Friedrich Christian Delius, FCD

Beatrix Langner: Adam und das Ei (NZZ)

Ada und das Ei
Friedrich Christian Delius holt den Computer heim

„Hauptsache, Sie kapieren, dass ich endlich mal, wie soll ich sagen, anders reden will. Keine Frackrede, keine Krawattenrede, sondern eher im Arbeitskittel, verstehen Sie?“ Wir verstehen, Herr Delius. Endlich einmal weg vom hohen Stil, von subtil gearbeiteten Satzpassagen. Unpluggend, live und online. „Genau: laut denken, ohne Rücksicht, ohne allzu viel Rücksicht. Das bin ich mir und meinem Alter noch schuldig.“ Friedrich Christian Delius, 66, ist die Exzellenz des kühlen Humors unter den gesellschaftskritischen Schriftstellern der alten Bundesrepublik; der elegante Stilist und dezente Moralist. Was er diesmal seinem frischen vierundachtzigjährigen Helden in den Mund legt, ist nicht nur ungewöhnlich weit entfernt von üblicher literarischer „Feinschmeckerei“; es ist eine knurrige Generalbeichte. Und Konrad Zuse – Ingenieur, Erfinder, Genie – hat viel zu beichten. Sieben Tonbänder, zwölf Stunden lang währt der Monolog des Mannes, der den Computer erfunden hat, genauer gesagt: den ersten programmgesteuerten Rechner der Welt.

Konrad Zuses Prototypen

Was für ein Thema! Noch 1993 entwarf der Philosoph und Kommunikationstheoretiker Villem Flusser das Utopium einer globalen Gesellschaft, „die ein Netzwerk darstellen würde, das sich alle Menschen und ihre Maschinen einverleibt, sozusagen eine künstliche graue Masse“. Jetzt sind wir längst mittendrin; die Megarechner von IBM und Cray, und wie sie alle heissen, haben unsere weichen Gehirne restlos annektiert. Ende der 1980er Jahre fing alles ganz harmlos an: Home-PCs mit bernsteingelber Schrift auf schwarzem Untergrund, die als gedächtnisbegabte Schreibmaschinen und einfache Bildschirmspielprogramme, mit denen man Schach oder eine Art Schiffeversenken spielen konnte, in unsere Behausungen einzogen. Mittlerweile ist unsere biologische Software, verglichen mit den myzelartig vernetzten Suchmaschinen wie Google und Yahoo, nichts weiter als ein chaotischer Zellhaufen, dessen elektrische Relais mit einer untolerierbaren Fehlerquote behaftet sind.

Die weltweite Community der User spricht mit einer Stimme, und zwar auf Englisch. Amerika gilt als Geburtsland des Computers. Wäre es nach Konrad Zuse gegangen, würden wir heute womöglich zuseln statt googeln, und Silicon Valley läge zwischen Oberstoppel und Unterstoppel im Hessischen. Aber es ging nun einmal nicht nach dem jungen Berliner Maschinenbaustudenten, der 1934 beschlossen hatte, Computererfinder zu werden, sondern nach einem gewissen Adolf Hitler, der beschlossen hatte, den totalen Krieg zu erfinden. 1938, als in den USA das Wort googol erfunden wurde, um eine unvorstellbare Zahl mit hundert Nullen benennen zu können, lötete Zuse noch in einer winzigen Berliner Wohnung an seinem ersten Rechner herum, dem Z 1.

Bis 1949 folgten weitere Prototypen, die Z 2 und Z 3, die alle in Hitlers Weltkrieg bei Bombenangriffen vernichtet wurden. 1944 ging der erste amerikanische Grossrechner von Howard Aiken und Grace Hopper in Betrieb. Diese Rechner waren so gross, dass ihre Väter und Mütter hineinkriechen mussten, um ein defektes Relais löten zu können. Als Zuse 1949 an der ETH Zürich seine Z 4 zum ersten Mal öffentlich vorführte, passierte ihm dasselbe. Die Mark I und die Z 4 waren in Aufbau und Technologie weitgehend identisch. Doch sowohl der amerikanische Konzern IBM als auch bundesdeutsche Patentämter verweigerten dem Deutschen, der immerhin als Ingenieur für deutsche Rüstungsbetriebe gearbeitet hatte, die offizielle Anerkennung als wahrer Erfinder des Computers.

Dieser, also der echte Konrad Zuse (1910 bis 1995), hat bei seinem Tod zwei Bücher hinterlassen, „Der Rechnende Raum“, das den Denker Zuse auf den Spuren von Alan Turing zeigt (dem amerikanischen Computerpionier), und die Autobiografie „Der Computer. Mein Lebenswerk“. Die klingt zwar im Ton haargenau wie bei Delius (der einige Spannungsabsacker im chronologischen Hergang des Erfindens denn auch geduldig mitgeerbt hat), lässt aber, wie der hinreissend schlichte Titel schon sagt, die Person hinter ihrem chef d’œuvre recht sachlich zurücktreten. Was ihr fehlt, ist das Visionäre, die Dimension des Mythischen, die Poesie des Beginnens, der Moment der Inspiration, wie ihn alle grossen Entdeckungsgeschichten der Menschheit seit den Sandkreisen des Euklid und Kolumbus‘ Ei aufweisen können.

Zuses Ei heisst Ada Lovelace. Aus dem authentischen Vorbild des Konrad Zuse hat Delius eine Kunstfigur geschaffen, die dem Original dies vor allem strahlend voraushat: Ada. Als Mitarbeiterin des Mathematikers Charles Babbage lieferte Ada Augusta Byron, Countess of Lovelace (1815–1852), einen mathematischen Algorithmus auf der Grundlage des binären Zahlensystems, der als erste Programmiersprache der Welt noch heute ihren Namen trägt – während die dampfbetriebene Rechenmaschine von Babbage, für die sie gedacht war, nie gebaut wurde. Ada ist „die Frau, für die ich den Computer erfand“. Die Tochter des britischen Dichters Lord Byron – klassisch schön, kühl, hochbegabt, temperamentvoll, wagemutig – war eine der bedeutendsten Wissenschafterinnen Englands. Bei Delius heissen Zuses Rechenungetüme denn auch nicht Z, sondern A wie Ada 1 bis 4; Ada ist die virtuelle Traumfrau, sein tiefstes Geheimnis, die „ewig-weibliche Triebkraft“, die ihn hinanzog, wenn schon sonst niemand es machte.

Erzähler im Arbeitskittel

So finden sich zwei, über die der Zug der Zeit hinweggerollt ist, ohne sie mitzunehmen in die Zukunft. Zwei „Zufrühgekommene“, zwei Genies, die für ihre Erfindungen weder Ruhm noch Reichtum oder Ehre ernteten; der eine, weil er das Pech hatte, ein Hitler-Deutscher zu sein, und die andere, weil sie eine Frau im 19. Jahrhundert war. Diese love story zwischen einem deutschen Erfinder und einer britischen Mathematikerin stellt nicht unbedingt die historische Gerechtigkeit wieder her, aber wenigstens die biografische. Weil sie die Ja-Nein-Logik der binären Zahlen mit Phantasie durchkreuzt. Weil Maschinen nur zwischen zwei Zuständen unterscheiden, 0 und 1, aber nicht träumen können. Mit andern Worten: Liebe in den Zeiten der binären Logik ist ein rein virtuelles Vergnügen, was die epidemische Verbreitung von Chatten, Twittern und Mailen hinlänglich beweist. Das macht User zu natürlichen Verbündeten von Lesern. Delius hat sein kleines Gedankenexperiment so geschrieben, dass es zur Not auch Googler und Chatter lesbar finden könnten, die mit streng gebauten Wortbeiträgen à la Proust oder Faulkner nicht so viel am Hut haben. Literatur für User sozusagen: der Erzähler im Arbeitskittel, Virtuosität im Werkzeugmodus.

(Beatrix Langner, Neue Zürcher Zeitung, 18. Juli 2009)

Impressum