Friedrich Christian Delius, FCD

Eckhard Fuhr: Schreiben aus dem Uterus (Welt)

Mutter-Bild: Schreiben aus dem Uterus

Friedrich Christian Delius geht der Frage nach: Wer bin ich, wo komme ich her? Seine Mutter, eine Mecklenburgerin, geht der Liebe wegen nach Rom: das ist die Geburtsstadt des Autors und der Ausgangspunkt der autobiografischen Selbsterkundung.

Die Steine des Kolosseums in Rom haben schon unzählige Lebensgeschichten an sich vorüber ziehen sehen. Wie wäre es, wenn ein Dichter in den Uterus der eigenen Mutter kröche, wenige Wochen vor der eigenen Geburt, und einen Tag, einige Stunden lang ihre Bewegungen, Stimmungen, Wahrnehmungen, Erinnerungen und Selbstgespräche mitbekäme und das dann aufschriebe in einem einzigen, wunderbar schwingenden Satz von äußerster Klarheit und sprachlicher Eleganz über 120 Seiten hin, der mit dem Vorsatz der Mutter endet, einen langen, langen Brief zu schreiben an den Mann, der nach Afrika musste, denn es ist Krieg, während sie in Rom, der Ewigen Stadt, halbwegs behütet bei deutschen Diakonissen ihr Kind erwarten kann, den Sohn, der 63 Jahre später ihre Geschichte aufschreiben wird?

Ja, wie wäre es? Es wäre wie bei Friedrich Christian Delius’ “Bildnis der Mutter als junge Frau”. Ihm gelingt das Wunder dieser Erzählperspektive, die es ermöglicht, die autobiografische Selbsterkundung, durch teilnehmende Beobachtung pränatal auszudehnen. Denn natürlich geht es Delius’ um die Frage: Wer bin ich, wo komme ich her?

Mutter lebt in einem Diakonissenheim

Er kommt aus dem Krieg, aus Rom und aus einer Frau. Die drei Herkünfte stehen in einem ungewöhnlichen Verhältnis, quer zu allem, was die geschichtliche Erinnerung und ihre künstlerische oder mediale Verarbeitung gemeinhin vorgeben. Der Krieg ist weit weg, aber der Grund für die junge Mecklenburgerin, in die alte Stadt Rom zu gehen, wo sie ihren verwundungsbedingt in der Etappe eingesetzten Verlobten heiratet und hofft, die Freuden der Liebe und der Kunst zu genießen. Aber dann, nur zwei Tage nach der Hochzeit, muss der Mann doch nach Afrika.

Die Frau lebt in einem Diakonissenheim unter freundlichen und fürsorglichen Menschen. Gegen alle Zweifel hält sie an der Überzeugung fest, dass der Krieg nur einen Aufschub des Glücks bedeutet. Und bis das große Glück kommt, das angemessene, das in der bürgerlichen Ordnung beschlossene, nascht sie kleine Glückshappen.

Warten auf den Geliebten in Rom

Ebenso neugierig wie ahnungslos lernt sie die fremde Stadt und die fremde Mentalität ihrer Bewohner kennen. Immer wieder ruft sie sich die wenigen Schlüsselszenen ihres kurzen Eheglücks in Erinnerung, das Kennenlernen am Fuße der Wartburg, die Verlobung, den Schmerz, als ihr Mann ihr bei einem romantischen Spaziergang auf dem Pincio eröffnet, dass er nicht bleiben kann.

Aber auch über den Krieg und die Politik macht sie sich Gedanken, keine aufrührerischen, keine besonders intelligenten, Gedanken eben einer jungen Frau aus der bürgerlichen deutschen Provinz, wo man vielleicht ein indifferentes Verhältnis zu Demokratie und Diktatur, nicht aber zu Konfessionsfragen hatte. Die junge Frau, die Delius porträtiert, ist eine tief gläubige Protestantin. Rom aktiviert diese konfessionelle Prägung. Die Apotheose der Erzählung führt in ein deutsches Kirchenkonzert, in den Trost, den die Kantaten Johann Sebastian Bachs spenden.

Delius ist ein kleines Meisterwerk gelungen. Am Beginn der Lektüre mögen Zweifel bestehen, ob der kühne Satzbogen denn tragfähig sei. Doch diese Zweifel werden ebenso schnell zerstreut wie die Befürchtung, dass das literarische Verfahren, das Delius bei “Die Birnen von Ribbeck” schon einmal angewendet hat, sich als Manierismus erweisen könnte. Nein, Spannung und Elastizität dieses langen Satzes, dieser großartigen Erzählung sind gewaltig.

(Eckhard Fuhr, Literarische Welt, 30. September 2006)

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