Friedrich Christian Delius, FCD

Nachruf von Andreas Platthaus

Je persönlicher er wurde, desto größer das Staunen

Er begann als zorniger junger Mann. Seine Romane und Erzählungen, übersetzt in mehr als zwanzig Sprachen, spiegeln deutsche Geschichte und Mentalitätsgeschichte wider. Zum Tod des Schriftstellers Friedrich Christian Delius.

Genau zwei Wochen vor seinem Tod schrieb Friedrich Christian Delius seinen letzten Text, und die F.A.Z. druckte ihn (am 17. Mai). Darin sagte der Schriftsteller dem PEN nach fünfzig Jahren Mitgliedschaft Lebewohl, weil ihn die Umstände der jetzt schon berühmt-berüchtigten Tagung von Gotha empört hatten. In diesen Artikel steckte Delius noch einmal seinen ganzen Elan; niemand hätte nach der Lektüre vermutet, dass dieser zornentbrannte Mann wenig später sterben würde. Und es war auch insofern ein für Delius typischer Text, als er sich darin einmal mehr als zeitgeschichtlicher Chronist er­wies: mit einer Reminiszenz an die eigenen schriftstellerischen An­fänge in den frühen Siebzigerjahren, als er sofort herausgefordert hatte, was in der Bundesrepublik als unantastbar galt, in diesem Fall den Siemens-Konzern. F. C. Delius, wie er seinen preußisch klingenden Vornamen lange Zeit abkürzte, war niemand, der auf Empfindlichkeiten Rücksicht nahm – auch nicht auf die eigenen. Die einzige Ausnahme war seine Sprachsensibilität, die in Büchern Ausdruck fand, die zum stilistisch Schönsten gehören, was die deutsche Gegen­warts­literatur hervorgebracht hat.

Nehmen wir „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“, erschienen 1995 und natürlich die Schilderung eines Wegs in Nachfolge von Johann Gottfried Seumes „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“, der zwei Jahrhunderte zuvor literarisch Epoche gemacht hat. Die darin dokumentierte Italien-Liebe war Delius von Geburt an eingeschrieben; er kam 1943 in Rom zur Welt, als Sohn eines deutschen Pfarrers. Mehr als ein Jahr verbrachte die Familie nicht mehr dort, der Krieg trieb sie zurück nach Deutschland, doch die spätere italianità des Schreibens von Delius war ge­sichert, am schönsten im 2006 veröffentlichten „Bildnis der Mutter als junge Frau“, aber auch schon in der Eleganz der beiden durch ihre politischen Themen für die öffentliche Wahrnehmung maßstabsetzenden Romane „Adenauerplatz“ und „Mogadischu Fensterplatz“ aus den Achtzigerjahren. Mit ihnen sicherte sich Delius seinen dauerhaften Platz in der Publikumsgunst.

Im vergangenen Jahr kommentierte er in der „Frankfurter Anthologie“ der F.A.Z. ein Gedicht, das er als Achtzehnjähriger spontan auf den Berliner Mauerbau geschrieben hatte. Es endete so: „Gesinnung heißt die Parole / die sich zerknittert / in Papierkörben häuft // hol sie behutsam heraus / streiche sie glatt / und stell deine Frage noch einmal“.

Darin war schon das ganze Schreibethos dieses Autors festgehalten, seine Skepsis gegenüber Parolen und vor allem das Hinterfragen des allgemein für gültig Erachteten. Delius war zwar lange das, was man einen politischen Schriftsteller nennt, aber zugleich auch ein großer Traditionalist, der immer wieder das eigene Leben in Konfrontation mit den Zeitläuften brachte. Dabei ließ er sich Zeit, wie etwa für seine Erfolgserzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“. Erschienen vier Jahre nach dem deutschen Titelgewinn bei der Fußball-WM in Rom, führte ihre Handlung zurück ins Jahr 1954, zum „Wunder von Bern“, das der elfjährige Ich-Erzähler nicht als nationale, sondern als individuelle Selbstbewusstwerdung empfand.

Je persönlicher Delius’ Bücher wurden – und er kultivierte diese Tendenz mit zunehmendem Alter –, desto größer das Staunen über diese scheinbar aus der Zeit fallende Sprache, die ihre Vorbilder vermehrt in der Literatur der Aufklärung fand. Der Büchnerpreis von 2011 honorierte diese Sonderrolle von Delius ebenso wie die Entscheidung des ihm am Ende mehr als vierzig Jahre verbundenen Rowohlt Verlags, dem Autor eine späte Werkausgabe in Einzelbänden zu widmen.

Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.05.2022

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