Friedrich Christian Delius, FCD

Elke Heidenreich: Bösewicht für fünf Sekunden (Weltwoche)

Bösewicht für fünf Sekunden

Mit der peinlichen Geschichte vom Ausrasten eines deutschen Orchestermusikers in Israel zielt Friedrich Christian Delius dorthin, wo es wehtut

Ein Mann ruiniert in ein paar Sekunden sein Leben. Nicht, dass er jemanden betrunken überfahren oder im Affekt erschlagen hätte, nicht, dass ihn in einem Geschäft die Lust zum Diebstahl angefallen hätte. Es ist viel peinlicher, viel banaler, und es ist absolut unverzeihlich: Der Mann, erster Posaunist in einem Berliner Orchester, unterschreibt auf einer Gastspielreise nach Israel in einem Hotel in Tel Aviv an der Bar abends seine Getränkerechnung mit “Adolf Hitler”.
Das kommt Ihnen bekannt vor? Zu Recht, denn 1997 ging der Fall eines Kontrabassisten der Berliner Oper, der genau das getan hatte, durch die Weltpresse. Warum macht einer so etwas? Ist es der Suff, ist es Lust an der Provokation, ein geschmackloser Scherz, entspringt so etwas einer gestörten Psyche, oder einem tief verwurzelten Antisemitismus? Immer wieder Friedrich Christian Delius politisches Geschehen aufgegriffen und im Roman verarbeitet – aber noch nie so schnell wie dieses Mal. In seiner Erzählung ist der Delinquent Posaunist und träumt davon, mit seinem Instrument die Mauern von Jericho einstürzen zu lassen, aber sein Delikt ist dasselbe: eben diese schaurige Entgleisung, abends an der Bar.
Die Erzählung heisst “Die Flatterzunge”, was durchaus programmatisch zu verstehen ist, denn dass die Zunge beim Posaunenspiel treffsicher und schnell zustossen kann, macht zwar den guten Bläser aus, aber die Flatterzunge, die zu nervös und schnell spricht, kann auch zu unserem Schaden mit uns durchgehen.
Erzählt wird wie in einer Art Tagebuchform. Das Buch ist eine Materialsammlung von Argumenten für Anwalt und Richter. Der Musiker, aus dem Orchester geflogen, arbeitslos, geächtet, von Freunden und Frauen gemieden, wartet auf seinen Prozess und schreibt derweil seine Beweggründe auf, nein, er versucht, sich beim Schreiben über das Warum seiner Torheit klar zu werden.
Und es stellt sich heraus, was für ein psychologisches Minenfeld anscheinend Israel für uns Deutsche ist. Schon bei der Einreise diese Angst, als nach dem Namen des Vaters gefragt wird – was, wenn der Vater noch mehr Täter war, als man weiss? Darf man in Israel schwarze Hemden und Hosen tragen, oder erinnert das an die Faschisten?
Delius wäre nicht Delius, wie wir ihn politisch redlich kennen und lieben, würde er nicht an dieser Stelle auf Peter Boenisch hinweisen, der bei Kohls erstem Staatsbesuch in Israel wie ein SS-Mann in schwarzem Ledermantel durch das Land geschritten ist. Unser Posaunist hat tausend Skrupel, hat Hemmungen und Bedenken, verkrampft sich so sehr, dass geradezu etwas passieren muss. Und es passiert. Wer hat da unterschrieben? Er? Adolf Hitler in uns allen? Wenn die Posaune im Orchester einen falschen Ton spielt, fällt das sehr viel gnadenloser auf als etwa bei den Bratschen. Wenn ein Deutscher ausgerechnet in Israel eine falsche Handlung begeht, ist das ähnlich spektakulär: Hätte er in Brandenburg diesen Fauxpas begangen, wäre es genau das gewesen – ein Fauxpas. In Israel ist es eine weltweite Schande. Im Orchester ist er der Mann für die Soli. Dieses Solo aber war zu viel.
Doch unser Musiker sieht sich mehr als Opfer denn als Täter. Er war doch nur für fünf Sekunden der, an den er in Israel unentwegt denken musste: Adolf Hitler. Und er stellt eine makabre Rechnung auf: Wenn alle Deutschen nur für fünf Sekunden AH wären, dann wären es in einer Minute schon zwölf, in einer Stunde 720, und schon in einem Jahr “könnte also die Last, ein Mini-Hitler zu sein, schon gut auf sechs Millionen Deutsche verteilt werden (…) Nach ungefähr dreizehn Jahren wären alle achtzig Millionen Deutsche einmal dran gewesen. Dann dürfen alle aufatmen, auch ich.”
Was für eine groteske Rechnung stellt er da an, um seine Bösewichtrolle loszuwerden! Auch die Waffenlieferanten für den Irak fallen ihm ein, deren Scud-B-Raketen auf Tel Aviv gerichtet sind. Mit Dresdner-Bank-Bürgschaften und guten Anwälten sind sie bald wieder aus dem Gefängnis heraus, aber unser kleiner Posaunist mit seinem einen Ausraster… Ja. Genau. Weil es ja immer “die Kleinen” waren, die einfachen Beamten, die, die nur unterschrieben haben. Er kann noch so einsam und verzweifelt grübeln, unser Posaunist.
Delius kann noch so einfühlsam in ihn hineinkriechen: Wir mögen ihn nicht. Wir mögen ihn schon im ersten Satz nicht. Der erste Satz lautet: “Was mir am meisten fehlt, ist der Beifall”. Na dann! Beifall kann er nun ja haben, von einer etwas anderen Seite, und beifallsgierig, denken wir, sind sie eben, diese kleinen Wichtigtuer, diese Mini-Hitlers, die Kellner-Aufseher im Hotel. Keine Gnade. Er ist erledigt, und er soll erledigt bleiben.
Delius schafft aber ein Wunder. Er bringt es fertig, seinen Helden nicht zu denunzieren, er tritt nicht nach, er gibt ihm alle Chancen, sich und uns seine Tat zu erklären. Er, der Autor, hält sich raus. Er wägt das Für und Wider ab. Und hat uns am Ende da, wo er uns haben möchte: Wir sind ziemlich betreten und froh, mit diesem Kerl nichts zu tun haben zu müssen. Wie würden wir uns ihm gegenüber denn verhalten?
Und dann ein grandioser Schlusscoup: Ausgerechnet aus Israel kommt eine Einladung an den Verfemten. Der Posaunist überlegt: Ist es ein schlechter Witz, eine besonders infame Rache, eine grässliche Pointe? Oder reichen die Opfer generös die Hand und sagen: Versuchen wir es noch mal? Im Roman bleibt das offen. “Don’t worry” schreibt das Theater aus Israel, “we don’t want you to be a parody of a new Hitler. Just be the German you are.” Seien Sie nur der Deutsche, der Sie sind – das gerade ist ja das Allerschwerste. Die Posaune wird jedenfalls nach Jericho reisen.
Friedrich Christian Delius hat über diesen der Realität abgelauschten Fall ein kleines Buch geschrieben, nur 141 Seiten. Aber es ist ein unerlässliches, ein wichtiges Buch. Es zielt da hin, wo es wehtut, da hin, wo wir gern verdrängen, wo wir auf den Zehenspitzen des Gewissens gehen. Jeder israelreisende Deutsche weiss zu berichten von Scham, Angst, Verkrampfung, vom Tätergefühl im Land der Opfer, fühlt sich besonders beobachtet, bewertet – sieht man uns an, dass wir die Kinder von Verbrechern sind?
In Deutschland werden auf kahlrasierte Köpfe schon wieder Hakenkreuze tätowiert, und Rechtsradikale sitzen im Landtag von Brandenburg. Wir können anscheinend damit leben, schlimm genug. In Israel aber gehen wir auf Glas. Delius’ Posaunist mit seiner Flatterzunge ist dabei eingebrochen.
Im Laufe der letzten Jahre ist Christian Friedrich Delius zum interessantesten deutschen Autor geworden, mit einem umfangreichen Werk fast durchweg schmaler Bücher – angefangen bei seinen Gedichten, die ihn seit den sechziger Jahren zum wichtigsten politischen Lyriker machen, über eine Romantrilogie zum deutschen Herbst 1977 bis zu den autobiografischen Erzählungen “Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde” (1994) und “Amerikahaus und der Tanz um die Frauen” (1997) oder “Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus” (1995), eine Ost-West-Komödie. Lauter deutsche Themen – deutsche Terroristen, deutsche Reaktionäre und Revolutionäre, deutsche Helden und deutsche Täter.
Kein anderer Autor kriecht so sehr in die Köpfe seiner Zeitgenossen und versucht zu verstehen und zu erklären, warum sie tun, was sie tun, wie F.C. Delius. Und er macht das vorsichtig, sensibel, intelligent, mit einer klaren Sprache und mit einer bewundernswerten Balance zwischen Anteilnahme und Distanz. Immer ist es der Leser, der entscheiden muss, wie er zum Helden der Romane steht, der Autor reicht uns nur die Hand, zieht uns damit aber nicht unbedingt auf seine Seite. Delius verwickelt seine Leser nie in anspruchslos unterhaltende Mätzchen. Er ist zutiefst ernst, und siehe da, das Ernste unterhält uns und bleibt. Wo Delius nicht autobiografisch erzählt, hat er sorgfältig recherchiert und sich in Menschen hineinversetzt, die wir zu kennen glauben. Er hält uns unsere eigenen Ängste und Illusionen vor – und unsere Fehler und unsere Illusionslosigkeit auch. Er ist ein sehr deutscher Autor, und ich meine das in unserm zerrissenen, mit sich selbst ewig hadernden Land als Kompliment: Wenn die Literatur denn auch dazu da ist, Standorte zu bestimmen, dann würde uns ohne Delius in Deutschland eine charakteristische und wichtige Stimme fehlen.

(Elke Heidenreich, Die Weltwoche, 14.10.1999)

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