Friedrich Christian Delius, FCD

Heinrich Vormweg: Phantombild eines gesuchten Typs (SZ)

Phantombild eines gesuchten Typs

Friedrich Christian Delius gibt sein Romandebüt

Die Unternehmer heißen Menschenführer, ihre Dachorganisation heißt nicht Hanns Martin Schleyer, sondern Alfred Büttinger, einer seiner potentiellen Nachfolger heißt wie die Hauptfigur in Heinrich Bölls „Fürsorglicher Belagerung“ Fritz Tolm. Diesmal hat F.C. Delius, Verfasser unter anderem der satirischen Dokumentation „Unsere Siemens-Welt“ und des Lyrikbandes „Ein Bankier auf der Flucht“, sich abgesichert. Kein Unternehmer, kein Konzern dürfte einen Anlaß finden, vor Gericht zu ziehen. Wie es sich gehört, ist ein ganzes Vorsatzblatt der Ausgabe reserviert für die Feststellung „Ereignisse der Zeitgeschichte waren ein Ausgangspunkt, sind jedoch nicht Gegenstand dieses Romans. Personen und Institutionen sind die Produkte der poetischen Phantasie des Verfassers.“ Literatur also, nichts sonst. Auch bei einem Roman darf man ja im übrigen herauslesen können, woran man ist.
Die drei Beschützer Büttingers also sind tot. Der Präsident des Verbandes der Menschenführer ist entführt. Die gesamte Medienwelt kreist um seine Abwesenheit. Im Verband ist man zunächst ratlos, wenn auch entschlossen. Die innere Sicherheit ist avanciert zum Thema Eins. Der „Partnerverband“, als der der Deutsche Gewerkschaftsbund hier figuriert, ist in Anbetracht der Situation zu äußerstem Wohlverhalten gezwungen. Das Modell Deutschland zeigt ein leichtes Flimmern im Antriebsbereich, ist jedoch schon dabei, sich erneut und noch verläßlicher zu stabilisieren. So weit die Staffage. Wer könnte mit soviel direkt erkennbarer Zeitgeschichte im Rücken als Romanheld agieren?
Der Mann, den Delius‘ zu seinem Helden in der inneren Sicherheit und damit zur Zentralfigur seines ersten Romans erwählt hat, zeigt auf den ersten Blick nur die Potenz zu einer kleinen Nebenfigur im bundesweit die Menschen bannenden Spektakel. Er heißt Roland Diehl, fühlt sich als bisheriger Ghostwriter Büttingers arbeitslos werden und gerät deshalb in die Gefahr, seinen Stolz als „Chefdenker“ im Menschenführer-Verband und seine innere Sicherheit zu verlieren. Er bastelt weiter an Büttingers nächster Rede, doch in der Gewißheit, daß die Arbeit sinnlos ist. Er wünscht sich Büttinger zurück und möchte doch von ihm loskommen. Seine Freundin Tina, vielbewunderte und sprachengewandte Hostess im Kölner Haus der Menschenführer, zeigt gerade jetzt Launen. Alles treibt Diehl, sein silberblaues BMW 2002 Cabrio – „sein einziger Schatz“ – immer wieder hochzujagen und per Geschwindigkeit Entlastung zu suchen. Einmal macht das sogar ihn verdächtig.
„Im Ernst, ein klarer Auftrag, und alles hätte wieder seinen Sinn. Ein Ziel, und alles wäre wieder im Lot.“ Zu dieser Erkenntnis ringt Diehl sich durch, nachdem Delius sorgfältig das Bild Büttingers in Diehls Vorstellung und die Figur Diehls aus dessen Lebenslauf und Verhaltensweisen zusammengesetzt hat. Was sind, was erhoffen und treiben die Diehls im System der Büttingers, die „eine demokratisch verfaßte Gesellschaft genauso unbefangen repräsentieren, wie sie eine faschistisch organisierte Gesellschaft repräsentiert haben“? Die einen brauchen offenbar dringend die anderen. Die Diehls kommen, so scheint es, ohne die Führung, ohne die Zielsetzungen und die Ordnung Büttingers nicht aus, und doch sind zugleich sie es, die das Menschenführer-Syndrom tragen.
Roland Diehl ist kein vorgeschobener, er ist der wirkliche Held der Geschichte. Delius ist auf der Suche nach Diehl. Der Ghostwriter, der Produzent den Menschenführern nützlicher Argumente, der Anpasser mit Aufstiegsdrang, der Alleingänger mit der Neigung, sich aus seiner „Wirklichkeit herausplanen zu können“ – auch gerade seine innere Sicherheit erweist sich als übergreifendes Thema. Er ist „Mißerfolge nicht gewohnt“. Doch Delius läßt Diehls Karriere sich aus lauter unerreichten Zielen zusammensetzen. Diehl ist ein abgebrochener Mittelstreckenläufer, Jazztrompeter, Student, Rallyefahrer, Journalist, Funkredakteur. Nirgendwo hat es für die erste Garnitur gereicht. Aber Leutnant war er, bei den Panzergrenadieren. Und das alles zusammen qualifiziert ihn bestens zu einem „Fachmann fürs Allgemeine“, einem flexiblen Ideologen, wie die Menschenführer ihn brauchen. Es garantiert übrigens auch, nachdem die Fixierung auf Büttinger überwunden ist, Diehl wieder mit innerer Sicherheit funktioniert, angemessene Beförderung.
Eines ist dieser Diehl mit dem allen zweifellos nicht: ein Romanheld, wie aus Fleisch und Blut. Zeitweilig ist man versucht, es Delius vorzuwerfen. Diehl ist ein Strichmännchen, das nach und nach mit immer mehr Einzelheiten zu einem dann allerdings täuschend ähnlichen Phantombild des Typs Mitmacher und Aufsteiger in unserer weit fortgeschrittenen Bundesrepublik, der „drittgrößten Industrienation der westlichen Welt“, dieser beliebten „Hochpreisidylle“ ausgestrichelt ist. Man ist solange versucht, es Delius vorzuwerfen, bis deutlich wird, daß dies und nichts anderes die Intention des Autors war: ein Phantombild herzustellen, in dem exemplarisch ein schwer durchschaubares gesellschaftliches Ganzes sich spiegelt und greifbar wird. Das ist irritierend geglückt. Es wird, samt der Leere der synthetischen Hauptfigur, zum Ärgernis. Wer möchte sein wie Roland Diehl?
Beiläufig verdeutlicht Delius übrigens auch, wo nach seiner Beobachtung Gewinn geholt worden ist aus jenen Ereignissen der Zeitgeschichte, die Ausgangspunkt, nicht Gegenstand des Romans sind. Büttingers Ende bringt Öl für die Public Relations der Menschenführer. Einmal schließt Diehl, der Profi, messerscharf, daß da jetzt offenbar andere Leute in der Szene mitmischen. Leute mit Weitblick und präzisem Kalkül. Allzu plastisch treten die Sympathiegewinne hervor, als daß sie, überlegt er, noch bloßer Zufall sein könnten. Delius läßt keine Spur von Verständnis für die Büttinger-Kidnapper erkennen. Eher schon eine gewissen Neigung, Roland Diehl mitfühlend einen Bonus einzuräumen. Kann denn ein Mensch seiner mittleren Statur und mit seinen Ängsten sich überhaupt fernhalten vom Riesenrad des Erfolgs, das Leute wie ihn manchmal so rasch und leicht nach oben trägt?
Eine bissige Revue, sie zeigt Scharfblick und Zugriff, und wenn die vertraute bundesrepublikanische Szenerie deutlich überbelichtet ist, so läßt das doch nur Konturen krasser hervortreten., die in ihr da sind. Ein pointiert geschriebener Aufriß jüngster bundesrepublikanischer Vorgänge, in dem noch die Neigung des Autors zu stilistischen Bravourstücken Realität spiegelt. Sogar Delius‘ Entschluß, von den schon gewohnten, bisher für seine Vornamen eingesetzten Kürzeln „F.C.“ zu lassen und mit seinem ersten Roman als Friedrich Christian Delius hervorzutreten, signalisiert eine gewisse Bedeutung. Gewichtige, sehr deutsche Vornamen. Und man sollte sich da nichts vormachen: das Bedürfnis, die Erwartung, die Delius zu seinem unbequemen Protokoll individueller und sozialer Defizite stimuliert haben, sie haben weit mehr Hintergrund in dem, was „deutsch“ heißt, als all die selbstgewissen Widersprüche, die es bei den Betroffenen, den Menschenführern samt ihren Roland Diehls auslösen mag.


(Heinrich Vormweg, Süddeutsche Zeitung, 01.04.1981)

Impressum