Friedrich Christian Delius, FCD

Martin Jürgens: Angstlust und Ausschreitung (FR)

Angstlust und Ausschreitung

F.C. Delius erzählt vom Amerikahaus und dem Tanz um die Frauen in den Sechzigern

Die sowjetische Sonde “Luna 9” ist soeben weich auf dem Monde gelandet; Nordvietnam wird erneut bombardiert; Buster Keatons Tod liegt einige Tage zurück. Es ist Freitag, der 4. Februar 1966. Mit dem Morgen dieses Tages beginnt die erzählte Zeit in Friedrich Christian Delius’ neuem Prosatext; sie endet mit der nächtlichen Rückkehr des “Helden” in seine Wohnung etwa achtundvierzig Stunden später.
Mit den Augen dieser Hauptfigur blicken wir zurück auf das Berlin der sechziger Jahre, als man die Studentenzimmer an den Apfelsinenkisten erkannte, als italienische Restaurants eine ganz neue Erfahrung waren und in den angesagten Berliner Kneipen – mit Namen wie “Kleine Weltlaterne” oder “Leierkasten” – Musikboxen standen, aus denen Georges Brassens oder Adamo tönte: Hier “saßen nachmittags, saßen abends, saßen nachts Künstler herum, die Künstler werden wollten, und redeten viel und tranken wie Künstler und sahen aus wie Künstler”.
Einer von ihnen ist Martin, von seinen Freunden seit kurzem “Buster” genannt wegen seines meist regungslosen Gesichts, schweigsam ist er und ein wenig schüchtern. Bisweilen stottert er leicht, aber er hat gelernt, geschickt damit umzugehen – ein junger Mann zwischen germanistischem Oberseminar und eigenen Gedichten, zwischen politischer Empörung über den Krieg der USA in Vietnam und heißer Angriffslust, wenn er an die “langbeinigen Wunder” denkt, die auf sich warten lassen.
Und sie lassen sehr auf sich warten – Franziska, die Buchhändlerin mit der blonden Mähne am Freitag, Ellen am Samstag, Das süße Leben bleibt ein Kinoerlebnis, ein Film von Fellini, “eine unbegreifliche, ferne Verlockung, mehr Leidenschaft als Liebe, mehr Sünde als Süße, die Frauen wild, unberechenbar und hysterisch, alles fremd und von magischem Sog wie Rom”. Solange die reale Franziska ihm beim Italiener gegenübersitzt, verbietet er sich solche Ausschweifungen, um ihnen am Abend “mit lüsterner Scham” doch zu erliegen – mit der Lektüre eines halb schmuddeligen Artikels in konkret. Die Lockung des Titels – “Alles über Sex-Partys in den USA” – und schürt mit der Gier auf imaginierte sündhafte Lust die Angst vor ihr, “Angst vor dem abgewürgten Gott in ihm, Angst vor dem toten Vater in ihm, Angst vor der ängstlichen Mutter in ihm.” Auch wenn er sich für diese Angst haßt – sie wirkt fort in den “eingefleischten Kindergedanken”: Alles wird bestraft, Gott sieht alles, die Eltern sehen fast alles, überall lauern Sünden, und am schlimmsten ist die Strafe für das, was man gar nicht getan hat aus Angst vor der Strafe.
In dieser präzisen Schilderung dieser im Wortsinn “eingefleischten” Hemmungsmechanismen, “die du dir längst aus dem Kopf geschlagen hast, aber nicht aus dem Körper vertrieben, die den Körper infiziert haben, mit der Pest der Reinheit”, erreicht der Text eine Intensität, die der Erfahrung nahe kommt; “… ein paar Stunden sich anfassen, bis es peinlich und feucht wird und weiter dürfen wir nicht, dann doch ein Versuch, und da schießt Blut aus der Nase, das Blut in beiden verschreckten Gesichtern, alle Angst umgelogen in den Satz das Leben fängt doch erst an, wo fängt die Gefahr an, wo die Sünde, wo die Strafe, wenn wir nicht aufpassen, wenn wir uns vergessen.”
Solch verquälten Schrecken hinter sich zu lassen und mit ihm den Bann aus Verboten und Verschämtheit, ist ein Motiv, das seine politische Seite hat, sich der politischen Motivation verbinden kann. Martin erfährt es am nächsten Tag. An diesem 5. Februar 1966 wird in Berlin zum ersten Mal gegen den Vietnamkrieg demonstriert: Für kurze Zeit wird der Autoverkehr blockiert, vier Eier fliegen gegen die Fassade des Amerikahauses, die amerikanische Flagge davor wird von Demonstranten auf halbmast gesetzt, es gibt drei Leichtverletzte, die Presse spricht im Ton heftiger Empörung von “antiamerikanischen Ausschreitungen”. Martin ist bei all dem dabei, “überzeugt, das Richtige zu tun”, und doch mit zwiespältigen Gefühlen. In der Bewegung der Demonstranten auf der Straße macht sich für ihn jedoch “ein leises Gefühl einer ungewohnten Freiheit, einer unbekannten Kraft” geltend: “Alles war harmlos und friedlich und doch unerhört und eine Auflehnung.”
Gleichwohl sieht er in dieser (damals) neuen Form des Dissenses mit den Vätern der Kriegsgeneration, die im Nachkrieg “die Vergangenheit hinunterwürgten”, keinen Heroismus am Werk, “nichts Aufrührerisches, Kämpferisches”. Sein Ungehorsam kommt ihm “täppisch und ungeschliffen” vor; zu ihm gehört überdies kaum mehr als Gratismut: “Die Demonstration war angemeldet, es war erlaubt, sich so zu bewegen… So einfach war das, genehmigt, geordnet, lächerlich.”
Dies Ineinander von gelernter Gehemmtheit, hemmungslos streunender Gier, moralisch-politischem Ernst, wenig praktischen Mut und viel Selbstzweifel charakterisiert die Innenseite dessen, was als “Studentenbewegung” sich auf den Weg machte, und zwar überaus genau und kenntnisreich; die historisch-soziologisch-psychologische Studie, die Vergleichbares leistet, ist noch nicht geschrieben.
Überdies kann Friedrich Christian Delius seinem literarischen Martin am Ende etwas gönnen, was weder der Studentenbewegung noch der Linken insgesamt je zugefallen ist: Glück. Es trägt in der Erzählung den Namen Rahel, kommt aus Tel Aviv, spricht englisch und findet sofort einen neuen Namen für ihn, indem sie seine Ausflüchte beim Wort nimmt: “Yesbut”: You’re shy, that’s okay. But don’t play this Yesbut-game with yourself. Say yes or say no… Every day is a gift, I tell you. Every night as well.” – Wer so einfach ermutigt wird, hat es gut, noch wenn er versagt: Das samstäglich-nächtliche Desaster in Rahels Bett muß für Martin keine weitere Niederlage sein, weil er zu begreifen beginnt, daß “Ausschreitungen” – die veröffentlichte Meinung begründet mit ihnen die innerstaatliche Feinderklärung – ihn von seiner Vergangenheit loslösen können: “Geh weiter, schreit aus, ausschreiten, du schreitest aus, er sie es schreitet aus, wir schreiten aus. I like your face, das ist auch eine Ausschreitung, Rahel, bitte, schreite noch einmal aus, heute um acht.”
Ob sie um acht kommen wird, wissen wir so wenig wie Delius’ Held. Aber das macht nichts, da wir im letzten Satz der Erzählung wie in einer letzten Momentaufnahme Martins Wünsche auffliegen sehen können: “Wenige Schritte noch zur Wohnung, zum Bett, und alles, was Martin jetzt wünschte, war eine Hand von Rahel in der Hand und einen Sonnenaufgang, kühle Helligkeit über den Dächern, scharfe Konturen, den zarten Biß des Frühlings und einen Moment mit jubelnden Vögeln auf den Ästen.”

(Martin Jürgens, Frankfurter Rundschau, 15.11.1997)

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