Friedrich Christian Delius, FCD

Gustav Seibt: Begrüßung in der Berliner Akademie der Künste

Gustav Seibt:
Begrüßung bei der Buchpremiere in der Akademie der Künste Berlin.

“Heute muss man in Dresden und Potsdam gewesen sein, aber von der wichtigsten Maschine unserer Zeit muss man nichts wissen, immer noch nicht.” Der Mann, der das sagt, ist 85 Jahre alt und der Erfinder dieser wichtigsten Maschine. Der Roman, den uns sein Verfasser Friedrich Christian Delius und sein Lektor Gunnar Schmidt vom Verlag Rowohlt Berlin heute vorstellen, handelt von dieser wichtigsten Maschine, von ihrem Erfinder und seiner Geschichte. Ich begrüße unsere beiden Protagonisten sehr herzlich im Namen der Abteilung Literatur dieser Akademie. Dass Christian Delius seit 2007 unser Mitglied ist, gereicht uns zur Ehre und, wie Sie heute Abend erfahren, zur Bereicherung. Ich bin dankbar, dass wir den neuen Roman “Die Frau, für die ich den Computer erfand” der Öffentlichkeit hier zuerst vorstellen können.
Der Titel verrät, um was es sich bei der wichtigsten Maschine unserer Zeit handelt. Allerdings hat ihr Erfinder ihr zunächst nicht diesen Namen gegeben, der vom lateinischen Wort computare für “zählen” und von seinem vor allem mittelalterlichen Ableger, dem computus, kommt. Das haben, wie er gallig vermerkt, seine angelsächsischen Nacherfinder mit ihrem Sinn für schlagkräftige Formulierungen getan. Er, der Urerfinder, sprach deutsch-verschachtelt von “Universaler Rechenmaschine”. Wir reden, Sie haben es längst bemerkt, von Konrad Zuse, dem 1995 verstorbenen Pionier der modernen Computer, jener unvergleichlich leistungsstarken multifunktionalen Schreib-, Rechen-, Kommunikations- und Gedächtnismaschinen, die ziemlich genau seit Zuses Tod unser aller Alltagsleben, um von der Wissenschaft, der Weltwirtschaft und der Politik zu schweigen, so tiefgreifend verwandelt haben wie nur eine Handvoll Erfindungen in der Geschichte der Menschheit. In den letzten zweihundertfünfzig Jahren kommen ihm, dem Computer, vielleicht nur die Dampfmaschine, die Fotografie, Automobil und Flugzeug, Radio und Fernsehen, sowie große medizinische Errungenschaften wie die Antibiose oder die Empfängnisverhütung gleich.
Und doch, worin besteht eigentlich der Folgenreichtum dieser Apparatur und wie lässt er sich dingfest machen? Den alten Mann, der hier zurückblickt, lässt Delius von einem mittelhohen Berg im Hessischen über die Landschaft blicken: “Wälder und Felder, die ganze grüne Landschaft sieht von oben fast aus wie vor fünfzig Jahren oder sagen wir wie 1951, und doch ist alles, ich sage alles, total anders geworden.” Auf jedem Schreibtisch da unten inzwischen ein Computer – dem alten Zuse erscheint das so gewaltig wie die hier oben sichtbaren Basaltsteine, die zehn oder gar zwanzig Millionen Jahre alt sind.
Ein alter Mann blickt über eine weite, urzeitlich geformte Landschaft und zurück auf ein langes Leben voll wunderbarer Leistungen. Ich verrate nicht zu viel im Voraus, wenn diesen Blick faustisch nenne. Die universale Rechenmaschine, ihre Grundlagen im binären Zahlensystem von Leibniz, ihre Verwendung des gleitenden Kommas, sie wird uns hier als deutsch-faustisches Unternehmen vorgestellt, als Kapitel aus der großen Geschichte von Magie und Moderne, die Goethe entdeckt hat und die seither immer wieder weitergesponnen wurde. Und nun beginnen wir auch zu ahnen, was die Frau im Titel dieses Buches zu suchen haben könnte. Seit es Faust als literarische Gestalt gibt, gibt es den Traum von der idealischen Frau, wohlgemerkt nicht jenem Gretchen, das Faust für seine Lust verbraucht und zerstört und das ihn am Ende erlösen muss, sondern die göttliche Traumgestalt der Helena, die Goethe aus der griechischen Antike ins christlich-moderne Mittelalter holt und sich mit Faust auf offener Bühne begatten lässt. Das Kind dieser Zeugung, der Knabe Euphorion, ihn soll Goethe auch nach dem jugendlich im hellenischen Befreiungskampf gestorbenen englisch-romantischen Dichter Lord Byron geformt haben. Die Helena aber, die der Hexenrechner Zuse sich als ideale Frau vorstellt, für die er seine Maschine erfand, soll nun, so sagt der alte Mann, die als Kind hinterlassene Tochter eben jenes jugendlich früh verstorbenen Lord Byron sein: die Mathematikerin Ada Lovelace.
Der Takt des einleitenden Begrüßers verlangt es unbedingt, an dieser Stelle innezuhalten. Vor Ihren Augen, meine Damen und Herren, öffnen sich nun schon hinreichend weite, so verlockende wie rätselvolle Fluchtlinien. Sie müssen umso reizvoller wirken, als es nicht irgendein tollkühner literarischer Geschäftemacher ist, der sie aufreißt, sondern – ich wage den Superlativ – der handwerklich genaueste, am bedächtigsten kalkulierende, hintergründig gebildetste Schriftsteller unter den Autoren der deutschen Gegenwart.
Ich muss hier niemandem die Biographie und die lange Liste der Werke des 1943 in Rom geborenen Christian Delius vorbeten. Längst gehört beispielsweise seine Romantrilogie zum Deutschen Herbst von 1977 in den Kanon der Gegenwartsliteratur, und es bezeugte nur alberne Unbildung, wenn vor einigen Monaten behauptet wurde, der Fernsehfilm zur Entführung der “Landshut” zeige diese Geschichte erstmals aus der Perspektive der Opfer – das hatte Delius’ Roman “Mogadischu Fensterplatz” längst, nämlich im Jahre 1987, getan. Wichtig für uns heute ist nur, dass mittlerweile einige Arbeitsgrundlagen dieses Buches an die Öffentlichkeit gekommen sind: Das Literaturmuseum in Marbach stellt die Toncasetten aus, auf die Delius sich die Funksprüche vom Flughafen Mogadischu in der Nacht der Erstürmung der “Landshut” überspielt hatte. Ich nenne zwei andere Beispiele für die immer präzise Vorbereitung, durch die Delius seine Fiktionen mit der Wirklichkeit vernäht: Seine Erzählung mit dem nicht zufällig an James Joyce erinnernden Titel “Bildnis der Mutter als junge Frau” zeigt in erlebter Rede das Innere jener Frau, die mit dem Verfasser schwanger ist und die sich auf dem Fußweg zu einem protestantischen Kirchenkonzert der deutschen Gemeinde im katholischen Rom befindet. Diese unendlich rührende, in einen einzigen langen Satz gefasste Situation lässt sich so genau auf dem römischen Stadtplan lokalisieren, dass man den Rowohlt Verlag ernstlich für die verpasste Chance tadeln muss, weil er es versäumte, diesen Stadtplan im Vorsatzblatt abzudrucken. Und in der Erzählung “Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus” (auch hier bemerken wir die unverkennbare Anspielung im Titel), die uns den von Seume-Lektüre geweckten Wunsch eines DDR-Bürgers, nach Italien zu wandern, vor Augen rückt, entwirft einen so genauen und praktikablen Plan zur Überwindung der Staatsgrenze der DDR, dass man es bedauert, dass Delius sein Buch erst nach 1989, nämlich 1995, veröffentlichte. Denn wir können sicher sein: Kein Erzeugnis der westdeutschen Literatur wäre so argwöhnisch an den Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik zurückgehalten worden wie dieses.
Wenn Delius nun also den alten Zuse während einer langen Sommernacht aufs Tonband eines Journalisten sprechen lässt – zunächst brabbelnd und verwischt wie ein Peeperkorn, aber bald immer hintergründiger und detailreicher -, dann dürfen wir uns die Enthüllung großer Rätsel erhoffen. Umso mehr, wenn wir ans Ende des Buches blättern, wo der Verfasser Delius Konrad Zuse postum für ein Gespräch im Sommer 1985 dankt und an einen Vortrag Zuses erinnert, den er 1994 an der FU Berlin gehört hat: “Faust, Mephisto und der Computer”. Dieser sei aber “offenbar verschollen”.

(10. Juli 2009)

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