Friedrich Christian Delius, FCD

Gustav Seibt: Die ewige Stadt und das neue Leben (SZ)

Die ewige Stadt und das neue Leben

Friedrich Christian Delius zeichnet das “Bildnis der Mutter als junge Frau”

Ungezählte Wege führen durch Rom, einer bedeutungsvoller als der andere. Wer mag, kann auf den Spuren von Caesaren, Märtyrern oder Päpsten gehen,noch schöner sind vielleicht die Pfade der vielen Fremden, die ihre Blicke und ihre Gedanken zu Papier gebracht haben.Jede große europäische Literatur hat ihr Rom-Kapitel, und über den Trümmern und Kuppeln der Ewigen Stadt türmt sich ein unsichtbarer Berg von Poesie und Reflexion. An keinem Ort der Welt sieht man so viel Gesehenes, ist das Hier und Jetzt so durchleuchtet von vorhergehender Erfahrung. Schön ist das und auch furchtbar.

Friedrich Christian Delius hat diesem wispernden Berg eine neue Stimme hinzugefügt, der es gelingt, seiner erdrückenden Gewalt zu entrinnen und doch der Stadt Rom ihre ganze hintergründige Poesie zu lassen. Seine Erzählerstimme begleitet über gut hundert Seiten eine junge, erst 24 Jahre alte Frau an einem Samstagnachmittag im Januar 1943 auf ihrem Weg von einem deutschen evangelischen Mütterheim zur deutschen protestantischen Kirche, wo ein Konzert stattfinden wird.

Diese Frau ist hochschwanger, trotzdem geht sie zu Fuß, weil es ihr guttut, wie ihr der Arzt versichert hat, und weil sie sich vor Zudringlichkeiten im Autobus fürchtet. So spaziert sie die nicht ganz kurze Strecke von der Via Alessandro arnese im Viertel Prati über den Ponte Margherita zur Piazza del Popolo, vorbei an der Spanischen Treppe quer über die Via Veneto bis zu Via Sicilia, wo die deutschen Lutheraner ihre Kirche haben – der Weg ist so genau markiert, dass der Verlag ohne weiteres einen Stadtplan ins Vorsatzblatt hätte drucken können.

Die wandernde Frau ist auch innerlich heftig bewegt, und alles fließt ihr zusammen: der schöne milde Winternachmittag, die bedrängenden Eindrücke von Denkmälern und Gebäuden, aber auch ihre eigene Situation, das zur Geburt reifende Kind, der in Afrika zum Militär eingezogene Ehemann, ein deutscher Geistlicher, der sie in Rom zurücklassen musste, wo es ihr gut geht bei den evangelischen Schwestern, in der Stadt von Kunst und Papst, die wohl nicht bombardiert werden wird – und wo sie doch zugleich unglücklich ist, fern vom ersehnten Mann und fern von der geliebten Heimat Mecklenburg mit ihren strengen schönen Backsteinkirchen.

Seit der französische Dichter Du Bellay im sechzehnten Jahrhundert mitten im herrlichen Rom von der Sehnsucht nach den schlichten grauen Häusern an der heimatlichen Loire gepackt wurde, kennt die Rom-Literatur auch das Heimweh – die Sehnsucht weg von der Pracht und dem Übermaß Roms. Delius” wundervolle Erzählung hat diesen Zwiespalt – die berauschende Präsenz Roms und die Heimatliebe des nördlichen Fremden – zu einer vielstimmigen Musik gemacht. Gabelgötter und Fischmenschen, also Neptun mit dem Dreizack und einen Tritonen, sieht die evangelische Frau, mythologisch und kunsthistorisch wenig versiert, auf ihrem Weg, heidnische Bilder, auf den Schnauzen stehende Fische, einen Bienenbrunnen, girlandenschwingende Putten, die Nadeln der Obelisken, geschwungene Treppen: Bei diesen mag sie nicht an “Barock” denken, sondern, als treue Bibelleserin und Tochter eines Erweckungspredigers, eher an die Jakobsleiter im Alten Testament.

Damit kommt die historische Situation ins Spiel: Deutschland und Italien, in diesem Augenblick noch verbündet, sind im Krieg, und die Feinde heißen auch hier Bolschewisten und Juden. Rom scheint sicher, aber der Hass dröhnt auch durch diese Stadt, wo eine gebildete deutsche Gemeinde – Delius” Text nennt für Kenner berühmte Namen wie Leo Bruhns – sich durchaus mit nationalsozialistischer Ideologie ins Benehmen setzen muss. Die fromme evangelische Frau, den Kopf voller Bibel, also voller Judentum, aber auch ansprechbar von völkischen Gemeinschaftserlebnissen, mag den lauten Hass nicht. Sie mag auch die katholische Pracht nicht, die ihr heidnisch vorkommt. Hoch über dem Kapitol und der den Glauben bedrückenden Peterskuppel schwebt ihr im Kopf Luthers Wartburg. Und die Kirche an der Piazza del Popolo ist ihr nahe, weil in ihrem Konvent Luther auf seiner Romfahrt wohnte und weil ein großes Bild darin, die Bekehrung des Paulus von Caravaggio, ihr evangelisch erscheint in seiner realistischen Direktheit.

So gerät der Spazierenden der Weg, den sie geht und auf dem sie nicht Bildung, sondern Religion begleitet, zu einem moralisch-ästhetisch-politischen Geisterkampf, zu einer regelrechten Psychomachie. Mecklenburgische Heimatliebe kämpft mit lateinischer Schönheit, schlichter Bibelglaube mit katholischer Machtgebärde, alttestamentarisches Wissen mit aktuellem Antisemitismus, Erleichterung über einen sicheren, wenn auch fremden Ort mit Sehnsucht nach dem Geliebten. Und im Kern des ganzen Gefühlsaufruhrs, der die Frau durch Rom wie auf Flügeln trägt, ruht das Kind, das schon bald das Licht dieser widersprüchlichen Welt erblicken wird – der Autor des Buches. Sein Titel verrät, dass die Frau, von dem es erzählt, seine Mutter ist, die ihn wenige Wochen später in Rom zur Welt brachte.

Liebe in allen Formen, Gattenliebe, Mutterliebe, Heimatliebe, Nächstenliebe, liegt diesem makellosen, klassisch modernen Stück Prosa zugrunde, das nicht umsonst an den Schlussmonolog des “Ulysses” mit seinem großen Lebens-Ja erinnert. Am Ende übernimmt die Musik das Wort, in dem festlichen deutschen Kirchenkonzert, zu dem die erschöpfte und bewegte Frau sich endlich niederlässt, Musik, die alle Gegensätze ausspielt und ins Gleichgewicht bringt.

(Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 12. Oktober 2006)

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