Friedrich Christian Delius, FCD

Ingo Arend: Kleiner Sautrompeter (Freitag)

Kleiner Sautrompeter

WIE MAN ES MACHT, IST ES FALSCH
Friedrich Christian Delius’ neue Erzählung “Die Flatterzunge” vermisst das verminte Terrain der normalen deutschen Bewältigungspsyche

Auschwitz als Allerweltsmaschinchen. Der provozierende Ausdruck könnte von Martin Walser sein. Er stammt aber von Friedrich Christian Delius. Der Berliner Schriftsteller läßt diesen Satz einen jungen Mann auf einem Blatt Papier einem Spaziergänger in der Rosenthaler Straße in Berlin zustecken. Eine Protestnote aus der Mitte der neuen Republik. Die bizarre kleine Episode führt zum Kern des neuen Buches von Friedrich Christian Delius. Denn um die Fallstricke der Geschichte und die Motorik der Erinnerung geht es in Die Flatterzunge. In ihm hat Delius einen realen Vorfall aus dem Jahr 1997 aufgegriffen. Auf einer Tourneereise durch Israel hatte der erste Bassist der Berliner Deutschen Oper in einer Tel Aviver Hotelbar nachts eine Getränkerechnung mit “Adolf Hitler” unterschrieben. Der Fall hatte die deutsche und die israelische Öffentlichkeit wochenlang erregt, der Musiker war auf der Stelle entlassen worden.

Ein Blechbläser läßt sich ästhetisch besser ausreizen als ein Streicher: Geblähte Backen, spitze Zunge. In Delius’ Erzählung wird er Posaunist. Sie setzt an dem Punkt ein, wo er auf seine Berufungsverhandlung wartet. Er hat gegen seine fristlose Entlassung geklagt. Arbeitslos streift er durch Berlin, leidet unter den Entzugserscheinungen des Künstlers, den man von seiner Lebensaufgabe und vom Beifall getrennt hat. Zunächst um seine Verteidigung vorzubereiten, fängt er an, aufzuschreiben, wie es zu dem unglücklichen Vorfall gekommen ist. Unversehens weiten sich diese Notizen zum Tagebuch. “Wir brauchen eine neue Sprache der Erinnerung” hatte Martin Walser im Streit mit Ignatz Bubis 1998 gefordert und mit seinem Roman Der springende Brunnen vorzumachen versucht, wie individuelle Bewältigungsarbeit aussehen könnte. Die Aufrichtigkeit, die dafür notwendig ist, gelingt nicht jedem. Von Reich-Ranicki ist bis Adolf Eichmann wieder einmal Zeit für deutsche “Memoiren”. Verglichen mit denen des deutschen Nazis, die derzeit das deutsche Feuilleton beherrschen, lesen sich die Aufzeichnungen dieses Deutschen, auch wenn sie zwischen Zerknirschung und Selbstmitleid schwanken, mit mehr Sympathie. Nicht nur, weil sie in ihrer Zerrissenheit ehrlicher sind. Sondern, weil mit den ganz individuellen Notizen FC Delius die kollektive Psyche der Durchschnittsdeutschen vermißt, die immer noch an den geistigen Spätfolgen des Dritten Reichs laborieren.

Delius’ Posaunist ist kein Rechtsradikaler, sondern ein Mensch wie Du und Ich, geboren irgendwann kurz nach dem Krieg. Man erfährt einiges über den Karrierekampfplatz Orchester. Doch das ist eigentlich ein Synonym für Gesellschaft. Der Mann schwankt zwischen Größenwahn und Unterwerfungsbedürfnis. Eigentlich hatte er Star-Trompeter werden wollen. Weil die am meisten Erfolg bei den Frauen hatten. Einmal alle Mauern zum Einsturz bringen: den Mann mit dem Jericho-Komplex treibt die Sehnsucht nach der Einzelstimme, dem ganz großen Solo, letztlich ist er aber nur als einer von vielen Tutti-Schweinen im Orchester hängengeblieben. Die untergeordnete Rolle des ewigen Stadtmusikanten muß er mit erotischen Eroberungen kompensieren. Aber eigentlich braucht er auch den Führer: “Die Sehnsucht, möglichst schnell unter die Fuchtel eines dirigierenden Tyrannen zu geraten….Bin es nicht gewöhnt, ohne Dirigent zu spielen, ohne Taktstock zu denken”. Wenn es dann doch zur befreienden Tat kommt, will man es nicht gewesen sein. “Aber ich bin doch das Opfer”, klagt er selbstmitleidig, obwohl er kein Mitleid will und sich schuldig bekennt. Schuld sind aber vor allem die Nazis, deren Verbrechen ihm nun den Zwang des ständig reflektierten Verhaltens auferlegt haben. Hier schreit sich die Abwehr gegen die ungerechte Rolle frei, in die viele Deutsche sich gedrängt fühlen. Folglich versucht der bei Delius namenlose Ich-Erzähler, der da durch die Stadt wankt, auf Schritt und Tritt, seine Schuld zu relativieren. Die Ingenieure, die dem Irak die Pläne und die Bauteile für die Scud-Raketen lieferten, kamen ebenso meist ungeschoren davon wie Helmut Kohls instinktloser Pressesprecher Peter Boenisch, der seinerzeit beim Staatsbesuch in Israel mit einem bodenlangen schwarzen Ledermantel durch die Gegend gefegt war. Unser kleiner Posaunist dagegen hatte über Nacht seine ganze Existenz verloren. Zu diesen Gemeinheiten gehört auch, daß Passanten in der Berliner U-Bahn den mit “Heil Honecker” randalierenden Punks eher sozialtherapeutisch besorgt begegnen, statt sie zur Rede zu stellen.

Delius macht nicht den Fehler, mit seiner kleinen Nacherzählung eine spektakuläre, punktuelle Erklärung für den Vorfall in der Hotelbar zu liefern. Die mißglückte Liebesnacht des geschiedenen Mannes in Tel Aviv mit der ehrgeizigen blonden Bratschistin C., nach der es ihn schließlich aufgewühlt an die Theke treibt, ist nur ein äußerer Anlaß. Und selbst wenn er, wie Delius andeutet, Adolf Hitler nur deshalb auf die Rechnung geschrieben hat, um – ganz der penible Deutsche – zu kontrollieren, ob der arrogante Kellner die Unterschriften auch wirklich genau überprüft. Was sich da in einer freudschen Schrecksekunde mehr oder weniger bewußt Ausdruck verschafft, ist der Aufstand gegen die scheinbare Ausweglosigkeit der Bewältigungsarbeit. “Immer wenn ich in Israel bin, spüre ich den Holocaust im Gepäck, dauernd, überall…Und wenn Sie Deutscher sind, dann wandeln Sie wie Jesus auf einem Pulverfaß” gesteht der Posaunist der Ex-Frau eines Orchesterkollegen, die ihm erst erliegt, ihn dann aber wegen seiner Weinerlichkeit verläßt.

Delius entschuldigt seinen gebeutelten Protagonisten und damit den kleinen Sautrompeter in uns allen, der gegen diese Holocaust-Scheiße protestieren möchte, nicht. Mit seinen pauschalen Anklagen gegen Erinnerungsroutine und Moralkeulen bot Martin Walser interessierten Kreisen einen Anlaß für ihre Rufe nach dem Schlußstrich. Delius dagegen zeigt mit seiner Mischung aus Empathie und Distanz nicht nur, wie man politische Literatur schreiben kann. Er legt die Aporien offen, denen kein Deutscher entgehen kann. Er läßt seinen gescheiterten Helden den doppelten Boden des Philosemitismus artikulieren, in dem unverdaut lagert, was ständig be schworen und nur symbolisch aber nie wirklich bewältigt wurde. Dazu gehört nach Meinung unseres Posaunisten, daß die Lufthansa auf dem Flug nach Tel Aviv Mahler-Symphonien über die Kopfhörer dudeln läßt. Trotz Einsatz eines ausgesprochenenen Normalisierers wie Ignatz Bubis ist Unbefangenheit im deutsch-jüdischen Verhältnis für die Nachgeborenen noch immer unmöglich, spürt der Musiker beim Besuch in Israel. Schon als Spaziergänger auf der Strandpromenade von Tel Aviv spürt er den “unsichtbaren Feind”. Ob man für das Schuldeingeständnis Wiedergutmachung plädiert oder es ablehnt – alles ist falsch. “Der Irak-Krieg ist vertagt. Die größte Erleichterung: Ich muß nicht bei jeder Gelegenheit betonen, daß ich für Israel bin” notiert er zwischendurch.

Unaufdringlich parallelisiert Delius das Motiv der ewigen Geschichtslast mit dem ihrer Entsorgung. Immer wieder steht der arbeitslose Musiker nach seinen Spaziergängen durch das Berlin des Jahres 1998 auf der Info-Box am Potsdamer Platz und beobachtet, wie der geschichtsträchtige Boden zwischen Führerbunker und DDR-Wohnblocks fit gemacht wird für eine geschichtslose Zukunft à la Sony und Daimler. Hinter dem abstrakten Holocaust-Mahnmal verblassen, seufzt er mit Blick auf die Bretterzäune um dessen Bauplatz, die realen Verbrechen immer mehr. “Einmal der Böse sein” schreibt er im Rückblick. Die Unterschrift mit dem Namen des Leibhaftigen ist der befreiende Bruch mit dem alles überschattenden Tabu, der immerwährenden Schuld. Der ausgerechnet im Land der Opfer auf Gegenliebe stößt, als ihn ganz am Schluß eine Tel Aviver Theatergruppe zu einer Performance einlädt. Seine Aktion habe “a moment of strange truth” enthalten.

Bei F. C. Delius macht man immer wieder eine interessante Erfahrung. An seinen Büchern reizt die nüchterne und konzentrierte Selbstbeschränkung der kleinen Form ohne übertriebene stilistische Eitelkeit. Gleichzeitig schreckt immer etwas die Aussicht auf die Zeitungsausschnitte, denen er seine Gegenwartsstoffe verdankt. Doch im Gegensatz zu Günter Grass’ Pappmache-Realismus wirkt Delius immer glaubwürdig, weil er seine Geschichten subtil mit Menschen zu füllen versteht, die nicht nach einem festen Schnittmuster hergestellt oder wie an Marionettenfäden gelenkt werden. “Die Figuren dieser Erzählung sind keinen realen Personen nachgebildet, sondern frei erfunden” stellt Delius seiner Erzählung voran. Bei einem der Begründer der deutschen Dokumentarliteratur klingt diese Formulierung, die er bei der ähnlich gearbeiteten Erzählung Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus noch nicht gebraucht hatte, einigermaßen ironisch. Doch die höchst realen Personen der allerjüngsten Geschichte abgeschaute Erzählung wird so gut erzählt wie eine erfundene. Delius hat sein hybrides Genre auf die Höhe einer eigenen Kunstform weiterentwickelt.

Auch wenn man bei dem 1943 geborenen Autor aus ein paar altmodisch kulturkritischen Nebensätzen gegen Hollywood, Kultursponsoren und McDonalds Spurenelemente des zur Zeit nicht sonderlich gelittenen Traditionalisten mit Distanz zur Postmoderne herauslesen kann, zeigt seine “Flatterzunge” doch, wie diese oft als dröge Moralisten Abgetanen arbeiten können, ohne an psychologischer und metaphorischer Raffinesse einzubüßen. In seinem kleinen Bändchen ist Delius auf knappstem Raum eine so diffizile wie komplexe Skizze zeitgenössischen Geschichtsbewußtseins in Deutschland gelungen. Man muß lange suchen, bis man ein gelungeneres Werk findet über die Zwickmühle des Deutschseins, die so schwer auszuhalten ist: wie man es macht, ist es falsch.

(Ingo Arend, Freitag, 27.8.1999)

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