Friedrich Christian Delius, FCD

Gustav Zürcher: Haßliebe für den Herrn (FR)

Haßliebe für den Herrn

Schleyer ist kein Schlüssel zu Friedrich Christian Delius’ erstem Roman “Ein Held der inneren Sicherheit”

“Brandt: es ist aus. Wir machen nicht mehr mit”, schrieb F.C. Delius 1966 kurz nach der Bildung der Großen Koalition in seinem Gedicht “Abschied von Willy”. Für viele aus dem oppositionellen Wir, abgeworben durch die Verlockungen blinder Gewaltaktion oder die friedlichen Erlösungsformeln fernöstlicher Mystik, wird es ein Abschied für immer; die meisten kehrten zurück in die ungeliebten Institutionen, einsichtig, mutlos, älter geworden, oder such(t)en in der Alternativszene nach einer neuen politischen Heimat, in der wesentlich Jüngere das Sagen haben.
Delius, wachsam gegenüber den Bequemlichkeiten politischen und literarischen Mitläufertums, blieb, wohin er sich seinerzeit verabschiedet hatte: Weit genug weg, um die inneren Beschädigungen durch die Zugeständnisse ans Machbare erträglich zu halten; nahe genug dabei, um den Machern auf die Finger und den Überbauspezialisten ins Konzept sehen zu können. Ein unbequemer Mitwisser, der aus den Protokollen des Wirtschaftstages der CDU/CSU (1965) die rhetorisch geblähte Selbstdarstellung der Unternehmer als Dokumentationssatire zitieren konnte (“Wir Unternehmer, 1966”), Und als ob der “Pinscher” – wie der damalige Bundeskanzler Erhard auf jenem Wirtschaftstag einen Großteil der deutschen Schriftsteller bezeichnete – über sein jämmerliches Hundedasein hinauswachsen sollte, sieht man ihn in seinem zweiten Dokumentarstück als zelebrierenden Anwalt unternehmerischer Interessen: als selbsternannten Festredner zum 125jährigen Jubiläum des Hauses Siemens (“Unsere Siemenswelt”, 1972).
Doch der ungebetene Gast gab aus seinem profunden Wissen auch über die düsteren Kapitel der Konzerngeschichte mehr preis, als es Siemens lieb sein konnte und den Gerichten Rechtens erschien. Nach dreijährigem Prozeß, in dessen Verlauf die Freiheit der Kunst gerichtet wurde, konnte das Buch, an einigen Stellen eingeschwärzt, wieder erscheinen.
Der Prozeß – ein weiterer, von Helmut Horten wegen einiger Gedichtzeilen angestrengt, konnte die Kunstfreiheit für sich entscheiden – ließ Delius über die Dokumentarliteratur nachdenken: Gelänge es, das Dokumentarische eher in der Darstellung ökonomischer Zusammenhänge als in einem reichhaltigen, oft spröden Faktenmosaik zu integrieren, würden die Texte “juristisch unangreifbarer und literarisch besser. Die Möglichkeiten der List im Literarischen sind noch lange nicht erschöpft”.
Den ersten Roman von Delius auf dem Hintergrund dieser Vorgeschichte zu lesen heißt nicht, einen Autor auf eine um Jahre zurückliegende poetologische Reflexion festlegen zu wollen; es heißt auch nicht, den individuellen Werkcharakter im Korsett starrer Kontinuitätslinien zu deformieren. Doch scheint mir der Wink, in diesem Roman die wechselnden Gesichter der “List” aufzuspüren, hilfreich, um nicht auf ihn hereinzufallen. Denn beim ersten Lesen, als sich ungefähr nach der Hälfte immer noch nichts Entscheidendes ereignet hatte, begann ich mich zu fragen: was geht mich eigentlich dieser Roland Diehl an? Mit welchem Recht fordert ein ehrgeiziger Emporkömmling aus der Zentrale der “Menschenführer” die volle Aufmerksamkeit für seine seelischen Verwirrungen, und dies mit sichtbarer Rückendeckung durch den Autor?
Die Kunst, in anderer Leute Köpfe zu denken, hat Delius diesmal weniger zur demonstrativen Bloßstellung derer benutzt, aus deren Köpfe heraus er denkt und schreibt. Er stellt sie nicht in bissigster Satire an den Pranger, sondern er stellt sie zunächst einmal vor in ihren Ängsten und Träumen, ihren Wünschen, Niederlagen und Verwundungen. Man kommt nicht ohne Mitgefühl mit den beiden Helden aus, deren Gefühls-, Gedanken- und Berufswelt wir in diesem Buch kennenlernen. Und wenn so etwas wie Sympathie vor allem für Büttinger aufkommt, dann möchte ich dafür die List des Autors verantwortlich machen, nicht meine geheime Zuneigung zum Kapital.
Denn Alfred Büttinger ist Chef der Verbandes der Menschenführer, wie die Industriellen hier heißen. Ein Mann von gewinnender Persönlichkeit, “Meister in jeder Situation”, in aller Herrgottsfrühe schon auf dem Hochsitz anzutreffen oder im Hochgebirge – zum Entsetzen der zukünftigen Jungmanager, die ihm unvermutet und in Halbschuhen auf einer halsbrecherischen Bergtour folgen müssen, bevor sie im Menschenführerbetrieb aufsteigen dürfen. Offen bekennt er seine NS-Vergangenheit in der Gewißheit, sie hinter sich gelassen zu haben, und seine bläßlichen Epigonen verwirrt er mit seiner Sympathie für die linken Studenten. An ihnen imponiert ihm, was er selber im Überfluß besitzt, aber in eine andere Richtung lenkt: “Sozialgefühl”. Der Mann der ersten Stunde, der schon in den Gefangenenlagern die jammernden “Hauruck-Nazis” durch sein forsches Zupacken beschämte, kennt das “tiefe Bedürfnis der Menschen, ihr soziales Umfeld zu verändern und zu verbessern”. – In der Rehabilitation der positiv erlebten Leistungsidee sieht Büttinger die einzige Chance, dem drohenden Sinnzerfall zu begegnen und die Menschen zu sich und wieder zueinander finden zu lassen. Sein Leben ist ein einziger Feldzug gegen die Selbstgefälligkeit besonders in den eigenen Reihen der Menschenführer, unermüdlich sieht man ihn am Werk der moralischen Aufrüstung, Büttinger hier, Büttinger dort, strahlend, überzeugend, verständig, humorvoll, die vollkommene Verkörperung dessen, wofür er einsteht.
Aber vielleicht war Büttinger gar nicht so. Denn als der Roman beginnt, kommt Büttinger nur noch in den Gedanken und Träumen seines Untergebenen Diehl vor. Der Chef der Menschenführer ist entführt, und die führerlosen Menschenführer müssen nun sehen, wie sie ohne ihn fertig werden. Oder wie sie mit ihm fertig werden. Feinde, über die man nichts erfährt, haben ihn entführt, seine Anhänger werden ihn erledigen, sie werden ihn erlegen, der passionierte Jäger wird zum Wild, verendend in der geschäftsmäßig absolvierten Trauer der Hinterbliebenen, das Opfer derer, die er hinter sich wähnte.
Doch ich greife vor, vielleicht auch zu weit, denn das prominenteste Opfer des Entführungsfalles Büttinger ist sein Chefdenker Roland Diehl, aus dessen Sicht der Roman weitgehend geschrieben ist.
Der 37jährige “Fachmann fürs Allgemeine”, zuständig für die rhetorischen Vorgaben von Büttingers Ermutigungsgeschäft, stand ganz im Schatten seines Gönners und Vorgesetzten, und zwar in doppelter Hinsicht: In Büttingers Nähe war Diehl geschützt vor den betriebsinternen Intrigen und der Mißgunst der alteingesessenen Menschenführer, die ihn den steilen Aufstieg nie ganz nachsehen konnten. Für sie ist er einer von außen, der, ohne die Sprossen der innerbetrieblichen Aufstiegsleiter erklommen zu haben, direkt in Spitzenposition kam und zudem noch die schöne Betriebshostess Tina eroberte, mit der die Menschenführer schon mal gern “gebumst” hätten und haben. Zum anderen war Büttingers Schatten zu mächtig, als daß sein Günstling aus ihm hätte herausfinden können. Diehl blieb im Hintergrund und trotz Blitzkarriere in der traumatischen Position Nr. Zwei, über die er in seinem Leben nie hinausgekommen ist, sei es als 1000-Meter-Läufer oder als Rallyefahrer. Überhaupt waren seine Erfolge Ergebnis verbissener Reaktionen auf vorangegangene Mißerfolge, bauten seine Aufstiege auf Niederlagen auf.
So spurtete der Sohn eines kleinkrämerischen Schuhwichs-Fabrikanten auf der Aschenbahn gegen den Verdacht an, daß sein Spitzname “der Wichser” zu Recht bestehen könnte. Daß er es bei der Bundeswehr zum Leutnant gebracht hatte, erscheint wie eine trotzige Antwort auf jene blamable Nacht, in der Rekrut Diehl, einen Hahn imitierend, eine halbe Nacht lang hoch oben im Baum “sein Kikeriki” schreien mußte. Und nie verwunden hat der Student Diehl seinen einzigen Auftritt in einer studentischen Vollversammlung, die ihn, der sich im Namen der Vernunft für eine konstruktivere Resolution aussprach, vom Mikrofon “weggelacht” hatte. Mit einem entschlossenen “Denen wird’ ich’s zeigen” gab er sein Studium auf und kam schließlich in die Obhut Büttingers.
Aber der plötzliche Weggang seines Vorgesetzten läßt die Wunden aufbrechen, mit denen Diehl seine Aufstiege bezahlen mußte; denn als er schließlich oben ist, ist er ruiniert, nach Ansicht seiner Freundin, “ein vollkommen kaputter Typ”, der nach dem Entzug von Büttingers Nestwärme erneut hinabgestoßen wird an den Rand einer Existenzkrise. “Büttinger, mein Beschützer, wo bleib’ ich dabei!” Als ob ihm der umsichtige Menschenführerchef nachträglich die Bergsteigertour abverlangte, zwingt er Diehl in die Selbstkonfrontation, der dieser mit hektischen Fluchtbewegungen im BMW oder seinen Träumen zu entkommen sucht. Doch immer wieder treibt es ihn in die Arme seines allmächtigen Übervaters, der mehr und mehr Profil gewinnt, während Diehl selbst zur Karikatur verkümmert.
Doch Roland Diehl, ab- und aufstiegsgewohnt, ist schließlich “kein Gefühlsheini”. Von endlosen Angst- und Siegesträumen hin- und hergeschüttelt, gelingt es ihm, seine diffuse rebellische Energie – “mit Tina bumsen oder ein Haus sprengen” – auf seinen Gegner zu konzentrieren und ihn zu vernichten. In einer fiebrigen Samstagnacht, in der ihn die Einsamkeit in seinem Hochhausbunker schier erdrückt, findet der dramatische Endkampf zwischen David und Goliath statt, der mächtige Menschenführer wird zum “Waldschrat” herabgeträumt, während sich Diehl zum “General”, Frauenheld und “Held der Nation” erhebt. Nach dieser gewaltigen Traumarbeit hat Diehl, von ein paar Nachwehen abgesehen, den störenden Koloß aus sich herausgewürgt und den “kühlen Takt der inneren Sicherheit” wiedergefunden; die anderen Menschenführer, die ihren Büttinger längst begraben haben, nehmen den Verspäteten in ihre Gemeinschaft auf und machen ihn zum Abteilungschef. Diehl ist “endlich Vorgesetzter”.
Hinter Büttinger darf man den ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Schleyer vermuten, aber Delius hat weder einen Tatsachenroman zur Schleyer-Entführung noch einen Roman über politischen Terrorismus geschrieben. Die Entführung eignet sich vielmehr als plausible Erklärung für Büttingers Abwesenheit, mit der sein Untergebener fertigwerden muß. Damit gibt Delius der politischen Aussage seines Romans ein psychologisches Fundament. An Diehl werden Strukturen und Folgen des kollektiv wirksamen Übervater-Syndroms sichtbar, das individuelle Entfaltungen und humane Gesinnungen nur zuläßt, um sie nachhaltig auszurotten.
“1984” und kein Ende? Die totalitäre Industriegesellschaft als geschichtliche Endstation, ein Moloch, der uns alle auffrißt? – Das Schlußbild, listig vom Futur in die Vergangenheitsform hinübergewechselt, zeigt die Menschenführer in ihrem bomben- und frischluftsicheren Betonbunker, wie sie streit- und tablettensüchtig und mürrisch darüber, “daß sie die Welt außerhalb ihres Hauses nicht besser in den Griff bekamen”, kann sein auf das Ende ihrer Herrschaft hinregieren.
“Ein Held der inneren Sicherheit” ist ein Buch voller Absicherungen gegen die flinke Vereinnahmung und als Handbuch für eindeutige politische Lektionen ungeeignet. Es kommt auch nicht den zur Zeit favorisierten Erwartungshaltungen gegenüber der schönen Literatur entgegen, die von starken Identifikations- und Absetzungssüchten geprägt sind. Es ist kein mitreißendes Buch: es erzeugt immer neu die Distanz und fordert als Dauerhaltung die Reflexion, sie zu überwinden. Diese Art von Austausch, die manchen ärgern wird, ist durch die Wahl des eher befremdlichen Heldenduos Diehl-Büttinger schon vorentschieden und wird vom “kühlen Takt der inneren Sicherheit” der Sprache in Gang gehalten auch dort, wo Diehl von innerer Sicherheit nur träumen kann. Nirgendwo hat man den Eindruck, daß Delius in sprachliche Verlegenheit geraten ist. Souverän setzt der den Fachjargon für Betriebs- und Menschenführung ein, kalkuliert Diehls traumatische Exzesse und dosiert kühl und zugleich augenzwinkernd seine ironischen Zugaben, um seine Helden nicht zu blutleeren Demonstrationsfiguren herabzuwürdigen.
Nach deren ruhmlosem Abgang geht die Regie an den eigentlichen Romanhelden über: den Autor. Er zeigt, ohne die herrische und höhnische Geste benutzen zu müssen, daß er den Machtbereich der Literatur gegen die Machtansprüche der Menschenführer zu verteidigen weiß.
Der Spezialist für Angriff und Verteidigung hat einen weiteren, beachtlichen Punktsieg im Kampf um die Freiheit der Kunst errungen.

(Gustav Zürcher, Frankfurter Rundschau, 21.03.1981)

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