Friedrich Christian Delius, FCD

Nachruf von Tilman Krause

Chronist der Bundesrepublik

Skeptisch, kritisch, aber ohne den deutschen Hang zum Dogmatismus: Mit dem Büchnerpreisträger Friedrich Christian Delius ist nicht nur einer unserer klügsten, sondern auch unserer liebenswürdigsten Schriftsteller dahingegangen. Ein Nachruf.


Ja, hat er nicht so eben noch in der ihm eigenen unaufgeregten, leicht spöttischen Deutlichkeit seinen Austritt aus dem PEN-Club erklärt, einem Verein, der nicht nur ihm zur „Bratwurstbude“ verkommen zu sein schien? Viel Wirbel hat sein Statement in der „Frankfurter Allgemeinen“ gemacht, sprach hier doch einer der wenigen noch in die gegenwärtigen Diskurse eingebundenen elder statesmen der bundesrepublikanischen Nachkriegsliteratur. Nur einige Tage später ist er nun doch seiner schweren Herzkrankheit erlegen: Friedrich Christian Delius. Er starb mit 79 Jahren in einem Krankenhaus jener Stadt, die ihm seit sechs Jahrzehnten Lebensmittelpunkt gewesen ist: Berlin.

Was für ein Leben, was für eine literarische Karriere! Es werden sich aus der Rückschau der kommenden Jahre und Jahrzehnte auf die geistigen Strömungen von den Sechzigerjahren bis heute wenige Figuren auf dem Feld der Literatur finden, an denen so wie am umfangreichen, vielgestaltigen Werk des Friedrich Christian Delius ablesbar ist, was hierzulande einmal gedacht und diskutiert worden ist.

Denn ja: das Diskursive, das Kritische, das Abwägen, Vergleichen, Gegeneinanderhalten, das war sein Element. Delius, dem wir so erfolgreiche, ja populäre Erzählungen und Romane wie „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“, „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“ oder auch „Bildnis der Mutter als junge Frau“ verdanken, er hat nie im Sinne von Schillers „naiver Dichtung“ einfach nur erzählerisch aus dem Vollen geschöpft, obwohl gerade die genannten Bücher sich auch emotional und nicht nur intellektuell genießen lassen. Dazu war er dann doch zu sehr poeta doctus – als Student der Germanistik an der Freien Universität Berlin sozialisiert und vom legendären Walter Höllerer promoviert. Der Titel seiner Dissertation wurde sprichwörtlich; er lautet lapidar „Der Held und sein Wetter“.

Aber die Intellektualität des Friedrich Christian Delius hatte nie etwas Einschüchterndes oder gar Doktrinäres, wie es so viele jener „engagierten“ Schriftsteller herausbildeten, die nach der großen Wende um 1960 hin zu einer „jungen deutschen Literatur der Moderne“ (Walter Jens) von sich reden machten. Natürlich hat sich auch Delius als politischer Autor verstanden. Das konnte gar nicht anders sein, wenn man seine ersten Schritte in die literarische Öffentlichkeit 1964 im Rahmen einer der letzten Tagungen der Gruppe 47 unternahm. Wenn man sodann als Lektor zu Klaus Wagenbach, anschließend zum Rotbuch Verlag stieß. Auch das Genre, in dem Delius debütierte, die sogenannte Dokumentarliteratur („Wir Unternehmer“, „Unsere Siemens-Welt“) zeigte zunächst einmal deutlich, wie sehr der junge Mann aus gediegenem Pfarrhaus den Geist der Zeit inhaliert hatte.

Es war der kritische Geist vor dem Aufkommen der sogenannten 68er, dieser geborenen Epigonen, die sich bis heute nur zu gern mit den Federn ihrer Vorgänger schmücken. Delius hat sich immer von den Unseligen distanziert und gern augenzwinkernd von sich behauptet, er sei nie ein 68er geworden, weil er eben schon ein 66er war – will sagen: mehr dem Spirit der Swinging Sixties verpflichtet, oder auch, um mit Willy Brandt zu sprechen, einer politischen Ikone des Bürgertums jener Jahre: links und frei. Und frei meint hier vor allem: frei von allem Doktrinären.

Es war ihm nicht in die Wiege gelegt worden, dieses Freisein, und dem Vernehmen nach hat es auch nur in Maßen zum high sein geführt. Davor hatten die Penaten die protestantische Erziehung gesetzt, eine gewisse Ausdrucksgehemmtheit auch, die für den jungen Mann nur schwer abzulegen war (die „Weltmeister“-Geschichte erzählt sehr anschaulich von diesem frühen Leid). Sie war auch in späteren Jahren noch fühlbar, wenn man den kontrollierten Delius zum Beispiel mit dem kapriziösen Enzensberger oder dem rotweinseligen Bramarbas Walser verglich.

Trotzdem hat sich Delius mit Erfolg im Laufe der Jahre und Jahrzehnte so locker gemacht, dass er zu einer festen und sehr präsenten Größe vor allem des West-Berliner literarischen Lebens wurde, bekannt von seinen vielen Auftritten auf Podien und Panels, als Redner und Diskutant im Literarischen Colloquium am Wannsee genauso wie später im Literaturhaus in der Fasanenstraße oder bei den Veranstaltungen der Berliner Akademie der Künste. Deren Mitglied war er selbstredend genauso wie das der Deutschen Akademie für Dichtung in Darmstadt oder eben, bis noch vor Kurzem, das des deutschen PEN. Wer ihn, wie der Verfasser dieser Zeilen, dabei seit den frühen Neunzigerjahren oft erlebt hat, erinnert sich dankbar vieler hintersinniger Einlassungen, mit denen Delius dem Theoriegedöns der „Nebler und Schwebler“, wie E.T.A. Hoffmann sie genannt hätte, wunderbar in die Parade fuhr.

Dabei erlag Friedrich Christian Delius nie der Gefahr, die gerade in Berlin an jeder Ecke lauerte: zur Betriebsnudel zu werden. Zu viel protestantische Ethik, zu viel Handwerkerfleiß und künstlerischer Ausdruckswille lebten wohl in ihm, und die oberste Priorität besaß immer sein Werk. Es wandelte sich auch stark mit den Jahren. Angefixt von den Verwerfungen der Siebzigerjahre, eroberte sich Delius, dezent, aber sehr überzeugend, die Errungenschaften des psychologischen Romans, wenn er in seinen Erzählwerken auf den „Deutschen Herbst“ und seine Folgen reagierte; die Ereignisse des Jahres 1977 hat er dabei als erster deutscher Schriftsteller gewissermaßen historisiert.

Das Historische begann ihn nun überhaupt zu interessieren. Die Achtzigerjahre, die so überraschend mit der Wiedervereinigung endeten, hatten ja die Wiedereroberung der Geschichte mächtig vorangetrieben, auch wenn dabei die Königsthemen von einst und ihre Narrative – Stichwort „Preußen ohne Legende“ (Sebastian Haffner) – oft über Bord geworfen wurden, so auch von Delius in seinen historischen Miniaturen wie „Die Birnen von Ribbeck“ oder auch „Der Königsmacher“, wobei er in letzterem die neue Lust an der Repräsentation der „Berliner Republik“ geradezu in einem Antigeschichtsroman elegant auf die Schippe nahm.

Überhaupt wurden Eleganz sowie ein im Grunde ganz unprotestantisches Formbewusstsein nun immer mehr zum Charakteristikum von Delius’ Prosa. Ob es mit einer sich häufenden Hinneigung zu weiblichen Protagonisten in seinen Büchern zu tun hat (besonders anrührend: „Die Liebesgeschichtenerzählerin“) oder auch mit einem wachsenden Unmut angesichts der um sich greifenden Proletarisierung Berlins, in dem das Bürgertum mehr und mehr aus dem öffentlichen Raum verschwindet: Ein gewisser Alterskonservatismus und die Betonung ziviler Standards lassen sich in seinen späten Texten nicht übersehen.

Auch die literarische Beschäftigung mit seiner Herkunftswelt und Familiengeschichte spricht für diesen turn. Dabei bekamen die Texte nie etwas Auftrumpfendes. Das Liebenswürdige, Konziliante blieb dominant. Diese Eigenschaften verbanden sich so leichthändig mit der großen Klugheit und Leseerfahrenheit dieses Mannes, dass noch sein letztes autobiografisches Buch „Die sieben Sprachen des Schweigens“ uns einen Polyhistor vorführt, wie ihn die deutsche Literatur in dieser Unaufdringlichkeit nur selten besessen hat.

Unvergessen auch seine, des Pfarrerssohns, Auseinandersetzung mit Luther in dessen Jubiläumsjahr 2017, Titel „Warum Luther die Reformation versemmelt hat“. Ja, warum? Weil er das Dogma der Erbsünde unangetastet ließ. Hier, in dieser kleinen, aber feinen Schrift bündelt sich besonders schön der aufmüpfige, im ursprünglichen Sinne protestantische Impetus mit der Freude am spöttisch-kritischen Kratzen. Jedoch nicht im Namen der Rechtgläubigkeit, sondern im Namen der Lebensfreude. Das und vieles andere wird bleiben von diesem Büchnerpreisträger, der als Chronist der Bundesrepublik seinen Stellenwert in den Annalen, als Mann der Bildungs- und Lebensfreude jedoch seinen Platz in unseren Herzen behalten wird.

Tilman Krause, Die Welt, 31.05.2022

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