Stephan Reinhardt: Wo Geld Gesetze und Geschichte macht (FR)
Wo Geld Gesetze und Geschichte macht
F.C. Delius‘ zweiter Roman „Adenauerplatz“
Ein Septemberabend in einer westdeutschen Großstadt. Während Hilfswachmann Leo acht, ausgerüstet mit Revierbuch, Schlüsseltasche, Gummiknüppel und Sprechfunkgerät seinen Kontrollgang gegen neun Uhr abends beginnt, findet zur gleichen Zeit im Stadion der Stadt eine öffentliche Rekrutenvereidigung statt, mit Heeresmusikcorps und feierlicher Ministerrede, aber auch NATO-Stacheldraht und Schildern an den Eingängen: „Vorsicht Schußwaffengebrauch!“ Lautstark drücken Wehrdienstgegner ihr Missfallen aus. Unter den Zuschauern auf der Stadiontribüne befindet sich auch Anke Hennig, die Freundin des Wachmanns Felipe Gerlach, eine arbeitslose Lehramtskandidatin mit 1,3-Examen, die seit kurzem im Stadtarchiv Unterschlupf gefunden hat und dort die Lokalpresse auswertet. Und während sie beobachtet, wie Rekruten, darunter ihr Bruder, feierlich geloben, ihr Vaterland zu verteidigen, forsche Feldjäger furchtlose Demonstranten wie Hasen jagen, fanatisierte Zuschauer „Aufhängen!“ und „Vergasen!“ schreien, da fällt ihr, bei so viel Stillgestanden und Augen-gerade-aus, nur noch die Liedzeile ein: „Soldaten sehn sich alle gleich, lebendig oder als Leich“.
Zu ebendieser Zeit versucht der agile Steuerberater Kurt Ellerbrock in seinem Büro in der City einen unter „Abschreibungsbeschwerden“ leidenden Arzt für ein beiderseits lukratives Abschreibungsgeschäft zu gewinnen: Er wird ihm in Südamerika Rinder und Land, von dem zuvor Eingeborene vertrieben wurden, verkaufen, eine renditensichere Geldanlage, denn Berater und Beratener wissen, was sie aneinander haben, schließlich zahlt man „auch Beiträge für die gleiche Partei“.
Zu diesen drei simultan verlaufenden Handlungssträngen tritt ein weiterer hinzu: Während Felipe Gerlach seinen Rundgang macht, seine Freundin der heftig umstrittenen Vereidigung ihres Bruders beiwohnt und ein zweifelhafter Steuerberater „indianerfreies“ Land verkauft, bereiten sich „Turnschuhgenossen“ einer Lateinamerikagruppe auf den für diese Nacht geplanten Einbruch im Büro des Steuerberaters vor – sie wollen Akten an sich bringen, aus denen sich die Machenschaften des „Steuerschwindlers“ und „Abschreibungsfürsten“ hieb- und stichfest beweisen lassen. Felipe, den Asylanten und Exil-Chilenen, haben sie eingeweiht: „Wenn du deine Runde machst und siehst was Verdächtiges, dann weißt du Bescheid… schlag bloß keinen Alarm.“
F.C. Delius läßt diese Handlungsstränge in der Art filmischer Schnitt-Technik, wie wir sie aus Dos Passos‘ Manhattan Transfer, Feuchtwangers Erfolg und Koeppens Tauben im Gras kennen, simultan ablaufen; sie sind dabei mehr oder minder gebunden an den vierzigjährigen Wachmann Felipe Gerlach, die Hauptfigur des Romans. Eine so kühne wie klare Konstruktion: Sieben Stunden lang läuft Leo acht um den Adenauerplatz im Stadtzentrum; er kontrolliert Geschäfte und Büros und meldet sich jeweils bei seinem Arbeitgeber per Sprechfunk – sieben Stunden oder 35 Kilometer Wegs, in denen er wahrnimmt und beobachtet, mit offenen Augen träumt, nachdenkt und sich erinnert. Und der Leser ist Zeuge dieser in Kopf, Herz und Füßen ablaufenden Vorgänge und Prozesse.
Delius weitet wie schon in seinem ersten Roman Ein Held der inneren Sicherheit das Individuelle ins Allgemeine, private Perspektive zum politischen Panoramablick. Delius zeigt in seinem Roman Adenauerplatz die politische Wetterlage an: das Tief in Sachen politisch-intellektueller Moral, die Nebelbänke in den Niederungen, die sich vor der Utopie auftürmen. Der Blick geht ins Trübe.
Felipes Gedanken wandern in dieser Septembernacht zurück zu seiner Mutter, die gerade in Chile gestorben ist. Felipes chilenische Vorfahren, die Ende des letzten Jahrhunderts aus dem Hessischen ausgewandert sind, gehören zur Oberschicht des Landes, zum „gut organisierten deutschen Filz“, der „in jeder Torte“ die Finger hat, in „Landwirtschaft, Handel und Industrie“. Felipe aber enttäuscht die reichen, mächtigen Verwandten: Statt das Ingenieurbüro seines erfolgreichen Vaters zu übernehmen und Brücken zu bauen, studiert er Landwirtschaft und stellt sich der neuen Regierung Allende zur Verfügung. Als die rechtmäßige sozialistische Regierung mit CIA-Dollars gestürzt wird, entkommt Felipe nur mit Glück den Mordkommandos der neuen Militärjunta, noch bis in seine Alpträume hinein verfolgen ihn seither die Todesschüsse.
Der politische Flüchtling aus der Dritten Welt wird in Deutschland freundlich aufgenommen – zu einer Zeit, als man zwischen Flensburg und Freiburg noch mehr Demokratie wagen will. Felipe, „einer der Zuckerfachleute Westeuropas“(?), begehrter Kongreßredner, spürt dann am eigenen Leib, wie sich die allgemeine Wirtschaftskrise bald auswächst zu politischer Restauration. Der arbeitslose Akademiker gerät ins Niemandsland und auf die sich füllenden Flure des sozialen Netzes.
Das nun unfreundliche Deutschland ist ebenso wenig das Land seiner Wahl wie das undemokratische Chile. Was auch immer sie trennt, in einem freilich sind sie sich ähnlich: in der „Raffgier“. „Die einmal oben sind, überstehen jeden Skandal, wo alle käuflich sind, weiß keiner mehr, was ein Skandal ist, wo die Bestechlichkeit anfängt und wo sie aufhört, weil alles gegründet ist auf Geldgewinn.“ Die Bundesrepublik, ein Land, wo Geld Gesetze und Geschichte macht und wo „schon die laufenden Katastrophen nicht mehr nachhaltig schrecken, weil die Leute längst an sie gewöhnt sind.“
Während Wachmann Leo acht 40 000mal Fuß vor Fuß setzt und nur unter Skrupeln seine Pflicht tut, das heißt, für Ruhe und Ordnung sorgt, schließen die letzten Lokale, leeren sich die Straßen. Ab und zu eine Abwechslung: ein kurzer Aufmunterungsbesuch seiner Freundin, der zu Fuß vorbeihastende Steuerberater und der mit Blaulicht vorbeijagende Minister. Dann ein Fehlalarm im Juweliergeschäft, plötzlich eine Schlägerei, die deutsche Jugendliche gegen türkische Jugendliche, die nichts als telefonieren wollten, aus heiterem Himmel vom Zaune brechen. Auf einmal auch – Zufälle einer Nacht – ein US-Panzer, der sich an einer Hausfront festgeklemmt hat, weil ein betrunkener Soldat unter zuviel Liebeskummer leidet. Es sind diese kleinen Nebendinge, die in diesem Roman oft den größten Eindruck hinterlassen. Nicht die Idee und der Bauplan – das simultane Erzählen, Rückblenden, Assoziationen, eine erotische Phantasmagorie im Rhöndorfer Adenauerhaus – bereiten bei der Lektüre dieses Romans Schwierigkeiten, sondern ihre Ausführung. Delius überlädt seine Figur, statt auszusparen und durch stärkeres perspektivisches Erzählen Distanz herzustellen. Auch die Sprache wird nicht so innovativ gehandhabt wie in Ein Held der inneren Sicherheit. F.C. Delius erzählt in seinem Roman Adenauerplatz aus dem Blick eines Exil-Chilenen von einem Land, dessen politische Moral und Kultur schwer angeschlagen sind und in dem, wenn die Nacht des Wachmanns Felipe vorüber ist, vorerst auch das Licht des Tages keine Besserung bringt.
(Stephan Reinhardt, Frankfurter Rundschau, 05.01.1985)