Friedrich Christian Delius, FCD

Nachruf von Michael Krüger

Der Mosaikenkünstler

Er war weder ein Gottsucher noch ein Revolutionär – Friedrich Christian Delius war ein Kleinmeister im psychologischen Detail. Hier blickt sein erster Lektor auf eine besondere Schriftstellerbiografie zurück.

Man wusste oft nicht, was man bei ihm mehr bewundern sollte: sein fabelhaftes Gedächtnis oder seinen gut gepflegten Zettelkasten. Immer sind seine Bücher gespickt mit Beobachtungen und Kenntnissen, die er nicht durch Recherche oder das Lesen von Büchern erhalten haben konnte: Einfälle, Zufälle, die ihm das Leben vor Augen geführt hatte. Friedrich Christian Delius, »FC« genannt, war ein Kleinmeister im historischen oder psychologischen Detail, ein Mosaikenkünstler, der die Steinchen der Erinnerung und der Einbildungskraft sorgfältig zusammensetzte. Man konnte beim Erscheinen der einzelnen Bücher – auch deshalb, weil man sie nicht alle gelesen hatte – nicht ahnen, wo sie einst in dem großen Bild, an dem er beharrlich arbeitete, stehen würden.

Stimmung – und stimmige Form

Er war weder ein Gottsucher noch ein Revolutionär, er entwickelte keine Suada über die Banalität seiner Zeit noch wollte er sich als Prospektmaler der großen Utopie verdient machen. Gewiss war er ein »linker« Autor, aber es war unmöglich, sich ihn als Agitator vorzustellen. Er meldete sich, bevor er sprach, ließ andere ausreden, überlegte, bedachte, bevor er das Wort ergriff. Er bestand auf dem Detail, der richtigen Farbe, der Stimmung, der stimmigen Form. Manchmal schaute er einen im Gespräch so lange an, dass man dachte, er müsse sich erst entschließen, etwas zu sagen; aber das hatte mit seinem milden Stottern zu tun.

Als ich ihn um 1968 herum kennenlernte – die Befreiungsbewegungen schossen nur so ins Kraut – war er Lektor im Verlag von Klaus Wagenbach: ein magerer Kerl, groß, drahtig, ein hüpfender Kehlkopf im langen Hals, blonde kurze Haare (in einer Zeit, als die Haare immer länger wurden). Ich gab mit Klaus Wagenbach den »Tintenfisch« heraus, und wenn wir uns bei bestimmten Beiträgen nicht einigen konnten, hieß es: Was sagt denn Delius dazu? (Wagenbach hat es nie verwunden, dass FC bei der Spaltung des Verlags zu Rotbuch ging, »überlief«, wie er sich manchmal bitter beklagte.)

Vor den Richtmikrofonen der Stasi

Delius kannte die Autoren in West (mit Nicolas Born, Hans Christoph Buch, Peter Schneider, Jürgen Theobaldy und vielen anderen war er befreundet) und Ost (oft war ich mit ihm bei Günter und Marianne Kunert zu Gast). Er war ein unerschrockener Gesprächspartner, der gerne lachte, wenn Kunert seine Analysen zum Stand des realen Sozialismus zum Besten gab. Die Herren der Stasi, die mit Richtmikrofonen in ihren Wartburgs vor der Tür saßen, kannten dieses Lachen gut: nicht zu wüst, nicht hysterisch, nicht albern, sondern der Situation angemessen. Unvergessen die der Stasi als unerklärbare Provokation gedeutete Szene, in der mit einem Gartenschlauch als Schlange die Geschichte von Laokoon und seinen Söhnen nachgestellt wurde.

Ich wurde FCs erster Lektor, weil er bei seinen ersten Büchern, die bei Wagenbach erschienen waren, sein eigener Lektor war. Der wunderbare Walter Höllerer, sein akademischer Lehrer, hatte mir eines Tages die Doktorarbeit von Delius zugeschickt mit der Frage, ob wir sie in der Reihe »Literatur als Kunst« bei Hanser veröffentlichen sollen, jener großartigen Reihe, in der viele spätere Schriftsteller ihre Dissertationen veröffentlicht haben, von Hans Magnus und Christian Enzensberger bis zu H.C. Buch oder Joachim Kaiser, Reinhard Baumgart oder Herbert Heckmann.

In dieser Arbeit untersuchte FC, warum es in der Literatur in bestimmten Situation schneien muss und keinesfalls die Sonne scheinen darf, wann die Situation einen Blitz erfordert und wann einen anhaltenden Regen. Das Buch wurde ein großer Erfolg, fast alle der 2000 Exemplare der Erstausgabe wurden verkauft; eine zweite Auflage erschien 50 Jahre später die FCs 70. Geburtstag.

Da war er schon ein berühmter Schriftsteller, inzwischen mit einem beeindruckenden Hut. Als ich ihm zum Büchner-Preis gratuliert habe, sagte er, nicht alle hätten sich über diese Auszeichnung seines inzwischen auf 30 Bände – nein, nicht angeschwollenen, sondern angewachsenen Werks gefreut. Warum nicht? Der Neid hat viele Gründe, und der Hauptgrund lautet: Warum der und nicht ich?

FC Delius hatte allen eines voraus: Er war in Rom zur Welt gekommen, 1943, während des Krieges. Welche andere Schriftstellerbiografie kann mit einem solchen Datum beginnen? Deutsche Autoren haben, auch wenn sie später in Berlin lebten, bestenfalls in Nordrhein-Westfalen zum ersten Mal die Augen aufgemacht oder in einem Dorf in Thüringen, in Hannover oder in der Nähe von Stuttgart. Bei FC musste es Rom sein, weil sein Vater dort als Pfarrer an der protestantischen Kirche tätig war.

Was für ein seltsames Leben?

Eines seiner schönsten Bücher ist der Monolog seiner Mutter bei einem langen Spaziergang durch Rom. Sie ist mit FC schwanger, der Mann ist nach Afrika geschickt worden, der Krieg kommt in seine entscheidende Phase, der Sohn soll im Februar geboren werden: Was für ein seltsames Leben? Ein Kritiker hat es damals mit Wolfgang Koeppens »Jugend« verglichen, was mir gefallen hat.

Nun ist auch FC tot. Er war mit tausend Krankheiten geschlagen, das sah man seinem Gesicht an, auch wenn es nicht zur Sprache kam – doch: in dem Buch »Die sieben Sprachen des Schweigens« hat er auf beklemmende Weise beschrieben, wie er aus einem wochenlangen Koma zur Welt zurückgekommen ist. Keine Ahnung, wo er sich jetzt befindet. Aber in der Literaturgeschichte der Nachkriegszeit bleibt sein Platz noch lange warm.

Der Spiegel online, 01.06.2022

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