Friedrich Christian Delius, FCD

Martina Meister: Zwischen Kreuz und Hakenkreuz

Zwischen Kreuz und Hakenkreuz

Zu norddeutsch, zu evangelisch, zu jung: F. C. Delius’ ergreifender Text über seine schwangere Mutter im Rom der Kriegszeit

Der Arzt hatte es ihr empfohlen: “Laufen Sie, junge Frau, laufen Sie”, hatte er ihr gesagt, als habe er mit diesem ersten Satz nicht nur der hilflosen Frau eine Aufgabe, sondern dem Autor auch den Einsatz für seine zauberhafte Erzählung geben wollen. Sie ist hochschwanger, allein in der Fremde, und sie wird ihn beim Wort nehmen. Zum Beispiel an diesem Sonnabend im Januar 1943. Vom Diakonissenheim in der Via Alessandro Farnese wird sie bis zur deutschen lutherischen Kirche in der Via Sicilia laufen. Das ist eigentlich kein weiter Weg, ein längerer Spaziergang nur, aber es ist, als passte ein Leben dort hinein, eine ganze Existenz, ja die Verstrickungen mehrerer Generationen.

Eine Stunde nur wird sie brauchen, von einer “deutschen Insel” zur anderen, quer durch das “undurchschaubare, unheimliche Meer namens Rom”. Begleitet wird sie nur von ihrem ungeborenen Kind, dem Erzähler und Autor, der gut sechzig Jahre später ihren Blicken und Gedanken folgt, der ihre Gefühle und Sehnsüchte protokolliert, nein imaginiert, denn Gefühle, das hämmert sie sich ein, sind im Krieg ja verboten.

Sie darf sich ihre Sehnsucht nicht anmerken lassen. Auch nicht ihre Enttäuschung und nicht ihre Angst. Die Enttäuschung darüber, dass ihr Mann, der dank seiner Verletzung von der Ostfront nach Rom versetzt worden war, wo er hätte predigen sollen, ihr “römische Freuden” versprochen hatte, um ihr am Tag nach ihrer Ankunft auf dem Pincio in dieser ewig genannten Stadt anzukündigen, dass er trotz Beinverletzung am nächsten Tag nach Afrika muss: Abstellungsbefehl! Und auf keinen Fall darf sie Angst zeigen: Angst vor dem möglicherweise Unabwendbaren, dem Gottgewollten, Angst vor dem Tod des Geliebten, der sterben könnte, noch bevor sie das neue Leben zur Welt bringen wird.

Friedrich Christian Delius ist ein Kunststück gelungen: Das mögliche Gespräch einer werdenden Mutter mit dem ungeborenen Kind in den unmöglichen Dialog eines Sohnes mit der längst verstorbenen Mutter zu verwandeln. Denn diese Bildnis der Mutter als junge Frau ist das seiner eigenen. Es ist er, der Autor, der im Bauch der Mutter durch Rom getragen wird, und der ihr sehr viel später dieses schöne, schnelle, intensive Bildnis aus Worten widmen wird, klar und verschwommen zugleich.

Delius’ Erzählung ist große Literatur auf kleinem Raum. Denn obwohl man angesichts dieses zarten, unsentimentalen Werkes vor dem großen Wort Liebe scheut, so ist es genau das und alles zusammen: Liebeserklärung einer jungen Frau an ihren Mann, eines Sohnes an seine Mutter, eines Autors an seine Stadt.

Nun wäre das allein noch keine literarische Auszeichnung an sich. Was so überzeugt an diesem Bildnis, ist die gelungene Synthese der Einfachheit der Sprache mit der Ambition der Form. Denn auf dieser kurzen Wegstrecke zwischen Via Alessandro Farnese und Via Sicilia hat sich Delius an den jungen Schatten seiner verstorbenen Mutter gehängt, um, Schritt für Schritt, Absatz für Absatz, ohne einen einzigen Punkt, atemlos und fesselnd im Rhythmus, eine eigene, in sich widersprüchliche Form für das Zusammentreffen von Gegensätzen zu finden: des norddeutsch Protestantischen mit dem überschwänglich Katholischen, der Liebe mit dem Krieg, der Hoffnung auf Neuanfang mit der Angst vor dem Tod, der Gegenwart mit der Vergangenheit.

Delius hat seine Mutter nicht idealisieren wollen. Er hat sie in ihren Widersprüchen zugelassen, in ihrer Klugheit und Unbeflissenheit, ihrem Mut und ihrer Angst, in der Konfrontation ihres kleinen Lebensentwurfes mit dem großen Krieg. Denn diese 21 Jahre junge Frau aus Doberan in Mecklenburg-Vorpommern, Tochter eines Korvettenkapitäns, die brav beim BDM war, träumt von nichts anderem als Frieden, von einem kleinen “Leben ohne Zittern und Bangen im beschaulichen Takt des Kirchenjahres”. Sie fühlt sich bisweilen “zu evangelisch, oder zu norddeutsch oder zu jung” in Rom. Weshalb ihre protestantische Erziehung gegen den schönheitslüsternen Überfluss des Katholizismus ankämpft, ihr gesundes Selbstbewusstsein gegen die Bildungshuberei der deutschen Romreisenden. In ihrem Innern ficht sie den Konflikt zwischen “Kreuz und Hakenkreuz” aus, und lässt, ganz langsam, die Kritik an einem Krieg zu, der “leider noch nicht gewonnen und zum Glück noch nicht verloren” war.

Wie ein basso continuo schwingt dieser Irrsinn des Krieges mit: Denn schon der eigene Vater hatte sich bei der Marine verpflichtet, “für seinen geliebten Kaiser Schiffe versenkt”. Einer seiner Brüder war als Militärflieger abgestürzt, der andere in Frankreichs Schlammgräben gefallen. Erst nach dem Krieg entschloss sich der väterliche Körper, den Dienst zu quittieren. Der Vater begann an unerklärlichen Lähmungen zu leiden und wurde, als sich sein Zustand besserte, Prediger. So schließt sich am Ende der Kreis: Gert, der Mann, durfte wegen seiner Verletzung nicht viel laufen. Und während sie alle Hoffnung auf das kranke Bein ihres Mannes setzt, läuft sie durch Rom, für den Vater, den Mann und auch für den Sohn. Als liefe sie um das Leben.

Eine Stunde braucht sie für den Weg von der Via Alessandro Farnese bis hin zu Kirche in der Via Sicilia, der Autor knapp 130 Seiten, die mit dem Vorsatz der Mutter enden, einen “langen, langen Brief” zu schreiben. Es herrscht, nach der Lektüre, dieselbe “gelöste, heitere Stille” wie in der Kirche, wo sie Bachs Kantate Nr. 56 gehört hatte. Als wäre ein Schlusschoral verklungen und als gäbe es, vielleicht keine Erlösung, aber doch Versöhnung durch die Literatur.

(Martina Meister, Frankfurter Rundschau, 28. Februar 2007)

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