Friedrich Christian Delius, FCD

Herbert Wiesner: Leben als Erlaubnis, den Tod kennenzulernen (Lesezeichen)

Leben als Erlaubnis, den Tod kennenzulernen

Über F.C. Delius und die Vielfältigkeit eines ganz einfachen Romans

Friedrich Christian Delius’ zweiter Roman ‘Adenauerplatz’ ist ein Nachtbuch über Deutschland und zugleich eine Reise durch die ganze Welt in sieben Stunden. Die Reise findet im Kopf statt, während die Füße immer um den Adenauerplatz und durch die angrenzenden innerstädtischen Straßen einer westdeutschen Provinzgroßstadt laufen. Vielleicht heißt sie Bielefeld oder so ähnlich oder ganz anders. Der da läuft und denkt, heißt Felipe Ramón Gerlach Hernandez; er lebt im Exil und hat als deutschstämmiger Gastarbeiter einen Job als Nachtwächter bekommen. Ausgerüstet mit einer deutschen Uniform, mit Gummiknüppel und Funksprechgerät dient er von abends neun bis vier Uhr morgens im Auftrag der Objektschutzfirma Secura der inneren Sicherheit seines Gastlandes.
‘Ein Held der inneren Sicherheit’ – das war der Titel von Delius erstem, 1981 erschienenem Roman. Aber Felipe Gonzales hat mit jenem karrierebesessenen, um seine Sicherung kämpfenden Opportunisten Roland Diehl nur wenig zu tun, und ich gestehe, daß ich entschieden lieber mit dem Hilfswachmann Felipe durch die unsichere Nacht laufe als mit Roland Diehl durch die Korridore und Sitzungszimmer der “Menschenführer”. – Erinnern wir uns: Dem “Verband der Menschenführer” entsprach in der Realität des deutschen Herbstes 1977 die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, deren Präsident Hanns Martin Schleyer entführt worden war. Diehl, der Chefdenker und Ghostwriter des Roman-Präsidenten Büttinger, fürchtet um seine Karriere, aber er entscheidet sich zynisch fürs “Weitermachen”; der Erfolgt gibt ihm recht, und munter strebt er “neuen kriegerischen Zeiten” entgegen.
‘Ein Held der inneren Sicherheit’ ist ein politischer Roman, vom politischen Anlaß (der Schleyer-Entführung) zwar weggeschrieben, aber eben doch ein Roman aus gegebenem Anlaß, ein kritischer Gesellschaftsroman überdies, der den Kriegsschauplatz Bundesrepublik im Herbst 1977 aus der Perspektive des schnellen BMW-Fahrers und der Herren der Chefetagen zeigt. Es wäre völlig verfehlt, den Blickwinkel des “Helden” mit dem des Autors Delius gleichzusetzen, dennoch führte der Gesellschaftsroman ‘von oben’ zwangsläufig zu Defiziten etwa der Milieuschilderung; Stephan Reinhardt hat in seiner Besprechung des Romans im zweiten Heft von LESEZEICHEN darauf hingewiesen.

Wechsel der Perspektiven

Der neue Roman ‘Adenauerplatz’ hat solche Schwächen nicht. Felipe, dieser innerlich unsichere Secura-Wachmann, der ein arbeitslos gewordener Agrarwissenschaftler und Erforscher des internationalen Zuckermarktes ist, steht auch seinem Autor offensichtlich näher als der Chefdenker des Arbeitgeberverbandes. Delius ist diesem neuen Helden nicht verfallen, er glaubt ihm nicht jedes Wort (und läßt ihm damit auch ein Stück Freiheit), aber er liebt ihn und läuft gern mit ihm durch die nächtlichen Straßen und die grell erleuchteten Unterführungen des Platzes. ‘Adenauerplatz’ ist ein Gesellschaftsroman ‘von unten’, geschrieben aus der Perspektive eines klugen ‘kleinen’ Mannes.
Überblickt man das Deliussche Prosawerk und auch einen Teil der in vieler Munde und Mäuler geratenen Gedichte (die ‘Moritat auf Helmut Hortens Angst und Ende’ zum Beispiel aus dem Gedichtband ‘Ein Bankier auf der Flucht’), so fällt auf, daß diese Perspektive völlig neu ist im Werk des linken, intellektuellen Autors. Links und intellektuell? Ja, gewiß. Der promovierte Literaturwissenschaftler und ehemalige Verlagslektor bei Wagenbach und Rotbuch hat, so könnte man es auch sagen, nicht nur ‘Das Kapital’ gelesen, sondern immer auch den Wirtschaftsteil der bürgerlichen Zeitungen. Gerade das macht ihn ja so beunruhigend für deutsche Wirtschaftsführer und Gerichte, die sich jahrelang mit ihm auseinandergesetzt und ihn dadurch viel Zeit und Geld gekostet haben.

Die Kunst des Zersetzens

Delius hat in den sechziger Jahren als Lyriker begonnen (‘Kerbholz’, 1965; ‘Wenn wir, bei Rot’, 1969). Das waren, verkürzt gesagt, kritisch inventarisierende “Lesarten” der Wirklichkeit und nachdenkliche “Para-Phrasen” einer Sprache der Herrschenden. Fast gleichzeitig entwickelte er damals – zunächst gereimte – Großformen entlarvender Faktographie, der selbst “Dokumentar-Polemik” oder “Dokumentarsatire” genannt hat. Er übte sich in der Kunst des Zersetzens, indem er das von den Mächtigen glänzend beherrschte “Handwerk des Zersetzens” bloßlegte. Auch das waren Bücher aus gegebenem Anlaß: ‘Wir Unternehmer’ (1966) ist eine Montage aus den “ethischen” Überbau-Passagen der Protokolle des Düsseldorfer CDU/CSU-Wirtschaftstages von 1965. Es ging damals auch um eine Variante der Linnéschen Klassifizierung: Kritische Schriftsteller = Pinscher. ‘Unsere Siemens-Welt’ (1972), eine fingierte “Festschrift zum 125jährigen Bestehen des Hauses S.” kann als ein Höhe- und Endpunkt der satirischen Dokumentarliteratur angesehen werden. Der drei Jahre währende Prozeß, der beinahe den Berliner Rotbuch-Verlag vernichtet hätte, endete als Vergleich, der eigentlich einer Niederlage des Klägers Siemens gleichkommt: Die diktierten Einschwärzungen der “Prozeß-Ausgabe” des Buches sind minimal, aber der Standpunkt des Gerichts, daß auch der Autor einer fingierten Selbstdarstellung erfolgreichen Unternehmertums zitierfähiges Quellenmaterial auf seine Richtigkeit zu prüfen habe, versetzte dieser Art künstlerischer Dokumentarliteratur und inhaltlich vergleichbarer journalistischer Arbeit einen schweren Stoß. Ob der wirklich letal ist, wird sich herausstellen.

Im Lauf der Erinnerung

So gesehen, ist de Roman ‘Adenauerplatz’ auch eine Antwort auf dieses Urteil. Delius, der lyrische Aufklärer, der besonnene Satiriker und Dokumentarist, hat mit diesem Roman, mehr noch als mit seinem ersten, das Erfinden gelernt, ohne dabei seinen gesellschaftskritischen Wahrheitsanspruch aufgegeben zu haben. Nun wäre das nicht eben viel, hätte sich Delius nicht für die an sich wenig ereignisreiche durchwachte Nacht eine dichterische Struktur ausgedacht, die man peripatetisch nennen könnte: “Das Gehen begann im Gehirn und endete im Gehirn.” Da befiehlt einer sieben Stunden lang in einer milden Septembernacht seinen Beinen, seinen Ballen, Zehen und Fersen das Laufen, “als sei das Laufen das Leben”, und “mit den Schritten kommt das Erinnern und durchdringt Verkleidung, Haut und Schädeldecke”. Der da läuft, ist ein Kopffüßler; seinen Körper hat er verliehen und unter der Uniform eines Hilfspolizisten verborgen, gegen deren Identifikationsansprüche er sich wehren muß. Schritt für Schritt kämpft er um seine Identität, denkt – seine Runden drehend – Schicht für Schicht seine und unsere Vergangenheit, seine und unsere Gegenwart herbei. Die Stechuhren der bewachten Gebäude laufen, die Zentrale wartet auf seine Alles-okay-Meldungen, und mit Felipe läuft der Tod, dem er nur knapp entronnen ist.
Und er läuft, um “die große Kontinentalverschiebung rückgängig zu machen”, obwohl er weiß, daß ihn drüben, auf dem anderen Kontinent, nur der Tod einholen würde.
Felipe Gerlach Hernandez ist Südamerikaner, Chilene, wie der Name seiner Heimatstadt Osorno verrät. Er ist das schwarze Schaf, der rote Philipp einer noch immer faschistischen, auf ihre deutsche Herkunft eingebildeten Landbesitzerfamilie. Ein Revolutionär im engeren Sinne war er nicht; er hat die Unterdrückung der Besitzlosen nur registriert, Spurensicherung mit der Kamera betrieben, sobald er alt genug war dafür. Dann hat er sich für die Agrarreform eingesetzt, mitgeholfen, auch seiner eigenen Sippe ein Stückchen von ihrem Land zu nehmen – nicht mit der Waffe in der Hand, sondern als legaler Sachbearbeiter im Ministerium. Das reichte für Verfolgung, Verhaftung und schließlich Abschiebung nach Deutschland mit dem Lufthansaflug 505.

Nachtwachen eines Kopffüßlers

Bis in die Träume verfolgen ihn die Mördergesichter und die Schüsse der Gorillas. Die revolutionären Freunde “in einem der freiesten Länder der Welt, im Ausnahmezustand einer erträglichen Demokratie” können nicht genug davon hören, und sanfte Studentinnen bieten ihm mild ihr Geschlecht an, als wär’s eine warme Mahlzeit der Bahnhofsmission. Doch als die Unistellen in Deutschland knapp werden, als sich Felipe mit seiner Doktorarbeit über den Zuckerhandel verzettelt und die sozial-liberale Koalition zerbricht, werden die informationshungrigen Freunde, “plötzlich ganz knallharte Dritte-Welt-Fanatiker”. Die Fragenden ändern die Tonlage: Warum man denn nicht zurückginge, um zu kämpfen? “Als seien wir alle geborene Guerillakämpfer.” Felipe flieht wieder, wird Gastarbeiter, kriegt seinen Job als Hilfswachmann, weil er halber Deutscher ins Reformkonzept seines Chefs paßt (schließlich war er in seiner Heimat mal bei der freiwilligen Feuerwehr), überlegt und verwirft den Plan einer Einbürgerung in die Bundesrepublik, wo es den Eingeborenen allmählich nicht viel besser geht als den Fremden. Solche unfreiwilligen Angleichungen stimmen ihn freundlich.
Ein ganzer Katalog neuester Sachlichkeit ist in den Roman eingeschmolzen. Die Vereinsamung und Verwüstung unserer Städte, die Ängste und die Fremdenphobie der Deutschen und andererseits ihr heimlich-heilsames “Verausländern”; der Widerwille gegenüber Alten und Kranken, die “Angst der Achtzehnjährigen vor dem Tod” als Motiv, den Wehrdienst zu akzeptieren; das schmutzige Geschäft der westdeutschen Anlageberater mit südamerikanischem Weideland, Rinderkauf als sofort abzugsfähige Betriebsausgabe, die Analysen von industrieller Tierhaltung, Rohstoffausbeute, Missionsgeschichte und Zuckermarkt; die Initiationsriten der Zehnjährigen im Fast-Food-Restaurant und schließlich das Nachdenken über die Hoffnungen der Linken und deren vergebliche Bemühungen, sich “mit fünfzig Millionen Verhungerten jedes Jahr” solidarisch zu fühlen. Ich habe lange keine deutschsprachigen realistischen und politischen Roman gelesen, der so vielschichtig erzählt und scheinbar mühelos so viel Welt in eine ganz einfache, vom Rhythmus der Kontrolluhren bestimmte Handlung hineinholt.
Gewiß, es gibt da auch noch eine Kriminalgeschichte, einen Einbruch aus politischen Motiven, bei dem Felipe Schmiere stehen soll, und es gibt die Geschichtslehrerin Anke, die am Abend die Demonstration gegen den Fahneneid der Rekruten erlebt, die nachts ihren Felipe sucht, weil sie weiß, daß in Chile seine Mutter gestorben ist. Aber das, woraus andere eine Handlung aufbauen würden, bildet hier nur den erzählerischen Rahmen für die Kopferlebnisse dieser peripatetischen Nachtwachen des Felipe Gerlach. Im Morgendämmern kriecht der müde gelaufene Wachtmann zu Anke ins Bett und flüstert “das Abschiedswort: Hier bin ich”. Das ist der Abschied des Tagschläfers, der sein “exotisches” Exil nur nachts zu ertragen vermag – in der ihm fremdesten aller Verkleidungen, der Uniform; und das ist auch eine Absage an Chile, an die “Rückkehr in die Fremde”. Felipe Gerlach lebt unter reduzierten Bedingungen, “bei niedrigster Körpertemperatur”. Träumend erschließt sich ihm der Sinn des Lebens: “Die Erlaubnis, den Tod kennenzulernen”. F.C. Delius hat aus diesem poetischen Denkspiel um Reduktion und äußerste Erweiterung einen reichen Roman gemacht.

(Herbert Wiesner, Lesezeichen, Heft 9, Frankfurt 1984)

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