Friedrich Christian Delius, FCD

Benedikt Erenz: Nächtliche Predigt (Zeit)

Nächtliche Predigt

Friedrich C. Delius’ Roman “Adenauerplatz”

“Adenauerplatz” – ein Titel mit Anspruch. Der promovierte Literaturhistoriker Friedrich Christian Delius wird wissen, welche Assoziationen er damit bei den promovierten Literaturhistorikern unter seinen Lesern weckt. An “Kungsgatan”, an “Washington-Square” werden einige denken, an “Main Street” oder “La placa del Diamant” andere, und alle an “Berlin Alexanderplatz”. Der Name einer Straße, eines Platzes als Titel – das ist Programm, da sehe ich gleich die Menschen, die tagtäglich diesen Platz überqueren, ihre sich kreuzenden Schicksale, ihr Mit- und Gegeneinander beispielhaft dargestellt für das Oben und Unten, das Auf und Ab, für die komplizierte Mechanik einer ganzen Gesellschaft in der Beschränkung auf diesen einen Ort. Einen Gesellschaftsroman also suggeriert der Titel, einen politischen Roman – und das spricht von vornherein, sozusagen vom Umschlag an, für einen Autor, der mit einem solchen Unternehmen die allgemeine Märchenseligkeit des Lesevolkes zu stören wagt, das sich schon seit geraumer Zeit mit einer unendlichen Geschichte, lieben Grüßen und geheimnisvollen Rosen in die Nebel von Avalon zurückzugezogen hat.
Seine Geschichte ist glücklich erfunden. Es ist die Geschichte einer Nacht: Felipe Gerlach, deutsch-südamerikanischer Agrarwissenschaftler, aus seiner Heimat ausgewiesen und in Deutschland, nach einigen Jahren an der Universität ohne Stellung, läuft als Nachwächter um den “Adenauerplatz”, irgendeinen Adenauerplatz irgendeiner deutschen Stadt und läßt Leben und Arbeit in Gedanken Revue passieren.
Ein Verkehrsknotenpunkt ist dieser Adenauerplatz, ein Verknüpfungspunkt auch für den Roman. Im Monolog der Trauer über das Vergangene, die vertanen Chancen, die gescheitere, wieder rückgängig gemachte Landreform in der Heimat (Chile mag hier das nichtgenannte Beispiel sein) und in dem Zorn auf die Öde, die fade Wohlhabenheit der neuen Heimat, wie sie der Adenauerplatz in Marmor und Stahl repräsentiert, verbinden sich die Motivkreise des Romans: das Elend zweier Kontinente. Nebenfiguren tauchen auf: die Freundin Anke, die Felipe liebt, hilflos und ohne Versprechen auf eine Zukunft, und der Schieber Ellerbrock, “Anlageberater” wie es im Flick-Deutsch wohl heißt, der solventen Kunden für billiges Geld gutes Weideland in Südamerika verhökert. Und Erinnerungen an die Kindheit im fernen Südamerika, an den faschistischen Gerlach-Clan, an jenes Land, das nach einigen Jahren der Hoffnung wieder an die reaktionäre Tyrannei verlorenging.
Im einsamen Rundgang um den Adenauerplatz, um den nächtlich-toten Mittelpunkt der menschenlosen, ausverkauften “City” wächst alles dies langsam zusammen, erklärt sich Felipe der verborgene Mechanismus, der das Elend dieser Welt im Innersten zusammenhält.
Wie schon in seinem ersten Roman “Ein Held der inneren Sicherheit” versucht Delius, politisches Schicksal aus privatem Schicksal zu erklären – Biographie als Geschichtsschreibung. Gegen die standardisierten Abwehrfloskeln der Berufspolitiker – das kann man nicht vergleichen; das gehört nicht hierher; das muß man getrennt sehen – setzt Delius seine Zusammenhänge, besteht er auf dem “Zusammen-denken” von auch scheinbar Fremdartigem als Grundbedingung für politisches Denken überhaupt.
Ob er männliche und weibliche Formen der Gewalt reflektiert, die Initiationsriten der Jugendlichen im McDonald’s-Restaurant beschreibt oder die Unfähigkeit der Linken beklagt, statt ihre Omnipotenzphantasien auf die Befreiungsbewegung der Dritten Welt zu projizieren, lieber vor der eigenen Haustür zu fegen, immer sind diese Überlegungen und Beobachtungen aufeinander bezogen, einander stützend, ergänzend, erklärend, Teil eines großen Zusammenhangs. Und man braucht nicht die Dossiers des Club of Rome oder “Global 2000” studiert zu haben, ein Blick in die Zeitung am Morgen genügt, um etwas von dem allerdunkelsten Zusammenhang zu wissen, den Delius hier beleuchtet: die Ausplünderung der Dritten Welt durch die erste, die Fortsetzung der Kolonisation mit eleganteren Mitteln, die Sabotage einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung durch eine politische Klasse, die Solidarität nur für den Namen einer polnischen Gewerkschaft hält.
Daß dies die Gedanken eines Nachtwächters sind, eines, der den Schutz und die Sicherheit, also die Unveränderbarkeit des Bestehenden garantieren soll, ist die besondere, absurde Pointe dieses Buchs.
Doch scheint gerade hier auch eine Schwäche des Romans zu liegen, denn ist das alles nicht ein wenig sehr, ein wenig zu exemplarisch? Immer wieder erliegt Delius einem Hang zum Parabolischen, der die Beschreibung, in der Absicht, sie möglichst allgemeingültig erscheinen zu lassen, merkwürdig vergröbert. Da heißt es zum Beispiel angesichts der sich rasch leerenden Innenstadt am Abend: “Die wenigen Menschen, die noch die Kraft aufbrachten, an einem Abend in der Woche ein Vereinslokal, ein Restaurant oder ein Filmtheater der Innenstadt aufzusuchen, der Opernsängerinnen oder den Lautsprechern der Discotheken zuzuhören, die parkten ihre Autos möglichst nah am angesteuerten Ziel.” “Ein Filmtheater der Innenstadt aufzusuchen” – gemeint ist wohl: ins Kino zu gehen.
Auch die Personen, Anke und Ellerbrock, ja Felipe selbst, wirken seltsam eindimensional, entwickeln nur eine sehr karge Individualität. Ein Gesellschaftsroman, wie ihn der Titel verspricht, in dem Menschen verschiedenster Klassen, Temperamente, Lebensalter zueinander in Beziehung gebracht werden, wie Figuren auf einem Schachbrett, einander schlagend, schützend, überspringend, die sorgfältige Auslegung eines Handlungs- und Motivgeflechts, die Aufdeckung der Wirklichkeiten hinter den Fassaden, die poetische Nachbildung des Uhrwerks, das sich hinter dieser Welt bewegt, ein Gesellschaftsroman also ist “Adenauerplatz” nur bedingt. Alles das, was einen solchen Roman ausmacht, kommt bei Delius als Handlungshintergrund vor und macht doch nicht die eigentliche Handlung aus, ist erzählte Wirklichkeit und dringt doch nie bis in die Wirklichkeit der Erzählung vor.
Nein, die unbestreitbare Dynamik des Textes, sein leidenschaftliches Feuer, kommt aus einer anderen Quelle: seiner Rhetorik. Das Übermaß an Rhetorik, die über Seiten hin sich stürzenden Sätze, ausgetüftelt nach allen Regeln dieser schönen Kunst, ist der Tod des Romans und gibt doch gleichzeitig dem Text sein echtes Pathos, seinen großartig-barocken Prunk: “Felipe konnte sie (die Toten) nun in keinem Schaufenster mehr übersehen, in jedem Verkaufsraum schienen sie zu waren auf ihre Käufer, auf ihre Hinterbliebenen. Sogar in den einfachsten Konservendosen zeigten sie sich, hinter deren aufgeklebten bunten Etiketten das nackte, stumpfe Zinn hervortrat, das Zinn Amerikas, mit dem die dreißigjährigen Minenarbeiter auferstanden, die hustend und Blut spuckend und gebückt durch stickige Gänge krochen, mit einer hoffnungslosen Geste noch am Leben hängend, den Gewehrkugeln der streikbrechenden Soldaten entkommen und den Schlagwettern und dem Dynamit der schlampigen Sprengmeister, keuchend traten sie aus den Minen voll tropischer Hitze und eisiger Kälte und wieder Hitze, aus feuchter Luft voll Gas und Kieselstaub, der in den Lungen sich festfraß und sie langsam zerbiß, so traten die Männer ans Licht, Kokablätter mit Asche kauend, die den Hunger milderten und die Müdigkeit angenehm machten und den Geruchssinn, den Geschmackssinn und die Nerven abtöteten, bis kein Schmerz die taumelnden Körper mehr warnen konnte, die sich hinaufschleppten zu den dünnen Hütten in viertausend Meter Höhe, zwischen Müll und Exkrementen zu ihren hungernden Familien, zu ihren getretenen Frauen, und sie tranken noch einmal das Wasser aus rostigen Benzinkanistern und krepierten, wie die Betriebswirte es kalkuliert hatten, mit dreißig Jahren, wie der Markt es befahl…”
Hier sind die Grenzen des Romans, wie ihn die ersten Seiten entworfen haben, längst gesprengt, diesen Zorn faßt er nicht länger, diese Wut: auf die schöne Warenwunderwelt der Adenauerplätze und Einkaufspassagen, auf jenen vor speckiger Saturiertheit glänzenden Spießerhedonismus aus “schön wohnen, lecker essen, viel reisen”, der dumpf und ahnungslos eine Welt zum Teufel gehen läßt.
Hier wird nicht mehr erzählt, hier wir atemlos, mitreißend – gepredigt. Predigt – das klingt abwertend, und es muß daran erinnert werden, was Predigten einmal waren, wie im Mittelalter die Menschen zu Tausenden herbeiströmten, um einen Mann des Wortes zu hören, einen Meister Ekkehard, einen Franz von Assisi, einen Berthold von Regensburg, einen Thomas Münzer. Predigten – das war Literatur, eine große, vitale Literatur, die in das Leben der Gesellschaft eingriff, lange bevor ein Buchstabe gedruckt werden konnte.
Delius’ Buch, ich wage diese These, steht in dieser Tradition. Es ist eine solche Predigt, die sich der Mittel des Romans bedient. Dies ist die eigentliche Kühnheit des Buches, das macht diese Prosa glanzvoll und schwierig zugleich.
“Liest es sich” zuweilen auch ein wenig mühsam und wird der Leser, an das fast-food der Fernseh- und Illustriertensprache gewöhnt, bei der Lektüre häufig ermüden, so mächte ich dieses Buch oder Kapitel daraus, wie “LH 505” oder “Ein paar Tote”, einmal hören, im Radio vielleicht, nachts, vorgelesen von einem Sprachkünstler, der das Pathos, das Leid also, noch darzustellen weiß – ich bin sicher, jeder, der zuhörte, und hätte er in seinem Leben keine drei Bücher gelesen, bliebe zweihundertachtzig Seiten lang gespannt, gerührt, verärgert, zornig, atemlos den Monologen des Nachtwächters Felipe Gerlach lauschend wach bis zum Morgen.

(Benedikt Erenz, Die Zeit, 30.11.1984)

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