Friedrich Christian Delius, FCD

Hellmuth Karasek: Was geschah am 5. Februar 1966 vor dem Amerikahaus? (Tagesspiegel)

Was geschah am 5. Februar 1966 vor dem Amerikahaus?

Das Jahr 1968 begann, so paradox es klingen mag, bereits 1966, wie auch, wenn man Jahresläufe als Zeitläufe nimmt, als Epochen mit neuem Lebensgefühl und neuer Zeitstimmung, die fünfziger Jahre erst Mitte der sechziger Jahre enden, um nicht zu sagen: verenden.
Eines der Daten, an denen sich 1968 markiert, also der radikale Neuaufbruch, die revolutionäre Wut gegen das Alte, wurde in Berlin gesetzt: Es war die Anti-Vietnamkriegs-Demonstration vom 5. Februar 1966, zu welcher die SDS per Flugblatt die Studenten Berlins aufgerufen hatte. Sie sollte um 14 Uhr am Steinplatz beginnen, die Demonstranten wollten und sollten dann, mit Transparenten bewaffnet, zum Amerika-Haus ziehen, und sie taten das in wohlgeordneten Dreierreihen, wie es die Polizei angeordnet hatte.
Sie zogen am Amerika-Haus vorbei, mit Sprechchören gegen den Vietnam-Krieg, sie blickten höhnisch beim Vorbei-Demonstrieren auf das Café Kranzler mit seinen tortenessenden, kaffeetrinkenden alten Damen mit Hütchen, für die Demonstranten der Inbegriff des spießigen Milieus der Fuffziger mit ihrer besinnungslos optimistischen Konsumlust, während doch in Vietnam und der Dritten Welt… Sie kamen schließlich, immer noch in braver Reihenordnung demonstrierend, wieder am Steinplatz an, wo die Polizei ihnen verkündete, daß der Protestzug zu Ende sei, und ihnen bescheinigte, sie hätten sich brav verhalten: “Ihr wart liebe Kinder, jetzt aber ab in die Heia! Husch, husch ins Bettchen!” Im damaligen Polizisten-Deutsch: “Wir danken Ihnen für die ruhige, eindrucksvolle Demonstration. Nunmehr ist sie beendet. Bitte, legen Sie die Schilder ab. Auf Wiedersehen!”
Auf Wiedersehen! Dieser brave Umzug, der gehorsam seine Pappschildchen ablegte, ein Muster für die bravgescheitelte Ordnung der Fünfziger, das soll ein Markierungspunkt für den wilden Aufbruch, den Aufruhr der ’68er sein? Richtig ist: Der erste Teil der Demonstration vollzog sich noch voll im alten Geiste. Doch dann, als die Polizei “Auf Wiedersehen!” durchs Megaphon gerufen hatte, begann der Ungehorsam. Man zog, jedenfalls der harte Kern, zurück zum Amerika-Haus. Zu einem Sit-in, zu einem Sitzstreik. Man wollte diskutieren. Man hatte gehört, gelesen und gesehen, daß das die amerikanischen Studenten so machten, um gegen den Vietnam-Krieg zu protestieren. Die Sperrkette der Sitzenden sollte die Gegenseite zur Diskussion zwingen.
Die Studenten also zogen zurück in die Hardenbergstraße, drängten sich vor dem kleinen, zweistöckigen Kastenbau, der, wenn man ihn heute betrachtet, so gar nichts von der imperialen Gewalt der Großmacht Nummer Eins ausstrahlt, er ist eher mickrig geduckt, so, als suche er sich zu verstecken wie eine kleine graue Maus. Die Studenten jedenfalls bedrängten das kleine Gebäude, damals im Februar ’66. Einige erhielten Einlaß, die Amerikaner drinnen wollten diskutieren, schließlich. Andere drängten nach. Die Fahne, Stars and Stripes, wurde auf Halbmast gezogen. Durfte man sowas? Und durfte man das im mauerumbauten Westberlin, wo Kennedy nicht lange zuvor gerufen hatte, daß er ein Berliner sei. Inzwischen war er ermordet worden, aber die Amerikaner standen immer noch für die Freiheit der Berliner. Eier flogen gegen die in blassem Rot und blässlichem Blau gekachelte Fassade. Man drückte gegen den Eingang. Und jetzt schlug die Polizei zu. Mit Gummiknüppeln drängte sie die Demonstranten ab, trieb sie auseinander. Es gab Studenten mit blutigen Gesichtern, Verletzte auf der Straße, es gab Festnahmen, es gab Gewalt.
Aber eigentlich war die Demo vom 2. Februar, jedenfalls im Rückblick, immer noch klein und schüchtern, ähnlich wie das Amerika-Haus. Friedrich Christian Delius gibt dazu in seinem Buch, ganz beiläufig, ein winziges, aber schönes Detail, wenn er schreibt: “Die Polizisten trugen Krawatten, einige Studenten auch.” Und auch die studentische Gewalt – eine auf Halbmast gezogene Fahne, ein paar Eier, frische übrigens, gegen eine gekachelte Fassade – und der Einsatz der Polizei hielt sich in Grenzen. Da war es in der Waldbühne, beim Konzert der “Rolling Stones”, anders zur Sache gegangen, ganz anders.
Doch die Demonstration vor dem Amerika-Haus war eine politische Demonstration und dazu eine an einem neuralgischen Punkt, sowohl geographisch wie psychologisch. Wie konnten die Studenten gegen den Militär-Einsatz ausgerechnet der USA protestieren, wo doch die Garantie eines Militäreinsatzes der USA letztlich die Garantie für den Fortbestand der Bundesrepublik war? Und wie konnten sie es ausgerechnet in Berlin tun, dessen Westteil doch wehrlos war, umklammert von Militärmaschinerien des Ostblocks und nur geschützt durch den erklärten Willen der USA, die Halbstadt notfalls mit allen, auch atomaren Mitteln zu schützen. Es herrschte Kalter Krieg, und er war frostiger denn je. Willy Brandts neue Ostpolitik lag noch in ferner Zukunft, die Regierung Erhard befand sich im Zustand der Agonie.
Und so war es die Presse, waren es vor allem die Berliner Zeitungen aus dem Hause Springer, die den Konflikt im öffentlichen Bewusstsein noch einmal eskalieren ließen. Sie machten aus einer Mücke einen Elefanten, in ihnen schrie das gekränkte Bewußtsein der fünfziger Jahre laut auf. Der Grundstein für eine lange Feindschaft, einen langen Kampf wurde gelegt. Aus Studenten wurden langhaarige, ungewaschene, gefährliche Affen, die Gewalt predigten, anarchische Gewalt, aus Zeitungen wurden Propaganda-Maschinen, die staatliche Gewalt forderten, faschistische Gewalt – so jedenfalls sah das bald darauf in den Schlagworten, in den Schlagtotworten aus.
Was den revolutionären Aufbruch, die radikale Frontstellung betrifft, die sich aus der Amerika-Haus-Demo von 1966 entwickelte und im Kern, noch schüchtern, eher andeutete als zeigte: Es kam viel zusammen, was den Zeitgeist damals in eine andere Stimmung trieb, ja prügelte. 1965 hatte Präsident Johnson den Bombenkrieg (“Rolling Thunder”) gegen Vietnam gebilligt. 1965 fielen die Urteile im Frankfurter Auschwitz-Prozeß, der den Söhnen und Töchtern erstmals die volle Schuld der Väter, der Eltern, zumindest ihr grässliches Versagen vor Augen führte. 1966 wurde die nukleare Planungsgruppe der Nato gegründet. Kriegsgefahr und Atomfurcht eskalierten gemeinsam. Es waren die Jahre, in denen die linke Theorie einen schier naturgesetzlichen Zusammenhang zwischen dem Elend der Dritten Welt und dem Reichtum der kapitalistischen Länder herstellte. Es war die Zeit, wo eine neue Jugendkultur die Musik, den Film, das Theater, den Lebensstil zu erobern begann, eine Kultur, die unwiderstehlich ungebärdig und kompromißlos anti-autoritär sein wollte – Jugendliche, die ihren Schulen und Elternhäusern den Kampf ansagten. Kurz: Morsch gewordene Gebäude standen vor dem Abriß – oder der notwendigen gründlichen Renovierung.
Was die Demonstration vom 2. Februar ’66 betrifft, so hat ihr der 1943 geborene, seit Mitte der sechziger Jahre, also seit seinem Studium in Berlin lebende Friedrich Christian Delius eine Erzählung mit dem Titel “Amerikahaus und der Tanz um die Frauen” gewidmet. Es ist ein schmales Buch, aber es ist ein wichtiges Buch. Es ist eine autobiographische Erzählung, in einem schüchternen, nüchternen Tonfall geschrieben, der den Geist der Zeit gleichzeitig mit warmer, ja betroffener Anteilnahme und mit kühl durchblickender Distanz wieder auferstehen läßt. Delius, der von seinem ersten Roman (“Ein Held der inneren Sicherheit”, 1981) bis zur Erzählung “Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde” (1994) Zeitgeschichte und Autobiographie verbunden hat, er war beteiligt und doch nicht beteiligt. Delius stand auf der anderen Straßenseite der Hardenbergstraße, damals, und hätte sich doch gerne mit hineinreißen lassen, am liebsten von einem der wilden Mädchen unter den Demonstrantinnen. Für so eine wäre der schüchterne und leicht stotternde Held Martin der Erzählung – unschwer als ein Alter ego des Erzählers, der auch zu sich Distanz gewinnen sollte, Distanz gewonnen hat -, für so eine mit kühn blitzenden Augen wäre er gern zum Helden geworden, zum Gesetzes-Übertreter, zum Anarchen. Statt dessen ließ er sich noch in der gleichen Nacht, wenn dies bei einem Mann möglich ist, von einer Israelin, die auf der “Grünen Woche” arbeitete, deflorieren.
Die Geschichte des verschüchterten Liebhabers Martin, der mit sich und den Mädchen nicht zu Rande kommt, sich nicht traut und daher immer verliert, ist jetzt von manchen Rezensenten verspottet oder angegriffen worden – so als müßten sie beim Schreiben ihre vermeintlich größere erotische Souveränität durchscheinen lassen, oder zumindest sich darüber belustigen wollen, wie da Privates unzulässig mit Politischem gemengt wird.
Unzulässig? Delius’ Buch, schon als “Katalog” der Zeitstimmungen und Zeitereignisse von schätzbarer Zuverlässigkeit, zeigt im erotischen Leerlauf und den Wunschträumen Martins, wie jene Epoche Menschen durch Prüderie in Schule und Elternhaus in der Provinz verformte, um sie dann vollkommen unvorbereitet in das Studium nach Berlin loszulassen.
Im übrigen: Am 1. Januar 1967, also knapp ein Jahr darauf, wurde in Berlin die Kommune Eins gegründet. Wer weiß, ob Delius’ Held jenem wildem Mädchen, das ihn, den schweigsam Schüchternen mit dem Spitznamen “Buster” fast auf die Seite der Revoltierenden gezogen hätte, nicht auch in ein solches Experiment neuen Zusammenlebens gefolgt wäre.

(Hellmuth Karasek, Der Tagesspiegel, 15.10.1997)´

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