Friedrich Christian Delius, FCD

Heinrich Detering: Die römische Wanderin und ihr Schatten (FAZ)

Die römische Wanderin und ihr Schatten

F. C. Delius malt ein großes Zeitbild auf kleinem Raum

Eine einundzwanzigjährige Frau geht durch die Stadt Rom. Sie ist auf dem Weg zu einem Konzert in der evangelischen Kirche in der Via Sicilia. Die Frau ist erst kürzlich aus Mecklenburg nach Rom gekommen, weil ihr Mann dorthin versetzt worden war. Dieser Mann aber ist, einer Verwundung zum Trotz, neun Wochen zuvor überraschend nach Tunis abkommandiert worden, seine Heimkehr bleibt ungewiß. Sie ist allein, und sie ist im achten Monat schwanger. Es ist fünfzehn Uhr. Es ist ein Samstag im Januar 1943.

Der Gang der Dinge: Das ist in F.C. Delius’ Erzählung dieser Weg durch eine Stadt, dem die Erzählung folgt und deren inneren Bewegungen sie sich anschmiegt – in der Unmittelbarkeit sensibler Einfühlung und in der distanzwahrenden Diskretion der dritten Person Singular. Eine knappe Stunde wird die junge Frau brauchen vom Verlassen ihrer Wohnung bis zur Ankunft in der Kirche. Von der ersten bis zur einhundertsechsten Seite dauert dieser Weg, dann folgt auf den letzten zwanzig die Schilderung des Kirchenkonzerts, auf das der Text mit seiner Heldin zuläuft. Und er endet mit dem Ausblick auf den Abend, an dem sie dies alles für ihren fernen Ehemann aufschreiben wird, “in einem langen, langen Brief”.

Der Schlußpunkt ist der erste und einzige Punkt im ruhigen Fortschreiten dieser Prosa, die bis dahin allein durch die Kommata und Leerzeilen gegliedert wird. Nur wenige Zeilen umfaßt jeder der ineinander übergehenden Absätze, die dem Weg der Wanderin folgen, sich im leichten Rhythmus ihres Gangs bewegen, eilig und verharrend, angstvoll hastend und beruhigt schlendernd und so trittsicher zwischen den naheliegenden Gefährdungen der Sentimentalisierung oder der Denunziation seiner Figur, wie es nur einem völlig souveränen Wanderer gelingt.

Delius ist ein Nachfolger Wolfgang Koeppens, im schönsten Sinne: mit dessen Gespür für musikalische Phrasierung, für Leitmotivik und das rhythmische Gefälle der Assoziationen, aber ohne Manierismen. So beiläufig und genau, wie er seine Stadtansichten historisch situiert – nur im Augenwinkel werden die politischen Plakate und die “Radfahrer in schwarzen Hemden” sichtbar, das genügt -, wie er den Wechsel des Lichts während dieser Nachmittagsstunden protokolliert, so aufmerksam beobachtet er seine Heldin. Was immer er an Kunstmitteln aufbietet, es wird ganz durchsichtig auf diese in ihrer Selbstlosigkeit wie in ihrer Selbstwerdung anrührende Gestalt, eine Taube im römischen Gras.

Aufgewachsen ist diese deutsche Tochter in einer Gutsherrenfamilie des mecklenburgischen Landadels. Ihr Vater, einst Korvettenkapitän der kaiserlichen Marine, tut nun Dienst im Marineamt zu Kiel, ein lutherischer Diener der Obrigkeit und “glaubensstrenger Volksmissionar”. Auch der junge Ehemann hätte seinen Platz eigentlich auf der evangelischen Kanzel in der katholischen Hauptstadt.

In der Vergegenwärtigung dieser norddeutsch-protestantischen Sprachwelt bewährt sich am eindrucksvollsten die Balance von sympathetischem Verstehen und leise ironischer Distanz, die F.C. Delius’ Erzählung ausmacht. Im Umgang mit den Zitaten aus Gesangbuch und Psalter (und dazwischen Versen des Börries von Münchhausen), in Wortwahl und Satzbau stimmt hier jedes Wort: wie sich die Kindheitserinnerungen aus Doberan mit den römischen Szenerien vermischen, wie das Bild der deutschen Wartburg sich vor das der Peterskirche schiebt, wie die Beunruhigte sich “getröstet und geführt und gehalten” weiß vom Glauben und ihre Gedanken “im Herzen bewahren” will. (Daß sie in Rom bei den Kaiserswerther Diakonissen wohnt, versteht sich fast von selbst.) Und so nebenbei und indirekt wie fast alles Wesentliche erfahren wir, daß dieses deutsche Mädchen Margarete heißt.

Wenn Delius die Gedankenfragmente seiner Heldin mit Zitaten aus Bibel, Kirchenliedern und Kriegsberichten montiert, dann macht er die Stimmen hörbar, die mit von außen kommen und sich wie von innen anhören, die im Ich umgehen wie Wiedergänger und zwischen denen hindurch es einen Weg finden muß, der sein eigener ist. Denn kaum merklich ist dies auch die Geschichte des zögernden Beginns einer Emanzipation. Die Tochter, die hier zur Mutter wird, ist geschult an “deutscher Ordnung oder an frommer Ordentlichkeit”; sie weiß vor allem, “was sie alles nie lernen und verstehen würde”, findet sich folglich ungebildet zwischen den deutschen Kunstfreunden und Diplomaten in Rom und hat doch gerade deshalb einen offenen Blick.

Mit jedem Schritt klärt sich im Fluß der Assoziationen und Themenwechsel ihr Blick auf sich selbst und die Welt. Hat sie sich zu Beginn ihres Weges noch die Frage verboten, warum bei fortwährenden Siegen eigentlich das Brot immer knapper werde (“so durfte man nicht fragen, es war eine Prüfung”), hat sie noch um den Sieg für Volk und Führer gebetet; so fällt ihr Blick im Gehen zurück auf den “ganzen Weg, den sie gekommen war”, und mit jedem Schritt werden die “Versuchungen” der aufsässigen Gedanken schwerer abzuweisen. Erst während des Konzerts erreicht der Umstand ihr Bewußtsein, daß ja Stalingrad “jetzt in aller Munde” sei. Und obwohl man darüber doch “nicht sprechen durfte”, erwacht ihre Neugier darauf, wo eigentlich die Juden geblieben seien hier in Rom. Mit dieser Frage aber stellt sich die Mahnung des Vaters ein, dem Führer die Gefolgschaft zu verweigern, wenn er “sich über Gott erhebt”: die kategoriale Differenz zwischen der Nennung Gottes auf den Koppelschlössern der deutschen Soldaten und im Gesangbuch, zwischen BDM und Bibelstunde, zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche. So unaufdringlich wie nur möglich wird diese beginnende Läuterung notiert, an deren Ende der “schmale Weg”, zu dem die Monatslosung mahnt, als ein möglicher Weg in die Freiheit erkennbar wird. Vor sich selbst “Respekt” zu haben – einmal hat dieser “eitle Gedanke” doch das Wort gehabt, ehe sie ihn eilig wieder beiseite schiebt, ebenso wie das Eingeständnis einer Sehnsucht, die erst mit der Rückkehr ihres Mannes zu stillen wäre. Denn die Öffnung des Blicks geht hier einher mit der erinnerten Liebesgeschichte; sie kulminiert hier, komisch und rührend zugleich, in “der vorsichtigen Frage, ob er denn schon das Du anbieten dürfe”.

Am Ende erhebt sich die Apotheose der Bachschen Musik, unterbrochen durch Haydns weltlich-widerständiges Streichquartett. Man liest eine solche Kontrastierung nicht zum ersten Mal, diese Engführung von Kriegsangst und Klangzauber, von Albtraumerinnerungen und einer Friedensvision, die aus dem Inneren der Musik aufzusteigen scheint. Aber man liest sie hier mit einer Bewegung, die sich der langen und behutsamen Hinführung ebenso verdankt wie der diskreten Doppelperspektive von Innen- und Außensicht; umso mehr, als auch hier ein Vorbehalt als Vorhalt bleibt. Denn noch im solidarischen Nachvollzug wird die seelische Bewegung in die Versatzstücke zerlegt, deren sie sich in Ermangelung anderer Bilder bedienen muß: die Heimatkunst-Bilder vom guten Leben, die Illustrationen der Kinderbibel.

“Bildnis der Mutter als junge Frau” ist diese Geschichte überschrieben. Das Kind, das sie erwartet, ist jetzt der Erzähler, der dies alles imaginiert. Man vergißt es, weil dieser Erzähler von sich absieht, weil er ganz Auge und Ohr für seine Heldin ist. Gerade dank dieser unsentimentalen Selbstlosigkeit aber wird seine Geschichte zum großen Zeitbild auf kleinem Raum. Am Ende ist der Leser wie die römische Spaziergängerin “jeden einzelnen Schritt mit Vergnügen gelaufen, aber eine längere Strecke wäre zu viel gewesen, es war genau die richtige Entfernung”.

(Heinrich Detering, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Literaturbeilage, 4. Oktober 2006)

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