Friedrich Christian Delius, FCD

Heini Vogler: Nach den Herrschenden sprechen die Beherrschten (NZZ)

Nach den Herrschenden sprechen die Beherrschten

Friedrich Christian Delius‘ Erzählung „Die Birnen von Ribbeck“

Eine Hotel-Lobby in Westberlin im Frühjahr 1991: Im ARD-Regionalfernsehen spricht gerade der jüngste Nachfahre der Adelsfamilie von Ribbeck. Die Verhandlungen mit den örtlichen Behörden seien zwar zäh vorangekommen, lässt der spätzeitliche Junker verlauten, nun sei er aber zuversichtlich, das Landgut seiner in die Literaturgeschichte eingegangenen Ahnen wieder in den rechtmässigen Familienbesitz zurückzuführen. Werden also die vormaligen Fontaneschen Herren von „Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ die Restauration nach der deutsch-deutschen Revolution von 1989 vollziehen? Nicht doch, ganz so einfach dürfe man es sich nicht machen und nicht vorstellen, meinte der jüngste Träger des berühmten Namens im besagten Fernsehinterview. Man suche noch nach Kapital für eine zu gründende Trägerschaft, welche aus dem gegenwärtigen Pflegeheim Schloss Ribbeck und seinen umliegenden Ländereien der bisherigen LPG einen gewinnträchtigen Freizeitpark für das grosse Berliner Publikum machen solle.
So vollzöge sich dann die Wende vom DDR-Staatskapitalismus zur freien Marktwirtschaft – über die Köpfe der sich teilweise noch wiedersetzenden ortsansässigen Bevölkerung hinweg. So sieht es jedenfalls der Erzähler von Delius, der in seinem langgezogenen Lamento brechtisch Partei ergreift für das Volk und damit vom westlichen Ufer aus engagierte Literatur ausformt, die zweifellos etwas démodée ist. Dieser Befund dispensiert aber nicht davor, hinzuschauen, wie hier die Funktion erfüllt ist, die dieser Prosa zugedacht wurde.
„Kumm man röwer, ich hebb‘ ne Birn“ – was noch heute Heerscharen von Schulkindern deutscher Zungen auswendig lernen (dürfen), diese Worte sind, genau hundert Jahre nachdem sie Theodor Fontane in die Welt gesetzt hatte, mit neuer doppelbödiger Ironie des Schicksals aufgeladen. Die legendären Birnen des milden, grosszügigen Herrn von Ribbeck haben das Auf und Ab der eisernen Geschichte Brandenburgs ideel ohne Schaden und Tadel überlebt. Im Frühjahr 1990 setzt Delius mit dem Gestus schierer Empörung seinen Text an:

„Als sie anrückten von Osten aus dem westlichen Berlin mit drei Omnibussen und rot und weiss lackierten Autos … und mit den breitachsigen, herrischen Fahrzeugen das Dorf besetzten … und ausstiegen wie Millionäre mit Hallo und Photoapparaten und Sonnenschirmen und zuerst die Kinder, dann uns nach und nach aus Stuben und Gärten lockten uns Bier und Fassbrause, Birnenschnaps, Würstchen und Luftballons, Kugelschreiber und Erbsensuppe verschenkten und einen Tanz machten um einen jungen Birnbaum, den sie mitgebracht hatten …“

Der Furor hält den einmal angeschlagenen Tonfall schematisch durch, ohne Punkt, bis nach achtzig Seiten der Kreis geschlossen ist. Die vox populi des Erzählers führt im inneren Monolog Klage über den Preis für die im Eiltempo durchzuziehende Wiedervereinigung, emporgetragen und wieder fahrengelassen nur von den Wogen der Freibierseligkeit anlässlich der ost-westlichen Wiederauferstehungsfeier auf Schloss Ribbeck. Ist der neue Segen aus der goldenen alten Bundesrepublik noch dem „Segen … des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ gleichzusetzen? Keineswegs natürlich. Denn diese emphatische Widerrede ist die Demontage des Mythos, den die Nachwelt aus Fontanes Gedicht konstruiert hat. Die wechselnden Herren waren wohl auch in Brandenburg in der Regel nicht ausgeprägt altruistisch veranlagt – seien es nun die letzten Adeligen gewesen, die Nazis oder zuletzt die DDR-Altstalinisten. Das rechnet der vom Rausch geschüttelte Zweifler seiner kleinen havelländischen und der grossen weiten Welt vor. Er operiert in seiner Brandrede mit ziemlich grobkörnigen Bildvergleichen, die Geschichte im Eilzugtempo durchmessend. Der authentische Hinweis auf den aktiven Widerstand der Dynastie von Ribbeck im Dritten Reich gegen die Nationalsozialisten ist eine der Ausnahmen, wo Delius der sonst inhärenten Vergröberung eines derartigen Textes ausweicht.
Im Hintergrund steht die indirekt für Behutsamkeit plädierende, aber in erster Linie Ratlosigkeit verbreitende Frage, was denn die Alternative zum Verlauf der allerjüngsten Geschichte gewesen wäre. Da reduziert sich dann schnell manches auf den vielzitierten Gemeinplatz, dass vielleicht nicht gleich alles gar so schlecht gewesen sei, wie es in der allgemeinen Blindheit angesichts der Mühen des Umbaus der Ex-DDR den Anschein mache. Jetzt aber muss der Desillusionierte seinen Verzweiflungs- und Warnschrei hinausposaunen, bevor einem das Wort wieder „abgeschnitten wird auf die neue alte Art“.
Delius versucht, der ganzen Ex-DDR-Gesellschaft aufs Maul zu schauen. Durch seinen als Entlassener zwischen Stühle und Bänke gefallenen Sprecher lässt er im Predigtton verkünden, wie die alten Verlierer im Begriff sind, die neuen zu werden. Das führt zwangsläufig zu einer etwas verallgemeinernden Darstellung „des Volks“ als integral schuldloses, von den jeweiligen Machthabern gebeuteltes Kollektivopfer. Inzwischen weiss man, wie verheerend stark die Abhängigkeiten aller Segmente der DDR-Gesellschaft voneinander waren, so dass dieses Bild von Gut und Böse zuweilen noch etwas mehr Differenzierung ertrüge. Mit grösster Wahrscheinlichkeit führte dies aber andererseits über den legitimen, aber zugleich auch limitierten Anspruch dessen hinaus, was Delius jedenfalls leistet.
Es gilt zu bedenken, dass der ausgewiesene Dokumentarist dieses Mal als einer der ersten bundesrepublikanischen Autoren mit literarischen Mitteln auf einen politischen Vorgang reagierte, der so sehr im Fluss ist, dass man gerechterweise auch nicht mehr erwarten darf als das, was diese Erzählung bietet. Sie ist als Einspruch und Appell zu verstehen gegen die Gefahren des ohne Rücksicht auf Verluste schnellstmöglichen Vollzugs der „Rückeroberung“ mit den Mitteln der nicht alle seligmachenden Marktwirtschaft. Insofern ist dieses kleine Lehrstück im traditionellen Sinn politisch engagierter Literatur nicht abzutun mit der angeblich fragwürdigen Legitimation des Autors, seinen Stoff in dieser Art umzusetzen, wie sie Reinhard Baumgart in der „Zeit“ Delius relativ apodiktisch absprach. Er unterstellte, Leute aus dem Inneren wie etwa Christa Wolf oder Volker Braun würden sich da besser aus der Affäre ziehen. Sie allein böten als Mitglieder der inkriminierten Gesellschaft Gewähr dafür, dass dem Volk nicht nur aufs, sondern auch sozusagen ins Maul hinein geschaut würde. Es ist aber nicht einzusehen, warum einer, der weniger unmittelbar beteiligt war, nicht als Stellvertreter der momentan ziemlich Sprachlosen fungieren dürfte. Wohlverstanden einer, der sehr wohl wissen kann, wovon er spricht. Delius lebt seit bald dreissig Jahren fast ununterbrochen in Westberlin. Das ist immerhin nicht Frankfurt oder München.
Und bliebe am Ende nur die Frage im Raum stehen: Wie kommen wir (West-) Deutschen wohl an mit unserer gegenwärtigen Politik in den neuen Bundesländern? – dann wäre auch dieses nicht gar nichts. So lässt sich die Perspektive umkehren. Der Text kann sich nämlich auch in eine Aussenansicht kehren, weil der Erzähler immer wieder die Optik der ahnungslosen jüngsten Kolonisatoren in sein Räsonieren einbezieht.
Mehr als dieser genügsame Versuch von Friedrich Christian Delius, literarisch schnell auf politische Aktualität reagiert zu haben, ist objektiv gar nicht zu erwarten. Es muss wohl noch einiges Wasser die Elbe hinunterfliessen, bis sich in den Köpfen der Literaturschaffenden der ehemaligen DDR das sediert hat, was zu einer profunderen Auseinandersetzung mit der Geschichte des ersten deutschen „Bauern- und Arbeiterstaats“ führen wird. Gegen die Idee, das alte Fontanegedicht in eigenständiger Manier zu einem Tertium comparationis zu revitalisieren, spricht nichts. Delius gibt uns seine Lektion mit gutem Recht als Unruhestifter mitten in den Turbulenzen der Liquidation der DDR. Tut es je Wirkung, hätte sogar wieder einmal ein Kläger seinen Richter gefunden.

(Heini Vogler, Neue Zürcher Zeitung, 03.10.1991)

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