Friedrich Christian Delius, FCD

Klaus Modick: Die Pubertät der Revolte (SZ)

Die Pubertät der Revolte

Friedrich Christian Delius läßt Martin zur Demo und zum Tanz um die Frauen antreten

Berlin 1966. In der „Frontstadt des Freien Westens“ kommt es erstmalig zu einer Demonstration gegen die amerikanische „Schutzmacht“, weil diese im Namen der Freiheit im fernen Vietnam einen schmutzigen und grausamen Krieg führt. Aufgerufen vom SDS und dem Kabarettisten Wolfgang Neuss, ziehen gesittete Studenten in Anzug und Krawatte, aber auch ein Grüppchen Berufsantiimperialisten aus der DDR, zum Amerikahaus. Die Sache ist „genehmigt, geordnet“, den freundlichen Anweisungen der Polizei wird gehorsam Folge geleistet, man marschiert in vorgeschriebener Zweierreihe, um den Verkehr nicht zu gefährden. „Alles war harmlos und friedlich und doch unerhört und eine Auflehnung.“ Am Amerikahaus kommt es zu milden Rangeleien mit der Polizei, ein paar Eier fliegen, die US-Flagge wird auf Halbmast gebracht.
Unter den Demonstranten befindet sich Martin, Anfang zwanzig, Student der Germanistik, der aus Hessen nach Berlin gekommen ist, um der Einberufung zur Bundeswehr zu entgehen. Es ist derselbe Martin, dem Friedrich Christian Delius uns in seiner Erzählung Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde als elfjährigen Jungen vorgestellt hatte. Das neue Buch Amerikahaus und der Tanz um die Frauen ist also eine Fortsetzung dieses autobiographischen Projekts – Martin darf man getrost als Delius‘ Alter ego betrachten, auch wenn es sich hier wiederum nicht um einen autobiographischen Bericht, sondern um eine stark autobiographisch unterfütterte Fiktion handelt.
Und so, wie dem Elfjährigen die Rundfunkübertragung des Berner WM-Endspiels von 1954 zu einem unerhörten Akt der Befreiung von der puritanischen Strenge des Elternhauses, vor allen auch von der verordneten, erstarrten Vatersprache wurde, so wird dem Dreiundzwanzigjährigen die Erfahrung der Auflehnung zu einer Vorahnung „einer ungewohnten Freiheit, einer unbekannten Kraft“. Martin ist ein auf fast allen Ebenen schüchterner, verklemmter, zögernder, stotternder junger Mann; sein Freundeskreis ist eine vage anpolitisierte, literarische Boheme. Indem er innerhalb der Gruppe seine sprachliche Behinderung zu kontrollieren und, wann immer möglich, zu umgehen sucht, entwickelt sich in ihm eine ungewöhnliche Sprachsensibilität, die sich aber nur schriftlich ungehemmt ausdrücken kann. Delius beschreibt hier also auch mit subtiler Intensität seinen Durchbruch zur Schriftstellerei: Aus der Not der Ausdruckshemmung wird die Tugend des Schreibens, aus einer Schwäche Stärke.
Neben dem Erwachen eines politischen und literarischen Bewußtseins behandelt der Text, motivisch und erzählarchitektonisch ebenso klug wie eng verzahnt mit diesen Ebenen, als drittes Hauptmotiv die sexuelle Initiation Martins. Der gehemmte Spätentwickler, der sich in linkischer, hoffnungslos unerwiderter Liebe zu zwei Frauen verzehrt, verliert am Schluß der Erzählung seine „Unschuld“ an eine sexuell „befreite“, energische Berlin-Touristin.

Mit konsequenter Naivität

Insofern bildet der Zusammenhang zwischen Sex und Revolte das eigentliche Zentrum des Buchs. Allerdings wird dieser Zusammenhang auf einer Bewußtseins- und Wahrnehmungsebene entfaltet, eben der Martins, die noch gar nicht über eine derartige Begrifflichkeit und auch noch nicht über ein entsprechendes Problembewußtsein verfügt. Vielmehr arbeitet der Text, der perspektivisch fast ausschließlich an Martins Wahrnehmung geknüpft ist, mit einer staunenswert konsequenten Naivität, und gerade diese Naivität macht Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit der Erzählung aus. Denn alles, was hier über die intellektuelle und emotionale Disposition der 68er Generation ans Licht kommt, erscheint sozusagen in statu nascendi: Es geht hier um die Pubertät der Revolte, die schließlich in Demonstration und Sexualität „defloriert“ wird.
Die Schlichtheit, ja, man könnte sogar sagen Bravheit dieses Erzählens könnte als literarisches Defizit verstanden werden; das Gegenteil ist freilich der Fall: Es zeugt von der großen Kunstfertigkeit und übrigens auch Risikobereitschaft des Autors, daß es ihm gelungen ist, seinen Text von aller späteren Besserwisserei, aller nachfolgenden Selbstverständlichkeit freizuhalten. Amerikahaus und der Tanz um die Frauen zeigt somit den kindlich-pubertären Ernst eines geschichtlichen Moments, sozusagen die Kinderseite eines historischen Bewußtseins, das sich in uns längst ausdifferenziert hat, erwachsen und damit zynisch geworden ist.
Es ist zudem ein demonstrativ deutlicher Text, der sich selbst und uns alles zu erklären sucht. Aber auch diese Tatsache läßt sich nur schwerlich gegen die Erzählung wenden, beschreibt sie doch genau diesen Prozeß: Wie aus diffusen Vorstellungen und dumpfem Aufbegehren, aus vagen Gefühlen und unterdrückten Bedürfnissen, Klarheit werden kann oder jedenfalls soll. Martin sehnt sich nach Eindeutigkeit und ahnt zugleich, daß es keine Eindeutigkeiten geben wird: „Überall Einwände, Bedenken, selbst die Literatur war eine einzige Schule des Zweifelns und des Neins zur Normalität und Eindeutigkeit.“ An diesem Punkt fällt sich Amerikahaus gewissermaßen selbst ins Wort und antizipiert einen Konflikt, den vielleicht eine dritte, autobiographische Delius-Erzählung auszutragen hätte.

(Klaus Modick, Süddeutsche Zeitung, 15.10.1997)

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