachlich eindringlichsten Prosawerke der letzten Jahre, eine scharfe Belichtung unserer Gegenwart, gegen die so manche junge Menschen sich zu artikulieren versuchen.

(Heinz Ludwig Arnold, Neue Zürcher Zeitung, …… 1981)

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