Friedrich Christian Delius, FCD

Karl Riha: “Kumm man röwer (…)”! (FR)

“Kumm man röwer (…)”!

Ein erzählerischer Ost-West-Reflex von F.C. Delius: “Die Birnen von Ribbeck”

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland. / Ein Birnbaum in seinem Garten stand”… vor welchen Urzeiten war das wohl, frage ich mich, daß man diese Fontanesche Ballade auf die Freigebigkeit eines adligen Gutsbesitzers in der Nähe von Nauen, nordwestlich von Berlin, zurückgehend auf eine alte Sage, derzufolge aus dem Sarg des Toten unter der Erde ein Birnbaum aufschießt, für die Schule auswendig lernen mußte – bis hin zu den beiden Schlußzeilen: “So spendet Segen noch immer die Hand / Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland”?
Der Fall der Mauer und die neuen, unkomplizierten Reisemöglichkeiten in den Osten machen es nun naheliegend, auch dieses deutsche Terrain in den Erfahrungsbereich westdeutscher Schriftsteller einzubeziehen und – so hier der Fall – Fontanes Spuren nicht mehr nur per Kopfreise, sondern auch realiter zu folgen. Die Birnen von Ribbeck – unter diesem Titel legt Friedrich Christian Delius in Novellenlänge ein eigenwillig strukturiertes Prosastück vor, das eben hier seinen Aufhänger hat. “Als sie anrückten von Osten aus dem westlichen Berlin mit drei Omnibussen und rot und weiß und blau lackierten Autos, aus denen Musik hämmerte, lauter als die starken Motoren, (…) Bier und Faßbrause, Birnenschnaps, Würstchen und Luftballons, Kugelschreiber und Erbsensuppe verschenkten und einen Tanz machten um einen jungen Birnbaum, den sie mitgebracht hatten”, startet das Ganze mit einem Szenario, das den so plötzlich möglich gewordenen Ost-West-Tourismus als eine Art besitznehmenden Überall festhält.
Aber – was ist das für ein Ort, den der Besucher-Rummel hier überzieht, was sind das für Leute, die hier leben, was haben sie mitzuteilen; und was sind das für Erinnerungen und Assoziationen, die sich mit dem Namen derer von Ribbecks nicht nur historisch, sondern gerade auch aktuell verbinden? Alle diese Fragen aufzugreifen, schafft sich Delius ein “offenes Erzählmuster”, das keinen Handlungsfaden abspult, sondern ständig die Perspektiven wechselt: das Ganze erscheint als ein einziger über fast achtzig Druckseiten hingezogener Satz (ohne Punkt), in einzelne, überschaubare Abschnitte untergliedert, die eben diesen Wechsel der Blickpunkte inszenieren.
Vom Einfall her läßt es sich so konkretisieren: – da unterbricht einer der Einheimischen die willkommene, aber doch allzu flotte Festivität, die sich mit ihrem Lärm und Alkohol über die ostdeutsche Realität stülpt und setzt in seiner neugewonnenen Redefreiheit zu einem Monolog an, den er sich so leicht nicht nehmen läßt: “Jetzt seid ihr da, und ich red euch die Hucke voll, bin noch nicht fertig, Verzeihung, man will ja nicht lästig fallen, ich quatsche nie so viel (…) wenn ich jetzt nicht rede, red ich nie, denn der Kopf steht kopf und alles so schnell, daß du vergißt, wo dein Herz sitzt, und bald heißt es wieder, kümmer dich nur um dich selbst und wie du deine paar Kröten zusammenkriegst fürs Fressen, Miete, Benzin und gibt auf, was du denkst, was du anders haben willst, und das Wort wird dir abgeschnitten auf die alte neue Art.”
Das also ist die Kontur des Erzählers, dem es redend und ohne Pause immer weiterredend aufgetragen ist, den festtrunkenen “Wessies” etwas von seiner Sicht auf die lokale Realität zu vermitteln, die sich eben lokalhistorisch nicht nur mit der Birnengeschichte verbindet, wie sie Fontane literarisch traktiert hat. Daß “nach jedem milden Ribbeck ein strenger kam, der knausert und spart, auch wenn sie alle Hans Georg heißen und die gleiche Gewalt hatten als Polizist und Richter und Kirchenherr und Offizier”, läßt sich ja schon der Ballade entnehmen, aber wie ging es weiter mit den Ribbecks und ihrem Ort Ribbeck durch die Zeiten – bis herauf in die jüngste Geschichte und aktuelle Gegenwart – und wie stand und steht es mit dem Leben derer, die als arbeitendes Volk anonym geblieben sind wie der Erzähler, der auch keinen Namen hat?
Delius öffnet auf diese Weise den Blick für den jüngstgeschichtlichen Horizont, der sich im Festrummel zu verlieren scheint. Er erinnert daran, daß die Adelsfamilie bis ins “Dritte Reich” hinein ortsansässig war: zwar verweigerte der dazumalige Rittmeister R. den Hitlergruß, weil er auf die Nazis “herabsah”, und doch ließ er die leitenden Herren der IG Farben ins Schloß (…), die im abgesperrten Gelände an lautlosen chemischen Waffen herummurksten und Blendgranaten ausprobierten”, was aber nicht hinderte, daß der letzte Ribbeck auf eine Anschwärzung hin ins KZ Sachsenhausen eingeliefert wurde und dort umkam. Delius kommt auf die Umwandlung des Adelsgutes in eine LPG zu sprechen, auf die Hoffnungen, die sich mit diesem Bodenreform-Versuch verbanden und die enttäuschende wirtschaftliche und politische Wirklichkeit mit Parteifunktionären und Stasi. Doch zeichnen sich – mit der Herstellung alter Besitzverhältnisse – auch schon wieder neue Probleme ab: “Plötzlich wird wieder wichtig, was einem gehört, und was nicht, was einer arbeitet, schon darfst du den nicht mehr anmeckern, der ein paar Hektar hat, schon mußt du die Mütze ziehen vor dem, dem du Pacht zahlst, wiste ne Beer, wiste ne Beer, ich will mehr als die Birnen, verdammt”.
Am Ort Ribbeck festgemacht, liefert dieser durchgehaltene Erzähler-Monolog als Mentalitätsporträt ein anschauliches Stück Alltagsgeschichte der DDR – herausgefordert durch den plötzlichen West-Kontakt vor Ort, aber doch auch selbstbewußt genug, sich nicht gleich wieder eine neue Bevormundung vorsetzen, einen neuen Maulkorb umbinden zu lassen: “Nun laßt mich mal meckern, das muß man doch sagen dürfen, ich laß mir nicht mehr die Schnauze, vierzig Jahre lang hab’ ich die Schnauze gehalten und soll ich ausgerechnet jetzt dumm dastehn wie die Kühe und brüllen oder das Maul hängen lassen und wiederkäuen, was ich geschluckt habe all die Jahre und jetzt schlucke, was die Herren mit Schlipsen im Fernsehen vorkauen, die Weisheit zwischen Mark und Markt”.
Und die Ballade, die dem Buch den Titel gibt? – Fontanes Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland mit seiner Birnen-Mildherzigkeit bleibt immer im Blickfeld, bald von dieser, bald von jener Seite her beleuchtet. So erfährt der Leser, daß der alte, aus dem Grab gewachsene Birnbaum natürlich längst gefällt worden ist und einzig noch sein Baumstumpf im Restaurant Zum Birnbaum hergezeigt wird: “Da steht er, schwarzes, versteinertes Holz, fünfzehn Jahre unbeachtet, bitte nicht drängeln, bitte nicht mitnehmen, wegkaufen, wegräubern, wie es eure Art zu sein scheint, seit ihr uns nicht mehr Brüder und Schwestern nennt und uns verbindlich und zuversichtlich umarmt mit Eigentumsrecht, Erbrecht, Vorkaufsrecht, ein ständiges Kommen und Gehen.” “Schwarz”, “versteinert”, so die Stichworte der Erinnerung, die sich mit dem Namen Ribbeck auf Ribbeck und dem Lauf der Geschichte verbinden, und doch darf man jetzt und immer noch “Es lebe der Birnbaum, prost” rufen. Nicht, weil man inzwischen west-ost-verbrüdert allzu viel vom Birnenschnaps getrunken hat, sondern weil das Gedicht, das diesen Namen tradiert, trotz aller schulmeisterlichen Nachstellungen lebendig, d.h. für neue Deutungen offen geblieben ist.
Jetzt könne er es ja zugeben, wendet sich der Erzähler zum Schluß seiner langen Rede an den toten Adligen unter der Erde, daß die ganze Geschichte, die man ihm angedichtet habe, nur erfunden sei; in Wirklichkeit sei der berühmte Birnbaum einem einfachen Ribbecker Bauern aus dem Grab gewachsen, dem nach seinem Tod – aus purem Zufall, weil man auf derlei nicht achtete – eine Birne in der Jacke geblieben war, “jetzt kommt es raus, alles kommt raus nach und nach”.

(Karl Riha, Frankfurter Rundschau, Literatur-Rundschau, 30.03.1991)

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